Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis


Die ersten Schritte


Wir haben bereits festgestellt, da§ es in der UdSSR auch vor 1985 †berlegungen Ÿber die Situation in der Welt und die Politik der Sowjetunion gab. Bedeutet das aber, da§ zum Zeitpunkt des Plenums des ZK vom MŠrz 1985, das

den Startschu§ fŸr die VerŠnderungen in der Politik der KPdSU und der Sowjetunion gab, bereits alles durchdacht und bereit war? NatŸrlich nicht.

Einige Ideen von grundsŠtzlicher Bedeutung waren herangereift, aber bei weitem nicht alle Generell ist festzustellen: Die Prinzipien des Neuen Denkens und die konkreten Schritte der daraus abgeleiteten Politik waren in stŠndiger Entwicklung begriffen. Ihre Erarbeitung war ein Proze§ des Nachdenkens, der Diskussionen und der praktischen Aktionen.

Dieser Proze§ kam in all den Jahren der Perestroika nicht zum Erliegen. Entstehung und Entwicklung des Neuen

Denkens waren und sind eine permanente Suche nach Antworten auf die Probleme, mit denen sich die moderne Welt konfrontiert sieht, ein Denkvorgang in stŠndiger Bewegung.

Vor allem soll hier betont werden, da§ das Neue Denken in stŠndigem Zusammenwirken von theoretischer Forschung und praktischen Aktionen realisiert und vervollkommnet wurde. Man kann ohne jeden Zweifel sagen, da§ dieses Zusammenwirken es ermšglichte, das eine wie das andere stŠndig zu prŠzisieren und weiterzuentwickeln. Fortschritte in der Theorie bereicherten die Politik, und bei der Realisierung politischer Schritte entstanden neue Ideen.

Wir wollen in der weiteren Darlegung nicht nach dem historischen Prinzip vorgehen (obgleich Geschichte und Evolution der Ideen des Neuen Denkens in den Jahren 1985 bis 1991 sowie deren Anwendung in der Praxis durchaus von Interesse sind). An dieser Stelle soll besonders auf die kurze Zeit von MŠrz bis Dezember 1985 eingegangen werden, die von der Forschung in der Regel wenig beachtet sind. Sie ist aber hochinteressant, denn damals wurde intensiv nach den Ausgangspunkten fŸr jene Schlu§folgerungen gesucht, die in den Jahren 1986/87 gezogen, spŠter weiterentwickelt wurden und den eigentlichen Kern des Neuen Denkens darstellen.

Eine wichtige Besonderheit dieser Zeit: Was damals šffentlich erklŠrt wurde, trug in vieler Hinsicht noch den Stempel frŸherer Auffassungen. Das betraf vor allem die verwendeten Formulierungen und Termini. Aber deren Inhalt

verŠnderte sich rasch. In internen GesprŠchen und Diskussionen sowie bei Begegnungen mit auslŠndischen

StaatsmŠnnern wurde bereits ein anderes Vorgehen eršrtert, wurden Grundlagen fŸr neue Positionen gelegt.

In der ersten Zeit sprach der GeneralsekretŠr des ZK der KPdSU davon, da§ der au§enpolitische Kurs des Landes stabil bleibe, da§ "keine Notwendigkeit" bestehe, "ihn zu Šndern". Das war durchaus gerechtfertigt, denn Erneuerung mu§te mit KontinuitŠt einhergehen. Diese KontinuitŠt definierte der neue GeneralsekretŠr jedoch auf dem Plenum des ZK im April 1985 als "stŠndige VorwŠrtsbewegung, in deren Verlauf neue Probleme erkannt und gelšst werden sowie alles aus dem Wege gerŠumt wird, was die Entwicklung behindert". In diesem Sinne ging die neue Partei- und

StaatsfŸhrung vom ersten Tage an die Umsetzung ihres au§enpolitischen Kurses.

Bereits das Plenum des ZK vom 11. MŠrz 1985 (wo Gorbatschow zum GeneralsekretŠr gewŠhlt worden war) hatte in dem Dokument "Ein Kurs des Friedens und des Fortschritts" die Hauptrichtungen der sowjetischen Au§enpolitik bestŠtigt: "Noch nie schwebte Ÿber der Menschheit eine so schreckliche Gefahr wie in unseren Tagen. Der einzige vernŸnftige Ausweg aus dieser Lage ist eine Vereinbarung der einander gegenŸberstehenden KrŠfte darŸber, das WettrŸsten auf der Erde - vor allem das atomare - unverzŸglich einzustellen und im Weltraum gar nicht erst

zuzulassen, eine Vereinbarung auf ehrlicher und gleichberechtigter Grundlage, ohne den Versuch, der anderen Seite die Bedingungen zu diktieren." FŸr den nŠchsten Tag, den 12. MŠrz, waren seit lŠngerem Verhandlungen zwischen der UdSSR und den USA Ÿber die Atom- und Weltraumwaffen anberaumt. Man wollte demonstrieren, da§ Moskau auf neue, konstruktive Weise in diese Verhandlungen ging und gegenseitig annehmbare Lšsungen anstrebte.

Verhandlungen mit den USA zu verschiedenen Aspekten der AbrŸstung hatten auch schon frŸher stattgefunden. Man hatte sie jahrelang ohne jedes Ergebnis gefŸhrt. Die Verhandlungen Ÿber die Mittelstreckenraketen in Europa wurden gar auf Initiative der sowjetischen Seite unterbrochen. Damals galten fŸr sie noch in vollem Ma§e die GrundsŠtze der VerhandlungsfŸhrung, die Wjatscheslaw Molotow in einem GesprŠch mit Journalisten Ende 1954, an dem auch einer der Verfasser teilnahm, so formuliert hatte: "Verhandlungen mŸssen natŸrlich gefŸhrt werden, aber Ergebnisse sind von ihnen nicht zu erwarten. Schlie§lich sind es Verhandlungen mit Imperialisten." Diese negative Einstellung mu§te Ÿberwunden werden.

Auf dem MŠrz-Plenum erklŠrte der GeneralsekretŠr: "Wir streben nicht nach einseitigen Vorteilen gegenŸber den

Vereinigten Staaten und der NATO, nicht nach militŠrischer †berlegenheit. Wir wollen die Einstellung und nicht die Fortsetzung des WettrŸstens. Deshalb schlagen wir vor, die Atomwaffenarsenale auf dem gegenwŠrtigen Stand einzufrieren und keine weiteren Raketen zu stationieren." Am 13. MŠrz empfing der neugewŠhlte ReprŠsentant von Partei und Staat, Michail Gorbatschow, die Leiter der

auslŠndischen Delegationen die zur Beisetzung Konstantin Tschernenkos nach Moskau gekommen waren. Die Protokolle dieser GesprŠche wurden niemals veršffentlicht. Dabei sind sie von gro§em Interesse, denn dort wurden den fŸhrenden Vertretern der westlichen LŠnder die GrundsŠtze der internationalen Politik der neuen sowjetischen FŸhrung zum ersten Mal erlŠutert. Hier deuteten sich die grundlegenden Ideen des Neuen Denkens bereits an. Im GesprŠch mit dem franzšsischen PrŠsidenten François Mitterand sagte Michail Gorbatschow: "Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem sich die Frage stellt: Wie weiter? Ist es nicht an der Zeit, innezuhalten und Ÿber Lšsungen nachzudenken, die den Interessen der Všlker entsprechen und verhindern, da§ die Welt einem atomaren Inferno mit unabsehbaren Folgen entgegengeht?" Dieser Gedanke, da§ eine grundsŠtzliche Wende in der Weltpolitik vollzogen werden mŸsse, kehrte in den GesprŠchen mit den fŸhrenden Persšnlichkeiten anderer Staaten wieder, darunter der USA, Gro§britanniens, der Bundesrepublik Deutschland, Japans, Indiens und Chinas. Von besonderem Interesse ist dabei sicherlich das GesprŠch mit dem amerikanischen PrŠsidenten George Bush und Au§enminister George Shultz. AusfŸhrlich legte GeneralsekretŠr Gorbatschow seinen GesprŠchspartnern die neue Sicht auf die Aufgaben der sowjetischen Au§enpolitik dar: "Die Sowjetunion wird, ausgehend von ihrer Rolle und Verantwortung als Gro§macht, eine aktive und konstruktive Politik betreiben. Generell sehen wir unsere Aufgabe

darin, in unseren Beziehungen mit allen Staaten dazu beizutragen, da§ die internationale Lage sich verbessert und da§ Voraussetzungen fŸr den Ausbau der internationalen Beziehungen, des Austauschs von kulturellen Werten sowie von Ergebnissen der Wissenschaft und Technik geschaffen werden." Dann kam er auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu sprechen. "Wir messen den Beziehungen zu den USA gro§e Bedeutung bei", sagte der GeneralsekretŠr. "Wir haben nicht die Absicht, gegenŸber den USA militŠrische †berlegenheit zu erreichen oder gegen legitime Interessen der USA vorzugehen. Aus unserer Sicht bestehen gro§e Mšglichkeiten fŸr eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen uns." Das war eine AbsichtserklŠrung der sowjetischen Seite. Dann wurden Probleme angesprochen, die die Politik der USA direkt betrafen: "Man mu§ lernen, die internationalen Beziehungen in der realen Welt zu gestalten. Wie die

RealitŠten dieser Welt begriffen werden, hŠngt davon ab, wie die Politik formuliert und praktisch realisiert wird... Jedes Land hat seine konstanten Interessen. In seiner Politik sollte man die Interessen aller Staaten beachten. Man darf nicht davon ausgehen, da§ der StŠrkere immer recht hat ... Wir kšnnen die Au§enpolitik der USA nicht verstehen. Sie ist mit dem Begriff normaler internationaler Beziehungen nicht zu fassen." Etwas spŠter, am 10. April 1985, empfing der GeneralsekretŠr des ZK der KPdSU den PrŠsidenten des ReprŠsentantenhauses des amerikanischen Kongresses, Thomas O'Neil. Das GesprŠch verlief Šhnlich wurde aber noch offener gefŸhrt. Michail Gorbatschow wollte den amerikanischen Parlamentariern seine Gedanken Ÿber den Ernst und die Tragweite der aktuellen Situation nahebringen, die neue Mšglichkeiten eršffnete. Er sprach von den

Bedingungen, die es zu beachten galt, wenn man die vorhandene Chance nutzen wollte. "In den Beziehungen zwischen unseren Staaten", sagte er, "herrscht gegenwŠrtig eine Eiszeit. Wir treten dafŸr ein, die sowjetisch- amerikanischen Beziehungen wieder in normale Bahnen zu lenken. Wir gehen davon aus, da§ die Interessen unserer Staaten nicht unweigerlich miteinander kollidieren mŸssen. Mehr noch, wir haben ein gemeinsames Interesse daran, einen Atomkrieg zu verhindern, die Sicherheit der UdSSR und der USA zu gewŠhrleisten, unseren Všlkern das Leben zu erhalten ... Wir haben uns nicht die Aufgabe gestellt, die Vereinigten Staaten nach unserem Bilde umzugestalten,

ob sie uns nun gefallen oder nicht. Aber auch die USA sollten sich nicht einem Ziel verschreiben, das eines Don Quichotte wŸrdig wŠre, nŠmlich die Sowjetunion nach ihrem Geschmack verŠndern zu wollen. Anderenfalls kšnnte es zum Kriege kommen ... Die Welt hat viele Probleme - politische, wirtschaftlich und soziale -, aber es gibt nur einen Ausweg. Dieser Ausweg ist die friedliche Koexistenz, die Anerkennung des Rechts jedes Volkes, so zu leben, wie es selbst dies wŸnscht. Eine Alternative dazu gibt es nicht ... Wir sollten eine BrŸcke der Zusammenarbeit errichten. Eine BrŸcke mu§ aber bekanntlich von zwei Seiten gebaut werden." In diesen beiden GesprŠchen mit George Bush und Thomas O'Neil waren also neben Gedanken, die auch frŸher bereits formuliert worden waren, neue Ideen enthalten, die es bisher in der sowjetischen Politik nicht gegeben hatte und die auch traditionelle Formulierungen mit neuem Inhalt erfŸllten. Das betrifft den Grundsatz des Interessenausgleichs (die Absage an eine Diplomatie als Nullsummenspiel, die Notwendigkeit, nach gegenseitig annehmbaren Kompromissen zu suchen), die Anerkennung des Rechts jedes Volkes auf freie Wahl seines eigenen Entwicklungsweges, die

Anerkennung jeder gesellschaftlichen Ordnung, fŸr die sich die Všlker selbst entscheiden, als legitim.

Diese grundsŠtzlichen †berlegungen wurden auch in den GesprŠchen mit Margaret Thatcher, Helmut Kohl und anderen Politikern dargelegt. NatŸrlich ging es dabei auch um konkrete Fragen der bilateralen Beziehungen und um europŠische Probleme. Der nŠchste wichtige Schritte zu konzeptionellen Erarbeitung der neuen au§enpolitischen Positionen folgte auf dem

Plenum des ZK der KPdSU im April 1985, wo zum ersten Mal die bevorstehenden VerŠnderungen in der Innenpolitik umrissen wurden. "Wir treten fŸr ausgeglichene, korrekte, wenn man so will, zivilisierte zwischenstaatliche

Beziehungen ein, die auf wirklicher Achtung der Normen des Všlkerrechts basieren", hie§ es im Referat des

GeneralsekretŠrs. "Aber eines mu§ vollkommen klar sein: Nur wenn der Imperialismus seine Versuche aufgibt, den historischen Streit der beiden Gesellschaftssysteme mit militŠrischen Mitteln zu lšsen, wird es gelingen, die

internationalen Beziehungen in Bahnen einer normalen Zusammenarbeit zu lenken." Damit war der allgemeine Rahmen gesetzt, waren gleichsam die Grenzen der Mšglichkeiten bestimmt, wie man sie zu jener Zeit sah. Im weiteren traten zwei Thesen besonders hervor. Die erste: "Streitfragen, Konfliktsituationen mŸssen mit politischen Mitteln geklŠrt werden - das ist unsere feste †berzeugung." Und die zweite: "Die KPdSU und der Sowjetstaat unterstŸtzen unverŠndert das Recht aller Všlker, ihre sozialškonomische Gegenwart nach eigener Wahl zu bestimmen und ihre Zukunft ohne Einmischung von au§en zu gestalten. Alle Versuche, den Všlkern dieses souverŠne Recht zu verwehren, sind aussichtslos und zum Scheitern verurteilt." Dieser Grundsatz einer erneuerten sowjetischen Au§enpolitik war universell zu verstehen. Er bezog sich auf alle Staaten, auch auf diejenigen, die dem sozialistischen System angehšrten. Dieser Umstand wurde im Jahre 1985 zweimal besonders betont - auf dem Treffen mir den fŸhrenden ReprŠsentanten der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes am 13. MŠrz 1985 in Moskau und bei ihrer Begegnung in Warschau am 26. April desselben Jahres. Dort wurde sinngemŠ§ folgendes erklŠrt: Die Beziehungen zwischen den verbŸndeten Staaten mŸssen erneuert werden. Sie mŸssen sich auf der Grundlage von UnabhŠngigkeit, Gleichberechtigung und gegenseitiger Nichteinmischen in die inneren Angelegenheiten entwickeln. Jeder trŠgt selbst Verantwortung fŸr seine Entscheidungen. Mit anderen Worten, dem, was man bisher die "Breschnew-Doktrin" nannte, wurde damit ein Ende gesetzt. Das Kapitel im Buch der Geschichte, das eine Politik der Einmischung der UdSSR in die inneren Angelegenheiten ihrer VerbŸndeten verzeichnete, war abgeschlossen. Mšglicherweise begriffen damals noch nicht alle Anwesenden die ganze Tragweite dieser Worte. Schlie§lich war Šhnliches auch schon in der Vergangenheit erklŠrt worden, was die Sowjetunion allerdings nicht davon abgehalten hatte, beispielsweise im Falle der Tschechoslowakei, ihre Truppen einmarschieren zu lassen. Bald aber konnten sich alle davon Ÿberzeugen, da§ es sich um eine ernst gemeinte, feste Position handelte. Auf der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag des Sieges Ÿber den Faschismus am 8. Mai 1985 folgte eine These, die einen wichtigen Schritt darstellte, den Rahmen der neuen au§enpolitischen Konzeption noch weiter zu stecken. Dort hie§ es: "Der einzig vernŸnftige Ausweg liegt heute darin, eine aktive Zusammenarbeit aller Staaten im Interesse unserer gemeinsamen friedlichen Zukunft zu entwickeln und solche internationalen Mechanismen und Institutionen aufzubauen, zu nutzen und weiterzuentwickeln, die es ermšglichen, die nationalen und staatlichen Interessen auf optimale Weise mit den der gesamten Menschheit zu verbinden." Diese These war ein Beweis dafŸr, da§ man in der au§enpolitischen Konzeption der UdSSR im Unterschied zur Vergangenheit nun von eng verstandenen Klassenkampfpositionen abging und die neuen RealitŠten in der Welt zu berŸcksichtigen begann. Dieses Thema wurde beim Besuch des GeneralsekretŠrs des ZK der KPdSU in Frankreich weiterentwickelt. Er sprach es beim Treffen mit PrŠsident Mitterand und auch bei der Begegnung mit Parlamentariern an. Bei dieser Gelegenheit erklŠrte Michail Gorbatschow unter anderem: "Der Zusammenhang und die Interdependenz zwischen den Staaten und Kontinenten wird immer enger. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung fŸr die Entwicklung der Weltwirtschaft, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, fŸr die Beschleunigung des Informationsaustauschs, der Bewegung der Menschen und Dingen auf der Erde und sogar im Weltraum - mit einem Wort, fŸr die gesamte Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Leider erwŠchst aus den Errungenschaften dieser Zivilisation nicht immer Gutes fŸr die Menschen. Die Ergebnisse von Wissenschaft und Technik werden zu oft und zu eifrig dafŸr genutzt, Mittel zur Vernichtung der Menschen zu schaffen und immer schrecklichere Arten von Waffen zu entwickeln und anzuhŠufen. Hamlets Frage - Sein oder Nichtsein - stellt sich heute nicht mehr dem Individuum, sondern dem ganzen

Menschengeschlecht. Sie wird zu einem globalen Problem. Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: Die Menschheit, die Zivilisation mu§ Ÿberleben. Das kšnnen wir nur erreichen, wenn wir lernen zusammenzuleben, uns auf diesem kleinen Planeten miteinander einzurichten, wenn wir die schwierige Kunst meistern, die Interessen des jeweils anderen zu berŸcksichtigen." Gorbatschow fŸgte ein These an, die das Thema noch weiterentwickelte: "Ich glaube, in der gegenwŠrtigen Lage ist es besonders wichtig, da§ wir unsere ideologischen Differenzen nicht wie mittelalterliche Fanatiker auf die

zwischenstaatlichen Beziehungen Ÿbertragen." Alle diese Ideen, die auf eine Erneuerung der internationalen Beziehungen zielten, bildeten die Grundlage fŸr das Treffen des GeneralsekretŠrs mit US-PrŠsident Ronald Reagan im November 1985 in Genf. Die Ergebnisse

zusammenfassend, die er vor allem im wachsenden EinverstŠndnis darŸber sah, da§ ein Atomkrieg und das Streben nach militŠrischer †berlegenheit nicht zugelassen werden dŸrfen, erklŠrte Gorbatschow: "Ja, ich bin davon Ÿberzeugt, da§ in der gegenwŠrtigen Etappe der internationalen Beziehungen, da die Verbindungen zwischen den Staaten und ihre wechselseitige AbhŠngigkeit immer enger werden, eine neue Politik erforderlich ist. Wir meinen, das neue Vorgehen erfordert, da§ die aktuelle Politik aller Staaten von den heutigen RealitŠten in der Welt ausgeht. Das

ist die wichtigste Voraussetzung dafŸr, da§ eine konstruktive Au§enpolitik betrieben wird. Das wird zu einer Verbesserung der Lage in der ganzen Welt fŸhren." Innerhalb von kaum neun Monaten des Jahres 1985 zeichneten sich so die Konturen einer neuen Weltsicht Moskaus und einer neuen au§enpolitischen Konzeption der Sowjetunion ab. Die GrundzŸge und Besonderheiten dieser Konzeption sind Thema des nŠchsten Kapitels. An dieser Stelle ist es uns wichtig, folgendes noch hervorzuheben: Wie bereits erwŠhnt, folgten der Erarbeitung der theoretischen Positionen sofort entsprechende praktische Schritte. Das war ganz natŸrlich, denn da zwischen Ost und West faktisch keinerlei Vertrauen mehr bestanden hatte, konnten nur reale, konkrete Schritte ein solches Vertrauen wieder wachsen lassen. Ohne Vertrauen aber war eine VerŠnderung des Klimas in der Welt ganz und gar unmšglich. Nachdem Moskau ein neues Vorgehen bei den Verhandlungen Ÿber die Atom- und Weltraumwaffen angekŸndigt hatte, folgte unverzŸglich ein Schritt in diese Richtung. So hie§ es am 8. April 1985 in einem "Prawda"-Interview: "Mit dem heutigen Tage verkŸndet die Sowjetunion ein Moratorium bei der Stationierung ihrer Mittelstreckenraketen und

stellt auch andere Gegenma§nahmen (gegen militŠrische Schritte der USA) in Europa ein. Das Moratorium gilt bis zum November 1985. Danach wird - je nachdem, ob die USA diesem Beispiel folgen - neu entschieden werden." Anfang Oktober 1985 wurde in Paris die Reduzierung einiger sowjetischer Atomwaffentypen mittlerer Reichweite in Europa bekanntgegeben. Zugleich kam aus Moskau die Anregung, ein "Gemeinsames Haus Europa" zu errichten, d.h. eine allseitige Zusammenarbeit und wahrhaft friedliche, gut nachbarschaftliche Beziehungen zwischen allen

Staaten des europŠischen Kontinents zu entwickeln. Um die USA zur Einstellung des atomaren WettrŸstens zu bewegen, erklŠrte Moskau am 30. Juli 1985 ein Moratorium fŸr Atomtests, das am 6. August 1985 in Kraft trat (und spŠter mehrfach verlŠngert wurde). Die US-Regierung wurde aufgefordert, diesem Beispiel zu folgen. Zugleich erhielt US-PrŠsident Reagan eine Botschaft, die den Vorschlag enthielt, die strategischen Atomwaffen wesentlich zu reduzieren - natŸrlich im Zusammenhang mit dem Verzicht auf ein atomares WettrŸsten im

Weltraum. Am 17. September 1985 veršffentlichte die Sowjetunion ihre bei der UNO eingereichten VorschlŠge Ÿber die Hauptrichtungen und GrundsŠtze einer internationalen Zusammenarbeit bei der friedlichen Erschlie§ung des Weltraums unter der Voraussetzung der Entmilitarisierung. Diese AufzŠhlung der sowjetischen Initiativen des Jahres 1985 ist nicht vollstŠndig. Aber sie zeigt deutlich, da§ die VorschlŠge durchaus konkreter Natur waren und ihre Realisierung leicht kontrolliert werden konnte. Es waren reale Schritte zur Einstellung des WettrŸstens bei den Atomwaffen und darŸber hinaus zur Reduzierung dieser

Waffen innerhalb und au§erhalb Europas. Hier sei hervorgehoben, da§ es sich bei den Ma§nahmen der sowjetischen FŸhrung zum einen um einseitige Schritte, zum anderen aber auch um VorschlŠge handelte, die beide Seiten gleicherma§en betrafen. Es ging also darum, die Idee von einer Erneuerung der internationalen Beziehungen auf der Grundlage gleicher Sicherheit fŸr alle Seiten mit materiellem Inhalt zu fŸllen. Das Thema war in der Tat die gleiche Sicherheit. So brachte zum Beispiel die Einstellung von Gegenma§nahmen gegen die Aktionen der USA in Europa mehr Sicherheit fŸr die Staaten des Kontinents, beeintrŠchtigte zugleich aber in keiner Weise die Interessen der UdSSR, die zu diesem Zeitpunkt bei den Mittelstreckenraketen in Europa Ÿberlegen war. Alle diese Ma§nahmen wurden nicht nur mit der politischen, sondern auch mit der militŠrischen FŸhrung unseres Landes sorgfŠltig abgestimmt.

Fanden die neuen sowjetischen Ideen und die daraus abgeleiteten praktischen Schritte im Westen eine entsprechende WŸrdigung? Ja und nein. Westliche Beobachter jener Zeit sahen durchaus das Neue an den sowjetischen VorschlŠgen, betrachteten diese jedoch hŠufig als Propagandamanšver. Es war noch nicht genŸgend Zeit vergangen, um die Klischeevorstellungen der Vergangenheit und das gegenseitige Mi§trauen zu Ÿberwinden.

Die Schritte der UdSSR wurden insgesamt doch positiv aufgenommen. Sie zogen allerdings bei weitem nicht sofort analoge Ma§nahmen der Gegenseite nach sich. Zwar bremsten die USA Ende 1985 die weitere Stationierung ihrer Mittelstreckenraketen in Europa, aber die Einstellung der Atomwaffenversuche, die in der Weltšffentlichkeit und den meisten Staaten ein sehr positives Echo gefunden hatte, blieb von seiten der USA unbeantwortet. Im Gegenteil, sie brachten weiter atomare Sprengladungen zur Detonation. Es war eindeutig zu erkennen, da§ eine schwere Aufgabe, mšglicherweise auf lange Sicht, bevorstand. Auf dem Plenum des ZK der KPdSU am 15. Oktober 1985 verwies Gorbatschow angesichts dieser Entwicklung auf wachsenden "Widerstand gegen die positiven VerŠnderungen in der Welt seitens aggressiver KrŠfte des Imperialismus", auf ihr Streben nach "sozialer Revanche" und nach einem Aufrechterhalten der internationalen Spannungen zu diesem Zweck. Konstruktive Gedanken, zugleich aber auch ernste, substantielle, zuweilen scharfe Kritik an den au§enpolitischen Positionen der Verhandlungspartner, insbesondere der USA, wurden bei sŠmtlichen Begegnungen und in allen GesprŠchen Gorbatschows mit Vertretern westlicher Staaten geŠu§ert. Bei jeder Gelegenheit betonte er:Schritte zu neuen internationalen Beziehungen mŸ§ten von beiden Seiten unternommen werden, sonst wird nicht dabei herauskommen.

Der XXVII. Parteitag der KPdSU, der im Februar/MŠrz 1986 stattfand, zog eine Bilanz dieser AktivitŠten. Dort wurden - zum ersten Mal in verallgemeinerter Form - grundsŠtzliche Schlu§folgerungen gezogen, die die tragende Konstruktion des Neuen Denkens darstellen sollten. Nichts kann jedoch die Bedeutung der ersten Schritte in Theorie und Praxis vermindern, die im Jahre 1985 gegangen wurden. Sie waren gleichsam der Prolog zur aktiven und offensiven EinfŸhrung neuer Prinzipien und Methoden in die internationalen Beziehungen.


Version: 14.1.2017
Adresse dieser Seite
Home
Joachim Gruber