Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis

Die Herausforderung der Vielfalt

Die Globalisierung ist, wenn wir sie perspektivisch sehen, nichts andere, als der Entstehungsproze§ der Grundlagen einer neuen weltweiten Zivilisation als Ergebnis dessen (zumindest wenn wir nach den bisher vorliegenden Erfahrungen urteilen), da§ die fortgeschrittensten Errungenschaften von Wissenschaft, Technik und Technologie sowie mehr oder weniger gemeinsame Prinzipien des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens auf der ganzen Erde Verbreitung finden und die reale Interdependenz aller Staaten sich immer weiter vertieft.

Leider wird dieser Proze§ jedoch hŠufig als eine Art weltweite Vereinheitlichung des Lebens in allen seinen  Erscheinungsformen betrachtet. Der Alltag der Menschen wird angeblich Ÿberall gleich sein. Ein AuslŠnder, der in ein  afrikanisches oder lateinamerikanisches Land kommt, wird dort, vereinfacht gesagt, dieselben Hotdogs zu essen bekommen, dieselben James-Bond-Filme, dieselben Seifenopern sehen und dieselben Schlager hšren kšnnen, die er von zu Hause kennt.

So wird und kann es nicht kommen. Es wird nicht geschehen, da§ sich alle LŠnder und Všlker in demselben Topf wiederfinden. Das Spezifische der LŠnder und Všlker ist nicht auszutilgen. Es wird auch keine einfšrmige, primitive MentalitŠt entstehen, die die historisch entstandene Psyche, die Denkweise, die innerste Seele der Všlker und Nationen ersetzt.

Hier drŠngen sich Worte von Michail Gefter, einem der grš§ten russischen Historiker und Denker, auf: "Ich bin Ÿberzeugt, da§ die Welt, die das 20. Jahrhundert in das 21. weiterreicht, nicht die Welt einer einfšrmigen Menschheit sein wird, der die vergangenen Jahrhunderte auf ihre Weise zustrebten, sondern eine Welt der Welten, die  nebeneinander bestehen, zusammenarbeiten und allesamt daran interessiert sind, ihre lebensspendenden Unterschiede zu erhalten. Diese Unterschiede werden zum Sinn, zum Arbeitsgegenstand, wen man so will, zum entscheidenden Faktor fŸr das †berleben des Menschengeschlechts ... Das ist neu. Das ist nicht erprobt. Aber ... etwas anderes gibt es nicht."

Ja, die Dialektik der Entstehung einer einheitlichen Welt, die zugleich zunehmend vielfŠltiger wird, ist einer der kompliziertesten, aber realen ForschungsgegenstŠnde im Bereich der globalen Entwicklung. Das ist ein PhŠnomen, dessen KomplexitŠt gerade in unserer Zeit auf neue Weise weiterwŠchst. Es wird zu einer realen Herausforderung unserer Zeit oder ist es bereits geworden.

Parallel zur Vertiefung der Globalisierung wŠchst die Zahl der selbstŠndigen unabhŠngigen Staaten. Immer mehr Všlker wollen eine BestŠtigung ihrer SelbstŠndigkeit bis hin zur GrŸndung neuer Staaten - kleiner, schwŠcher, aber  eigener. Diese widersprŸchliche Entwicklung wird in der Regel damit erklŠrt, da§ sich das Leben der Weltgemeinschaft demokratisiert, da§ sich Staaten und Všlker zunŠchst aus den Fesseln des Kolonialismus, danach aus sklavischer AbhŠngigkeit von anderen Staaten und schlie§lich vom Druck der Konfrontation und der Systemauseinandersetzung befreit haben, die jeglichen nationalen Hoffnungen und Bestrebungen enge Grenzen setzten. Die Všlker suchen nach Selbstidentifikation und SelbstŠndigkeit. Wird dieser Drang mit der Zeit abnehmen? Nein. Die Prognose (denken wir an den Weltkongre§ der Geographen von 1992 in den USA) lautet: Die Zahl neuer unabhŠngiger Staaten wird auch weiterhin wachsen ...

Die grundlegende Untersuchung dieses zukunftstrŠchtigen PhŠnomens ist eine eigene Arbeit wert. Hier soll nur ein Ÿberaus wesentliches Moment hervorgehoben werden: Da§ die Weltgemeinschaft als eine Summe von  Nationalstaaten immer bunter und vielfŠltiger wird, ist ein Ergebnis, in gewisser Hinsicht sogar ein unvermeidliches Produkt des Globalisierungsprozesses. Das ist deshalb so, weil die Globalisierung einerseits die AnnŠherung, das Zusammenwirken und die wachsende Interdependenz der Staaten und Nationen bedingt, andererseits aber zum  stŠndigen Vergleich der nationalen Erfahrungen der einzelnen LŠnder fŸhrt und damit sowohl ihre €hnlichkeiten als auch ihre Unterschiede sichtbar macht. Besonderen die Unterschiede treten deutlicher, plastischer, erkennbarer hervor. Jedes Subjekt dieses Austausches wird veranla§t, den Erfahrungen der anderen etwas NŸtzliches fŸr sich zu  entnehmen, gleichzeitig aber auch seine eigenen zivilisatorischen Besonderheiten und Lebenswerte zu verteidigen. Die Interdependenz bedingt also zugleich ein gegenseitiges Anziehen und Absto§en, sowohl einen wachsenden Zusammenhang als auch eine gewisse Abgrenzung. Deshalb kann es kaum verwundern, da§ jede Nation und jedes Volk als Beteiligter und Akteur im Globalisierungsproze§ zum einen dessen VorzŸge zu nutzen versucht, zum anderen aber auch bestimmte Bedenken, ja sogar €ngste hegt.

Die Bewegung der Weltgemeinschaft hin zur Interdependenz fordert von allen beteiligten Seiten eine Korrektur ihres Verhaltens, eine Anpassung an die Gesetze beispielsweise des globalen Marktes, die Unterordnung unter bestimmte Imperative, die im Interesse der Menschheit liegen. Das bedeutet aber, da§ die Existenzbedingungen der Menschen einem Wandel unterliegen. Menschen mŸssen gewohnte Traditionen und Handlungsweisen Šndern, ihre Wertesysteme korrigieren. Das wird natŸrlich unterschiedlich aufgenommen. Manche finden sich im Strom des Neuen, in den VerŠnderungen zurecht. Andere glauben, sie seien in die FŠnge fremder, gar feindlicher KrŠfte geraten: KrŠfte, die sie aus der gewohnten, in Jahrhunderten gewachsenen Umgebung rei§en wollen; KrŠfte, die sich anscheinend am Heiligsten vergreifen - der IdentitŠt der nationalen Gruppe, der Nation, des Landes. Das weckt instinktiven Widerstand gegen die Globalisierungsprozesse, genauer gesagt, ihre konkreten Erscheinungsformen; daher das Bestreben, vor den anrollenden VerŠnderungen in seiner traditionellen, nationalen, religišsen oder anderen Nische Schutz zu suchen. In unserer Zeit fŸhren derartige Reaktionen auf die Globalisierung im Verein mit dem seit Beendigung des Kalten Krieges wachsenden Streben der Všlker, Nationen und nationalen Gruppen, ihre Rechte zu schŸtzen,  Ungerechtigkeiten oder BeschrŠnkungen zu Ÿberwinden, die in der Vergangenheit in einzelnen Regionen vorkamen, zum Aufleben eines aggressiven Nationalismus, der sich in extremen Formen Šu§ert.

Der Begriff des Nationalismus wird von den verschiedenen Všlkern und Staaten unterschiedlich interpretiert. Nicht selten hat er durchaus positiven Inhalt, beschreibt das Streben, die EigenstŠndigkeit des jeweiligen Volkes oder Staates zu erhalten und zu festigen. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Der heutige aggressive Nationalismus (den es Ÿbrigens auch in der Vergangenheit gegeben hat) verficht aber ganz andere Inhalte. Hier geht es um Spekulationen zutiefst antidemokratischer KrŠfte, die die nationalen GefŸhle  auszunutzen versuchen, um Macht, Einflu§ und Herrschaft (nicht nur Ÿber das eigene Volk) zu erringen, sich fern von den Idealen des Humanismus und den Friedens ihr eigenes "Paradies" zu schaffen. Ein Paradies, das fŸr die Masse der Menschen zur Hšlle werden kann. 

Diese aggressiv nationalistischen KrŠfte mi§brauchen die edlen Lšsungen des Schutzes der Rechte und der  SouverŠnitŠt ihres Volkes und schrŠnken damit dessen Mšglichkeiten ein, seine Rechte und seine SouverŠnitŠt tatsŠchlich voll wahrzunehmen. Denn unter den heutigen Bedingungen und mehr noch in der Zukunft wird dies nur in gemeinsamer internationaler Entwicklung, im friedlichen Zusammenwirken mit anderen Staaten mšglich sein, das Feindschaft und Intoleranz ausschlie§t. 

Wie dem auch sei, derartige Schutzreaktionen der Menschen auf die Globalisierung und die sich entfaltenden  Integrationsprozesse mŸssen mit VerstŠndnis gesehen werden. Nicht als Ablehnung des Fortschritts, sondern als das Bestreben, eigene legitime Interessen zu schŸtzen. Diese Sicht mu§ natŸrlich auch in der Politik ihren Niederschlag finden.

Neben dem aggressiven Nationalismus haben die gegenwŠrtigen Prozesse eine weitere Erscheinung hervorgebracht, die ebenfalls erklŠrbar ist, aber zu Šu§erst ernsten Problemen fŸhren kann. Sie kann mit dem aggressiven  Nationalismus verschmelzen, aber auch durchaus "gutartig" sein (was sie allerdings nicht weniger gefŠhrlich macht). Wir meinen den sogenannten Hyperethnismus, der bedeutet, historisch gewachsene Vielvšlkerstaaten zu beseitigen und ethnisch reine staatliche Gebilde schaffen zu wollen. 

An dieser Stelle sei zunŠchst hervorgehoben, da§ das Recht der Všlker auf Selbstbestimmung ein natŸrliches, von der internationalen Gemeinschaft anerkanntes Recht ist. Die Konvention Ÿber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die die UNO am 16. Dezember 1966 beschlo§, legt bereits in Artikel 1 fest: "Alle Všlker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Auf Grund dieses Rechts bestimmen sie frei ihren politischen Status und betreiben frei ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung."

Mit anderen Worten, das Recht der Všlker auf Selbstbestimmung ist nichts anderes als das vom Neuen Denken  vertretene Recht auf die freie Wahl des Entwicklungsweges. Wenn ein Volk seinen Wunsch eindeutig zum Ausdruck bringt, dieses Recht auf Selbstbestimmung zu nutzen, dann ist es zumindest unmoralisch, es daran zu hindern. Wenn ein Volk (eine Nation oder nationale Gruppe) dieses Recht in Anspruch nehmen will, hat es allerdings im eigenen Interesse vielfŠltige UmstŠnde zu berŸcksichtigen, die man nur zum eigenen Schaden ignoriert. 

Vor allem existieren in der Welt nur sehr wenige Staaten oder auch kleine administrative Einheiten, die ethnisch všllig homogen sind. Deshalb kann die Durchsetzung dieses Rechts auf Selbstbestimmung einer ethnischen  Gemeinschaft sehr leicht die Beschneidung dieses Rechts fŸr eine andere solche Gemeinschaft nach sich ziehen. Hier sind Konflikte vorprogrammiert, die sich aufs Šu§erste zuspitzen kšnnen.

In den FŠllen, da die Durchsetzung dieses Rechts auf Selbstbestimmung zum Zerfall eines seit langem bestehenden multinationalen Staates fŸhrt, kommt auf dessen Erben bei der "Vermšgensaufteilung" au§er den ethnischen Fragen im engeren Sinne ein Unzahl von Problemen zu, deren Lšsung nur in AusnahmefŠllen schmerzfrei mšglich ist.  Zumeist sind diese geeignet, die Beziehungen zwischen den "scheidenden" Seiten auf Jahrzehnte hinaus zu verdŸstern.

Das Ausscheiden aus gewachsenen staatlichen Strukturen und die GrŸndung neuer Staaten fŸhrt in der Regel  unweigerlich zu wirtschaftlicher InstabilitŠt. Die LebensfŠhigkeit der neuen Organismen zu sichern ist keine einfache Aufgaben, denn sie werden aus organisch gewachsenen Wirtschaftskomplexen herausgerissen. HŠufig geraten sie unter den Einflu§ anderer grš§erer Staaten und werden deren leichte Beute.

Alle diese †berlegungen, die der historischen Erfahrung entnommen sind, haben sich in den letzten Jahren im ehemaligen Jugoslawien auf tragische Weise bestŠtigt. Dort sind alle negativen Folgen Ÿbereilter, wenig durchdachter und von einigen auslŠndischen MŠchten bereitwillig unterstŸtzter EntschlŸsse eingetreten. Sie haben zu dem lang anhaltenden Krieg gefŸhrt, der den Všlkern unerme§liche Opfer abverlangt hat.

Ein anderes Beispiel ist das Schicksal der Sowjetunion. Ihr Zerfall in fŸnfzehn unabhŠngige Staaten, der ebenfalls nicht nach einem durchdachten Plan ablief, hat eine Unzahl verschiedener negativer Folgen mit sich gebracht. In allen FŠllen sind neue nationale Minderheiten entstanden (auf die dieser Terminus eigentlich kaum zutrifft, denn es handelt sich dabei um Millionen Menschen, deren Anteil an der Bevšlkerung mit dem der Titularnation vergleichbar ist), hat man versucht, ethnische SŠuberungen durchzufŸhren, wurden Menschenrechte verletzt. Bei diesen Beispielen ist es aber nicht geblieben. Heute findet man kaum noch einen Teil der Welt, der von solchen Tendenzen des  Hyperethnismus verschont geblieben wŠre. (Man denke nur an China, Indien, die TŸrkei, Spanien, Kanada, Belgien u.a.) Und man mag sich kaum vorstellen, welches Chaos auf der Welt entstŸnde, wenn dieses Streben nach ethnischer (oder ethnisch-konfessioneller) Abgeschlossenheit, nach Abtrennung derartiger Minderheiten von den bestehenden staatlichen Strukturen in praktische Aktionen zur VerŠnderung unvorstellbar vieler bestehender Grenzen fŸhrte. Das wŠre kein Weg nach vorwŠrts, sondern rŸckwŠrts. Das Ergebnis wŠre keine bessere Organisation, sondern eine allgemeine Desorganisation der menschlichen Gemeinschaft. 

Nach unserer Meinung ist der Ausweg aus dieser Situation die gut Ÿberlegte Anwendung des Fšderationsprinzips im weitesten Sinne des Wortes. Dieses Prinzip ermšglicht es, die Rechte und Interessen einzelner Všlker und  nationaler Gruppen zu gewŠhrleisten, zugleich aber alle VorzŸge der bestehenden gro§en staatlichen Gebilde zu erhalten. Es kann kein Zweifel bestehen, da§ z.B. die Erhaltung der Sowjetunion in Form einer erneuerten Fšderation (selbst mit konfšderativen Elementen) jedem Volk die Mšglichkeit geboten hŠtte, seine Rechte wahrzunehmen. Zugleich wŠren alle VorzŸge dieses gewaltigen Wirtschafts-, Rechts-, Kultur- und Verteidigungsraumes erhalten geblieben, hŠtten die gro§en Schwierigkeiten und Verluste vermieden werden kšnnen, mit denen heute alle Subjekte der ehemaligen Union zu kŠmpfen haben. In bestimmten FŠllen, wo es die Bedingungen erlauben, kann auch das Prinzip der national-kulturellen Autonomie einen positiven Effekt haben.

Mit anderen Worten, das Recht der Všlker auf Selbstbestimmung ist unbestritten, darf aber nicht als absolutes Recht verstanden werden. Genauer gesagt, das Problem der Formen und Wege der Selbstbestimmung verdient grš§te Aufmerksamkeit, erfordert ein flexibles, umsichtiges und historisch begrŸndetes Vorgehen. Hier taucht eine weitere Frage auf, auf die es noch keine generelle, allgemein anerkannte Antwort gibt: In welchem VerhŠltnis zueinander stehen die Menschenrechte, die die Weltgemeinschaft als universellen Wert anerkennt, die Rechte von Minderheiten, das Recht der Všlker auf Selbstbestimmung und die SouverŠnitŠt des Staates?

Nach unserer Meinung ist es angesichts der bereits entstandenen neuen Rechtsnormen, der Existenz von  zwischenstaatlichen Vereinigungen verschiedenster Art, angesichts des Prozesses der Interdependenz und der wachsenden Vielfalt der Weltgemeinschaft dringend erforderlich, die heute verwendeten Begriffe wesentlich zu prŠzisieren. NatŸrlich kann dies nur auf kollektive Weise geschehen und mu§ die Anerkennung der gesamten Weltgemeinschaft finden.

Die gleichlaufende Entwicklung der Prozesse der Globalisierung und der zunehmenden Vielfalt der Weltgemeinschaft, ihre gegenseitige AbhŠngigkeit und Beeinflussung ist mithin eine Tatsache. Eine Tatsache, die zahlreiche hšchst  komplizierte Probleme hervorbringt. Nicht nur fŸr die inneren VerhŠltnisse und das Schicksal der heute existierenden staatlichen Strukturen, sondern auch fŸr die internationale Politik. Worum geht es dabei? Hier treffen verschiedene Standpunkte aufeinander. Einen vertritt Francis Fukuyama in seinem Buch "Das Ende der Geschichte". Ausgehend von der im Westen weit verbreiteten Auffassung, im Kalten Krieg habe der Liberalismus einen vollen Sieg errungen, und die sozialistische Idee sei gescheitert, sagt Fukuyama den Siegeszug liberaler Werte und liberaler MentalitŠt in ihrer extremsten Form auf der ganzen Welt voraus. Das Vorbild dafŸr sind fŸr ihn natŸrlich die Werte und die MentalitŠt der amerikanischen Gesellschaft.

Im Grunde genommen ist dies aber nichts anderes, al die offene und alternativlose Behauptung, alle Staaten und Všlker mŸ§ten sich einem Modell unterwerfen, das das Monopol auf die Wahrheit besitzt. Das hei§t, die gesamte Menschheit wird in den einen, den liberalen, Topf geworfen.

Die Geschichte kennt bereits einen Versuch, das Monopol auf die Wahrheit zu beanspruchen. Der ganzen Menschheit wurde vorausgesagt, sie werde den Sozialismus nach dem totalitŠren Modell der Sowjetunion errichten. Womit  dieser Versuch endete, ist bekannt. Und es kann kein Zweifel bestehen, da§ Francis Fukuyamas Anma§ung das gleiche Schicksal ereilen wird.

Im Grunde genommen lehnt auch die westliche Welt in ihrem heutigen Zustand ein einheitliches Modell, genauer gesagt, das amerikanische Modell ab. Jeder Staat der entwickelten westlichen Gesellschaft hat seine Formen und Methoden, nach denen er die liberalen Ideen realisiert, die Mechanismen der Marktwirtschaft und der pluralistischen Demokratie einsetzt. Allein das widerlegt Fukuyamas Prognose.

In seiner nŠchsten gro§en Arbeit "Das Vertrauen" hat er allerdings versucht, seine Thesen mit weiteren Argumenten zu begrŸnden. Nach seinen Worten werden alle Staaten, die ihre nationalen ZŸge und Traditionen nicht aufgeben, mit dem "demokratischen Liberalismus" oder dem "Kapitalismus ohne Grenzen" keine "Ehe" oder zumindest "Verlobung" eingehen, im 21. Jahrhundert ein Schattendasein fŸhren mŸssen. 

Aber auch diese Konstruktion hŠlt der PrŸfung der RealitŠt nicht stand. In Wirklichkeit hat eine ganze Reihe LŠnder, die in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg Ÿberzeugende wirtschaftliche und kulturelle Erfolge erzielten,  dies getan, indem sie sich den Forderungen der Modernisierung stellten, dabei aber ihre eigenen Traditionen und ihre MentalitŠt nutzten. Diese Staaten - Japan, die Republik Korea, Singapur u.a. - sind heute den alten  IndustriemŠchten, darunter den USA, bereits dicht auf den Fersen.

Was die Staaten Mittel- und Osteuropas einschlie§lich der ehemaligen Sowjetunion betrifft, so werden auch hier die Mechanismen der Marktwirtschaft und der pluralistischen Demokratie, ausgehend von der jeweiligen nationalen Besonderheit, in sehr unterschiedlichen Formen angewandt. Versuche, diesen Staaten fertige Modelle aufzudrŠngen, haben in eine Sackgasse gefŸhrt und den Proze§ der Reorganisation der Gesellschaft nur behindert. In Ru§land  sto§en derartige Versuche vor allem im kulturellen Bereich auf breite Ablehnung.

Eine andere Art von Prognose fŸr die weitere Entwicklung unter den Bedingungen von Globalisierung und zugleich wachsender Vielfalt der Welt stellt Samuel Huntington. In seiner interessanten Arbeit "Der Kampf der Kulturen"  ("The Clash of Civilizations") stellt er die Hypothese auf, da§ im 21. Jahrhundert Konflikte oder gar unversšhnliche Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Kulturkreisen unvermeidbar seien. Er nimmt an, da§ die Vielfalt der Kulturen zum Kampf jeder gegen jeden fŸhren mu§. †ber diese Arbeit Huntingtons hat es bereits viele  Diskussionen und kritische €u§erungen gegeben. Ohne frŸhere †berlegungen zu wiederholen, wollen wir aus der Sicht unseres Themas dazu folgendes sagen: 

Zweifellos haben in der ganzen Geschichte der Menschheit bestimmte WidersprŸche zwischen den einzelnen  regionalen oder nationalen "civilizations" existiert, ist es zu Konflikten zwischen ihnen gekommen. Diese kann man natŸrlich auch in Zukunft nicht ausschlie§en. Aber es ist kaum anzunehmen, da§ sie gerade jetzt solch brisanten Charakter annehmen.

Heute spielen sich die schwersten und gefŠhrlichsten Konflikte nicht zwischen diesen Kulturkreisen, sondern zumeist in ihrem Inneren ab. Das ist nicht verwunderlich. Die wachsende Vielfalt der Weltgemeinschaft fŸhrt dazu, da§ sich auch im Rahmen der regionalen Kulturen der Pluralismus verstŠrkt, neue WidersprŸche zwischen deren einzelnen Teilen auftreten. Man denke nur an die Kollision zwischen einzelnen arabischen Staaten oder Stršmungen in diesen Staaten selbst, an die blutigen Konflikte in Afrika oder die komplizierte Entwicklung in SŸdostasien. Ein anderer  Umstand, den man nicht ignorieren sollte, besteht darin, da§ die heutigen Konfliktsituationen, selbst wenn sie zwischen verschiedenen Kulturkreisen auftreten, nicht in erster Linie auf kulturelle Unterschiede und WidersprŸche zurŸckzufŸhren sind, sondern vielmehr auf soziale Faktoren wie das ungeklŠrte Erbe der kolonialen Vergangenheit, die tiefer werdende Kluft im Entwicklungsniveau zwischen einzelnen Staaten oder Staatengruppen, die ungleiche Rechtslage von Immigranten (vor allem die rechtliche Stellung von Einwanderern aus EntwicklungslŠndern in industrialisierte LŠnder) usw. Was diesen sozialen Faktor betrifft, so kann er tatsŠchlich zum Auslšser wieder  Konflikte im kommenden Jahrhundert werden. Die Unterschiede der "Civilizations" haben damit aber wenig zu tun. Weder die Hypothese von einer allgemeinen Angleichung an die Ma§stŠbe des Liberalismus noch vom unvermeidlichen Konflikt der Zivilisationen dŸrften also die kŸnftige Entwicklung bestimmen. Bedeutet dies, da§ die Dialektik von Globalisierung und Vielfalt oder die Herausforderung der Vielfalt an sich keine Komplikationen heraufbeschwšren werden? NatŸrlich nicht! Diesen Komplikationen werden aber nach unserer Auffassung weniger objektive, also vielmehr subjektive Faktoren zugrunde liegen. Die objektiven Unterschiede werden dabei lediglich benutzt.

Wir meinen hier vor allem eine Politik, die die Unterschiede der regionalen Kulturen, die nationalen Interessen, die nationale Spezifik der Staaten und Všlker ignoriert. Alle Varianten des Hegemonismus, jegliche RŸckfŠlle in koloniale Ambitionen, Versuche, allen Staaten ein bestimmtes Modell aufzuzwingen oder gar die weltweite FŸhrungsrolle einer einzelnen Macht durchzusetzen, laufen letzten Endes darauf hinaus, die nationalen Interessen einzelner LŠnder zu ignorieren (bisher stellen nur einige amerikanische Politiker globale FŸhrungsansprŸche, aber auch im regionalen Bereich gibt es derartige Ambitionen). 

Die Schlu§folgerung aus dem Gesagten ergibt sich fast von selbst: Jede Politik, die demokratisch und human sein, den Interessen des eigenen Landes und der ganzen Welt entsprechen will, mu§ die Spezifik der regionalen Kulturen, die nationalen Interessen und Besonderheiten jedes Staates und jedes Volkes aufs sorgfŠltigste beachten.

Hier mu§ nicht bewiesen werden, da§ die Interessen der Staaten und Všlker unterschiedlich sind und nicht selten betrŠchtlich auseinandergehen. Das ist normal und natŸrlich. Hier mu§ das Prinzip des Neuen Denkens von der Suche nach Interessenausgleich den Weg weisen. Es zeigt die Grenzen der Mšglichkeiten, und der Bereitschaft der einzelnen Mitglieder der Weltgemeinschaft, in ihrer Politik diesen oder jenen Schritt zu gehen.

Ein wichtiger Aspekt dieses Problems ist die Auslegung der nationalen Interessen. Kann man behaupten, da§ die nationalen Interessen eines Staates stets richtig definiert werden? Oje! Aus der Geschichte - auch der jŸngsten Zeit - sind genŸgend Beispiele bekannt, da§ die Interessen eines Staates bemŸht wurden, um das Streben nach grenzenloser Hegemonie, nach Herrschaft Ÿber einzelne Regionen zu begrŸnden, einen souverŠnen Staat oder eine ganze  Staatengruppe zur "eigenen strategischen InteressensphŠre" zu erklŠren. In solchen FŠllen verlieren Politiker hŠufig jedes Ma§.

NatŸrlich kann die Lage in einer bestimmten Region die Interessen eines benachbarten oder selbst weit entfernt liegenden Staates berŸhren. Er wird dann die Entwicklung gespannt verfolgen und Ma§nahmen zum Schutze seiner  Interessen einleiten. Dabei darf er jedoch auf keinen Fall die SouverŠnitŠt anderer Staaten verletzen., die Interessen seiner Partner oder Nachbarn mit Fu§en treten. In unserer Zeit ist auch das zuweilen auftretende Streben nach Selbstisolierung, nach einer Art wirtschaftlicher, politischer oder geistiger Autarkie auf eine falsche Auslegung eigener Interessen zurŸckzufŸhren. Denn in unserer interdependenten Welt kšnnen die Interessen jedes Staates, wie bereits gesagt, nur gewŠhrleistet werden, wenn er die VorzŸge des breiten internationalen Kontakts fŸr sich nutzt. Im Grunde genommen endet jede Ÿber- oder untertriebene Auslegung, jede verzerrte Interpretation nationaler Interessen mit Mi§erfolgen in der Innen- und Au§enpolitik.

Hier ergibt sich natŸrlich die Frage, wer dabei den Richter spielen soll. Wer hat das Recht, darŸber zu urteilen, ob nationale Interessen genau oder ungenau definiert werden? Der Richter kann hier nur das Volk des jeweiligen Landes mit seinem Verantwortungsbewu§tsein und seiner Weisheit sein. Ein Volk kann man desorientieren und in die Irre fŸhren. Aber frŸher oder spŠter erkennt es seine wahren Lebensinteressen. 

Der italienische Wissenschaftler und Politiker Sergio Romano formuliert in seinem Buch "Fabbrica della guerra" -  den tiefen Gedanken: Konflikte und Kriege entstanden in der Regel immer dann, wenn ein Staat oder mehrere Staaten ihre nationalen Interessen falsch interpretierten, darunter (meist sogar in erster Linie) die Interessen ihrer nationalen Sicherheit.

Heute ist eine derartige falsche Auslegung doppelt gefŠhrlich. Denn in der interdependenten Welt lšst ein Fehler, insbesondere wenn er von einer Gro§macht ausgeht, eine riesige, wenn nicht sogar weltweite Reaktion aus, kann zu wesentlich gefŠhrlicheren Krisen fŸhren als in der Vergangenheit.


Version: 14.1.2017
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