Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis

Das Neue Denken in der postkonfrontativen Welt

Eine politische Bilanz der ersten Jahre nach der Konfrontation fŸhrt uns zu folgenden Schlu§folgerungen:

  • Die Welt ist in eine neue Entwicklungsphase oder –etappe eingetreten. Die Weltordnung im †bergang wird zu einem neuen Zustand fŸhren, dessen Konturen bisher noch nicht erkennbar sind.
  • Beim Eintritt in diese neue †bergangsphase ist die Welt politisch nach wie vor gespalten, allerdings haben die Trennlinien eine andere Konfiguration angenommen, und auch der Charakter der internationalen Beziehungen insgesamt hat sich verŠndert.
  • Die Welt befindet sich nach wie vor – teils bewu§t, teils unbewu§t i– in einer kritischen Phase. In allen Lebensbereichen und in allen Regionen der Erde nimmt das  Krisenpotential zu. Wie Wissenschaftler des schwedischen SIPRI-Institutes errechnet haben, sind in den vergangenen fŸnf Jahren an 61 Punkten der Erde 90 Konflikte unterschiedlicher IntensitŠt registriert worden. 47 davon bestehen bis heute.
  • Das konstruktive Potential der Weltpolitik hat sich wesentlich abgeschwŠcht. In den letzten drei bis vier Jahren konnte die Weltgemeinschaft nicht einen einzigen gro§en Erfolg verbuchen. Die Weltpolitik insgesamt, aber auch die Politik einzelner Statten unternimmt nichts gegen die gefŠhrlichen spontanen Entwicklungsprozesse, sondern demonstriert statt dessen Machtlosigkeit oder GleichgŸltigkeit. Die Politik lŠuft den Ereignissen hinterher, sie unternimmt nichts, um diese vorherzusehen oder zu verhŸten.

Die Welt steht heute wieder vor einer schwerwiegenden, wenn nicht sogar kritischen Entscheidung: Entweder lŠ§t sie zu, da§ die heute zu beobachtenden Prozesse weiterlaufen wie bisher, oder sie versucht, mit kollektiven Anstrengungen der Staaten und Všlker auf diese Entwicklung Einflu§ zu nehmen und sie in Bahnen zu lenken, die fŸr alle Seiten gŸnstig sind.  Bisher hat niemand erkennen lassen, wie man zu dieser zweiten, rettenden Handlungsvariante kommen kšnnte. Die Situation ist anscheinend unlšsbar. Aber nur anscheinend.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, da§ die Lage auch Mitte der achtziger Jahre ausweglos erschien. Niemand wu§te, wie man das WettrŸsten zŸgeln und dem Kalten Krieg ein Ende setzen sollte. Aber es ist erreicht worden! Sehr wichtig war dabei: Beide Seiten kamen allmŠhlich zu der Erkenntnis, da§ von einer anhaltenden Konfrontation tšdliche Gefahr ausgeht. Es war der politische Wille vonnšten, diesem Zustand ein Ende zu setzen.

  • Hier spielte das Neue Denken und die darauf begrŸndete verŠnderte Politik der Sowjetunion eine entscheidende Rolle. Ihr gelang es, die so undurchdringlich erscheinende Wand alter Ideen und der ihnen entsprechenden Politik der Feindschaft, der Intoleranz und der gegenseitigen Ablehnung zu durchbrechen.

Heute wird im Grund genommen das gleiche gebraucht:

  • die Erkenntnis, da§ eine Politik, so wie sie ist, keine Zukunft hat,
  • der politische Wille, ihre Orientierung zu verŠndern, und natŸrlich
  • eine Konzeption, die die gegenwŠrtigen Erfordernisse richtig widerspiegelt und den Herausforderungen der Zeit gerecht wird.

Bislang ist leider weder das erste noch das zweite oder gar das dritte in Sicht.

Dabei stellt sich die heutige Situation in gewisser Weise betrŠchtlich gŸnstiger dar als vor zehn Jahren. Denn dank der Anstrengungen der Wissenschaft und vieler gesellschaftlichen KrŠfte, sind die Gefahren, die die Weltgemeinschaft bedrohen, heute bekannt. Die Perspektive ist also besser zu erkennen, die negativen Folgen, aber auch die positiven Mšglichkeiten verschiedener Varianten der Politik treten deutlicher hervor. Die Herausforderungen unserer Zeit und der Zukunft sind Ÿberall im GesprŠch.

Au§erdem sind da immer noch die nicht všllig verbrauchten Erfahrungen vergangener Jahre, der †berwindung des Kalten Krieges. Nicht nur die Erfahrungen, sondern auch das in jener Zeit angesammelte Kapital in Form der VertrŠge Ÿber die Reduzierung der atomaren und konventionellen Waffen sowie den Abkommen, die der Verschmutzung und Zerstšrung der Umwelt durch die Staaten bestimmte  Grenzen setzen usw. Schlie§lich gibt es das Neue Denken, das als konzeptionelle Basis zur †berwindung des Kalten Krieges diente und seine Bedeutung bis heute nicht verloren hat. Zwar meinen manche, das Neue Denken sei bereits Geschichte, es kšnne die Interessen und Erfordernisse der internationalen Entwicklung von heute nicht mehr reflektieren. Trifft das zu?

  • Ausgangspunkt fŸr das Neue Denken war die Idee von der Einheitlichkeit der Welt, ihrem immer engeren wechselseitigen Zusammenhang und ihrer wechselseitigen AbhŠngigkeit. Ist diese Idee etwas veraltet? Im Gegenteil, die Interdependenz der Welt wird mit jedem Jahr deutlicher sichtbar.
  • Ist die These von der PrioritŠt der allgemeinen Menschheitsinteressen etwa nicht mehr aktuell? Im Gegenteil, heute, da sowohl serišse Wissenschaftler als auch internationale Foren in Sorge auf die Bedrohung der Existenz, ja, des †berlebens des Menschengeschlechts verweisen, hat diese These zusŠtzliche BestŠtigung erfahren. Gemeinsame Anstrengungen zur Rettung der Menschheit mŸssen zum Dreh- und Angelpunkt der heutigen Weltpolitik werden. Das Neue Denken besteht bis heute auf dem Prinzip der freien Entscheidung Ÿber den Entwicklungsweg, erkennt den Interessenpluralismus der Staaten und das Recht jedes Staates an, seine Interessen zu verteidigen. Zugleich fordert es von der Politik, einen Ausgleich der Interessen aller zu finden, was allein die Grundlage fŸr allseitig annehmbare Entscheidungen sein kann. Auch das beweist eine realistische Sichte auf die zunehmend vielfŠltigere Welt von heute.
  • Das neue Denken hat rohe Gewalt als Mittel der Weltpolitik abgelehnt. Haben die letzten Jahre die Richtigkeit dieser Forderung etwa widerlegt? Ganz im Gegenteil! Schlimm ist etwas anderes - allmŠhlich gewšhnt man sich wieder an die Anwendung von Gewalt. Die Politik kŸmmert sich nicht mehr um die Regeln der Moral, wird permanent aggressiv - selbst bei der Lšsung innenpolitischer Probleme. Ist es nicht an der Zeit, dieser Verwilderung der Politiker Schranken zu setzen?
  • Schlie§lich fordert das Neue Denken politische Methoden zur Lšsung von Problemen, zielt auf Geduld und Toleranz. Auch das ist absolut gerechtfertigt. Da kein Dialog gefŸhrt und nicht nach politischen Lšsungen gesucht wird, hat das Vorgehen der Politiker immer hŠufiger blutige Folgen.

Nein, die GrundsŠtze des Neuen Denkens sind nicht veraltet. Mehr noch: Wenn es gelang, mit Hilfe dieser GrundsŠtze die Konfrontation zu Ÿberwinden (obwohl sie seitens des Westens bei weitem nicht immer konsequent angewandt wurden=, dann ist der gegenwŠrtig zu beobachtende RŸckschritt auch wesentlich darauf zurŸckzufŸhren, da§ man diese GrundsŠtze dem Vergessen anheimgegeben, eigensŸchtigen Zielen und Handlungen geopfert hat. Eine der wichtigsten Voraussetzungen, um erneut eine Wende zum Besseren in der Weltpolitik zu erreichen, um die gegenwŠrtige komplizierte †bergangsordnung zu Ÿberwinden, besteht darin, sich erneut den GrundsŠtzen des Neuen Denkens zuzuwenden, solche Lšsungen in der Weltpolitik zu finden, die diesen GrundsŠtzen entsprechen. Dies wollen wir nicht so verstanden wissen, da§ wir dafŸr werben, das Vorgehen und die Methoden der Vergangenheit einfach zu reproduzieren, selbst wenn damit Erfolge erzielt wurden. Nein, die Welt ist in stŠndiger Entwicklung, in stŠndiger Evolution begriffen, und auch das Neue Denken mu§ weiterentwickelt werden. Seine GrundsŠtze haben sich insgesamt als richtig erwiesen. Aber die konkreten Lšsungen, die darauf beruhen, mŸssen der neuen, verŠnderten Welt entsprechen.

Unsere Stiftung konzentriert seit ihrer GrŸndung am 2. MŠrz 1992 ihre BemŸhungen darauf, die weitere Entwicklung der Welt zu analysieren und die Schlu§folgerungen des Neuen Denkens auf dieser Grundlage weiter anzureichern. Dabei mu§te den politischen, genauer gesagt den geopolitischen Erscheinungen, den VerŠnderungen, die in diesem Bereich vor sich gegangen sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Diese sind in der Tat betrŠchtlich: An die Stelle der bipolaren Struktur der Welt ist eine neue multipolare, pluralistische Struktur getreten. Das KrŠfteverhŠltnis zwischen den einzelnen Staaten und ihren BŸndnissen hat sich wesentlich verŠndert. Auch die Faktoren, die Gewicht und Einflu§ der Staaten in der Weltpolitik bestimmen, haben sich gewandelt. Wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische und technologische Faktoren sind in den Vordergrund getreten. Nicht zufŠllig spricht man heute immer šfter nicht nur von der wachsenden Rolle der Geopolitik, sondern auch der Geoškonomie. Je weiter wir unsere Analyse vorantrieben, desto deutlicher mu§ten wir aber auch erkennen, da§ wir uns nicht allein auf diese geopolitischen und geoškonomischen Probleme beschrŠnken kšnnen. Ihre Untersuchung ist absolut notwendig. Aber damit allein ist es noch nicht mšglich, zu den eigentlichen Ursachen der bestehenden Probleme und Schwierigkeiten vorzudringen, Wege zu ihrer Lšsung und †berwindung zu finden.

Die Entwicklung des gesamten Weltorganismus verlŠuft in einer komplizierten, zumindest zweidimensionalen oder zweischichtigen Struktur. Im Grunde genommen hat sich die ganze Weltgeschichte in dieser zweischichtigen Struktur vollzogen. Aber zu gewissen Zeiten wird sie besonders sichtbar und bringt sehr zugespitzte WidersprŸche hervor.

  1. Die erste, sozusagen die obere (oder oberflŠchliche) Schicht bilden die vielfŠltigen Beziehungen zwischen den Staaten, Všlkern, Nationen und einzelnen Menschen.
    • Hier spielt der subjektive Faktor eine entscheidende Rolle - die Politik, die Politiker, die unterschiedlichen politischen KrŠfte.
    • Hier schneiden und verflechten sich die Interessen der Staaten, der Všlker, der sozialen und nationalen Gemeinschaften. Charakteristisch fŸr die in dieser SphŠre ablaufenden Prozesse sind heftige Bewegung, konjunkturelle Schwankungen, ein hŠufiger Wechsel der Koordinaten.
  2. Neben dieser oberen Schicht der Weltentwicklung existiert eine weitere, tiefer liegende. Wir meinen damit die objektiven VerŠnderungen im Charakter der Zivilisation - von der stŠndigen Erneuerung der Mittel und Methoden des wirtschaftlichen Fortschritts bis zur unaufhaltsamen Evolution der Lebensweise von Millionen Menschen. Letzten Endes bestimmen diese VerŠnderungen die Dynamik und die Entwicklungsrichtung des Lebens auf unserem Erdball.

Nehmen wir die wirtschaftliche Entwicklung. Im 20. Jahrhundert sind die entwickelten LŠnder der Welt von der klassischen industriellen Produktion mit weit verbreiteter Handarbeit Ÿber das Flie§band zur automatisierten Produktion und schlie§lich zur Kybernetisierung und Informationisierung gekommen. Aus der Industriegesellschaft ist eine Gesellschaft geworden, die hŠufig (vielleicht nicht immer ganz prŠzise) als postindustrielle oder Informationsgesellschaft bezeichnet wird.

Diese Prozesse waren natŸrlich mit den AblŠufen verknŸpft, die sich in der ersten, obersten Schicht vollzogen. Zwischen beidem bestand ein ganz eigener Zusammenhang. Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik wurde wesentlich von den Erfordernissen der Politik und vom Kampf nach dem Prinzip jeder gegen jeden vorangetrieben.

  • Im 20. Jahrhundert trat eine GesetzmŠ§igkeit, die auch frŸher bestand, unverhŸllt hervor: Die Kriege wurden zum stabilsten Verbraucher und wirksamsten Beschleuniger von Wirtschaft und Produktion.<
  • Interessant ist aber etwas anderes. WŠhrend die oberflŠchliche, vor allem die politischen Prozesse auf die tiefer liegenden einwirkten (vor allem auf die Wirtschaft, die Produktion und ihre revolutionŠren VerŠnderungen), hatten sie tiefer liegenden Prozesse kaum Einflu§ auf diejenigen, die sich an der OberflŠche vollzogen.
  • Sie fŸhrten hšchstens dazu, da§ noch hartnŠckiger versucht wurde, die Welt mit Gewalt zu verŠndern, je nachdem, wer die Geheimnisse der Technik frŸher und vollkommener beherrschte, um sie in blutigen Kriegen oder unblutigen Handelskriegen einzusetzen.

  • Der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die Entwicklung der Produktion haben aber nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Sozialstruktur der Gesellschaft, BedŸrfnisse und Verbrauch, Lebens- und Denkweise der Menschen verŠndert.
  • Dies sicherlich nicht immer entsprechend den realen Erfordernissen einer normalen Entwicklung. Hier wirkte wiederum der Einflu§ der oberflŠchlichen Schicht, das konfrontative Wesen der politischen Kultur, der Egoismus der individualistischen Gesellschaft.

  • Die tiefer liegenden Prozesse im wissenschaftlich-technischen Bereich, die Computer- und Informatikrevolution haben vor allem dazu gefŸhrt, da§ der in der Natur unserer Zivilisation liegende Trend zur Internationalisierung und schlie§lich Globalisierung der Entwicklung sich in beschleunigtem Tempo realisierte.
  • Wir haben hier nur einige Momente erwŠhnt. Aber sie reichen aus, um festzustellen: Es ist offensichtlich, da§ die objektiven VerŠnderungen im Charakter der Zivilisation, die hier beschrieben wurden, in der TŠtigkeit der Menschen, d.h. auf dem Niveau der Politik, adŠquate Beachtung finden mŸssen. In der Regel ist das jedoch nicht geschehen.

    Als sich diese VerŠnderungen in der Vergangenheit noch bedeutend langsamer vollzogen und im wesentlichen auch lokal begrenzt waren, hatte der Widerspruch zwischen den beiden Schichten der Weltentwicklung noch keine katastrophalen Folgen. Da§ die Politik hinter der Entwicklung zurŸckblieb, konnte damals noch hingehen (obwohl es bereits negative Folgen hatte).

    Seit die in der Entwicklung der Zivilisation ablaufenden Prozesse sich jedoch in den letzten Jahrzehnten stark beschleunigt, wesentlich vertieft und wahrhaft globalen Charakter angenommen haben, hat sich die Lage verŠndert.

  • Es ist dringend notwendig geworden, neue Parameter der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und geistigen Entwicklung der Gesellschaft zu definieren, eine Politik zu erarbeiten, die den neuen Herausforderungen des Lebens entspricht. Auch das ist nicht geschehen.

So haben wir heute die Situation vor uns, da§ sich zwischen der objektiven Entwicklung und der Politik eine hšchst gefŠhrliche, nicht mehr akzeptable Kluft aufgetan hat. Mit der Zeit ist daraus ein Antagonismus entstanden, der die Welt zersprengen kann. Mit der Einstellung der Konfrontation und der Beendigung des Kalten Krieges trat eine teilweise Aufhebung dieses Widerspruches ein. Die gefŠhrlichste Katastrophe, der Atomkrieg, wurde abgewendet. Aber es ist, wie bereits gesagt,

  1. in der letzten Zeit eine RŸckwŠrtsbewegung zu beobachten - sicher nicht zum Atomkrieg, aber mšglicherweise zu neuen Spannungen.
  2. hat die Einstellung der Konfrontation lediglich die Lage der oberen Schicht der weltweiten Entwicklung in gewissem Ma§e normalisiert, dagegen die zweite, tiefer liegende Schicht praktisch nicht berŸhrt und keine Lšsung des Widerspruchs zwischen beiden gebracht.

[I.] UnfŠhigkeit der Politik
Die VerschŠrfung dieses Widerspruchs und die UnfŠhigkeit der Politik, die tiefen VerŠnderungen in den Grundlagen der menschlichen Existenz zu berŸcksichtigen, haben dazu gefŸhrt, was wir die Krise der modernen Zivilisation nennen. Die der Menschheit zur VerfŸgung stehenden Ressourcen sind nahezu erschšpft. Die herkšmmlichen Formen ihrer Entwicklung haben sich Ÿberlebt.

[II.] technogenen Entwicklung
Mit aller Deutlichkeit zeigt sich eine Krise des Modells der technogenen Entwicklung. Die heutige technische Zivilisation, die dem Menschen enorme Mšglichkeiten in die Hand gegeben hat, liegt zugleich einen Konflikt zwischen den Menschen und der Ÿbrigen Natur aus, der zu katastrophalen Folgen fŸhren kann.

[III.] Krise der Formen des gesellschaftlichen Lebens
Sichtbar ist weiterhin - und zwar Ÿberall - eine Krise der Formen des gesellschaftlichen Lebens. Selbst in demokratischen Systemen verlŠuft das politische Leben immer weniger demokratisch. Die WidersprŸche zwischen Mensch und Gesellschaft, zwischen Mensch und Macht werden nicht gelšst, sondern aufgestaut. Auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen nehmen die Spannungen zu. Wir beobachten weiterhin eine ernste Krise der internationalen Beziehungen, die den Erfordernissen der heutigen interdependenten Welt ganz eindeutig nicht mehr gerecht werden. Die aus der Vergangenheit Ÿberkommene politische Kultur bietet nicht die Mšglichkeit, da§ die Weltgemeinschaft ihre Anstrengungen in der notwendigen Weise auf die †berwindung der globalen Gefahren konzentriert.

[IV.] Eruptionen und unerwartee Krisen der Weltwirtschaft
Die Weltwirtschaft wird immer wieder von spontanen Eruptionen, von unerwarteten Krisen erschŸttert, die eine Bedrohung fŸr alle darstellen. Die Spannungen zwischen dem Norden und vielen Staaten des SŸdens nehmen neue, gefŠhrliche Formen an. Die Globalisierung der Wirtschaft im allgemeinen und der Finanzen im besonderen geht mit Versuchen einher, die Wirtschaft einzelner LŠnder zu destabilisieren. Es gibt Anzeichen dafŸr, da§ gewisse wirtschaftliche Zentren koordiniert vorgehen, um Ru§land an den Rand der Weltwirtschaft zu drŠngen und die Modernisierung Chinas aufzuhalten.

[V.] moralische Abstieg der Persšnlichkeit und der Gesellschaft
Eine deprimierende Erscheinung unserer Zeit ist der moralische Abstieg der Persšnlichkeit und der Gesellschaft, der zuweilen bereits tragische Ausma§e annimmt. Grundwerte der Moral gehen verloren. Der Terrorismus, die Verbreitung von organisiertem Verbrechen und Drogenhandel - all das sind Gefahren an sich, zugleich aber auch ein NŠhrboden fŸr die Kriminalisierung der Politik.

[VI.] Krise der Ideen
Schlie§lich ist eine Krise der Ideen zu beobachten. Die herrschenden Ideologien waren weder in der Lage, die VorgŠnge zu erklŠren, noch einen vernŸnftigen Weg aus dieser Situation zu weisen.

  • Mit einem Wort, wir haben eine globale, umfassende Krise vor uns. All das hat unsere Stiftung zu dem Schlu§ gefŸhrt: Der Ausweg aus der gegenwŠrtigen †bergangsperiode kann nicht nur in der Lšsung der heute aktuellen konkreten politischen Aufgaben gesucht werden, so wichtig sie auch sein mšgen. Notwendig ist zugleich (dieses Wort heben wir besonders hervor) ein wesentliches Vorankommen bei der Suche nach Antworten auf die neuen Herausforderungen zivilisatorischen, globalen Charakters.

Aus unserer Sicht kommt es darauf an, die Grundlagen der Existenz der menschlichen Gesellschaft neu zu durchdenken und zu verŠndern, die Krisenerscheinungen zu Ÿberwinden, die diese Grundlagen befallen haben. Unsere Stiftung stellt ihre eigene TŠtigkeit unter das Motto "Zu einer neuen Zivilisation".

NatŸrlich haben wir nicht im Sinn, eine neue Heilslehre zu erfinden oder ein umfassendes Modell zur Erneuerung der Welt vorzulegen. Das Leben hat eindeutig gezeigt, da§ derartige Rezepte und Modelle keinerlei Nutzen bringen. Ganz und gar inakzeptabel sind Versuche, der Gesellschaft mit Gewalt, selbst bei Strafe ihres Unterganges, gewisse kŸnstlich ausgedachte Konzeptionen aufzuzwingen.

  • Wenn wir den Weg zu einer neuen Zivilisation finden wollen, dann ist dies nur mšglich durch eine Analyse der realen Prozesse sowie der sich dabei zeigenden Tendenzen und Erfordernisse der Entwicklung. Es gilt zu bestimmen, welche dieser Tendenzen gefšrdert und welche gebremst werden mŸssen, welche Probleme dringender Ma§nahmen bedŸrfen und wo zielstrebige, aber lŠngerfristige Anstrengungen mšglich sind.
  • Davon ausgehend, gilt es zu klŠren, welche (politischen, wirtschaftlichen oder anderen) Instrumente angewandt oder vervollkommnet werden mŸssen. In allgemeinster Form (und ohne Einzelheiten vorwegnehmen zu wollen) ist fŸr uns offensichtlich:
  • Die Menschheit braucht eine Zivilisation der harmonischen oder zumindest nichtkonfrontativen Koexistenz des Menschen mit der Ÿbrigen Natur, eine Zivilisation der friedlichen und demokratischen gemeinsamen Entwicklung der Staaten, Všlker und Nationen. Und natŸrlich eine Zivilisation, die humaner und gŸtiger gegenŸber dem Menschen ist, die seine Rechte schŸtzt und ihm die Mšglichkeit gibt, sich allseitig zu entwickeln.

Die Errichtung einer solchen Zivilisation ist eine langfristige Aufgabe (die allerdings aus historischer Sicht keinen Aufschub duldet). Kaum jemand in der Welt ist heute jedoch zu den tiefgreifenden und grundlegenden VerŠnderungen bereit, die erforderlich wŠren, um eine solche Zivilisation zu entwickeln. Wenn die Dinge sich so verhalten, ist dann das Motto unserer Stiftung nicht reine Utopie? Nein! Aus jeder Situation gibt es einen Ausweg.

Ohne sofort umfassende VerŠnderungen anzustreben, kann man sich ihnen Schritt fŸr Schritt nŠhern, rasche Lšsungen dort finden, wo sie unabdingbar sind, Teillšsungen akzeptieren oder selbst halbe Schritte dort tun, wo mehr noch nicht mšglich ist. Sie werden die Felder der †bereinstimmung vergrš§ern und den Spielraum fŸr nachfolgende, gewichtigere Schritte erweitern.

Eindeutig inakzeptabel sind heute Schritte oder Ma§nahmen, die auf abrupte, revolutionŠre VerŠnderungen in bestimmten Bereichen der internationalen Beziehungen oder im inneren Leben der Staaten abzielen. In unserer zerbrechlichen und auf jŠhe Wendungen Šu§erst sensibel reagierenden Welt wŠre das der sichere Untergang. Evolution, Reformen, gut durchdachte Transformationen dŸrften das optimale Vorgehen und der richtige Kurs sein. Nach unserer Meinung kann mit der Anwendung der GrundsŠtze des Neuen Denkens durchaus ein schrittweises, aber stetiges Vorankommen gewŠhrleistet werden - bei Achtung der freien Wahl des Entwicklungsweges, ohne jemandes Interessen zu beeintrŠchtigen, ohne die EigenstŠndigkeit und Spezifik der nationalen oder regionalen Zivilisationen zu bedrohen.

Gebraucht werden heute neue Fragestellungen und neue Schlu§folgerungen. Vor allem gilt es, sich auf die Herausforderungen des neuen Jahrtausends zu konzentrieren, das bereits vor der TŸr steht. Denn es sind die Herausforderungen, die nicht nur die Fortexistenz der Menschheit, sondern allen Lebens auf der Erde an uns stellt:

Dies sind:

Man kann einwenden, das alles sei bekannt. Ja, es ist bekannt. An das Gerede von diesen Herausforderungen sind wir seit langem gewšhnt. Aber Gewšhnung stumpft die Wahrnehmung ab, schwŠcht das GespŸr fŸr eine drohende Gefahr. Gewšhnung hindert uns daran, nachzudenken und energisch zu handeln, um diese Gefahr zu bannen. Unter Politikern, zuweilen aber auch aus Kreisen der Wissenschaft wird zur DŠmpfung der Leidenschaften der Gedanke verbreitet, dies alles sei doch sehr Ÿbertrieben, die Dinge wŸrden von selbst ins Lot kommen. Auch bisher seien viele Prognosen nicht eingetroffen...

In Wirklichkeit ist die Fragestellung einfach bis zur BanalitŠt, zugleich aber von provozierendem Ernst. Sie lautet: Kšnnen wir uns den Herausforderungen der Zukunft entziehen?

Die Antwort ist fŸr alle, die sich tiefere Gedanken Ÿber die Zukunft machen, klar wie der Tag: Nein, diesen Herausforderungen, der Suche nach wirksamen Antworten kšnnten wir uns nicht entziehen. Wir haben nicht das Recht dazu. Denn sich ihnen zu entziehen hie§e, Ÿber kŸnftige Generationen das Todesurteil zu sprechen. Wir sind Ÿberzeugt, da§ die Menschheit die Herausforderungen der Zukunft bewŠltigen wird. Was ist dafŸr notwendig?

Wir wollen versuchen, auf diese Frage zu antworten, indem wir die genannten Herausforderungen nacheinander betrachten. Bei der Suche nach Antworten wollen wir sowohl die tiefer liegenden, zivilisatorische als auch die an der OberflŠche liegenden politischen, wirtschaftlichen und weitere Ebenen durchsuchen.


Version: 14.1.2017
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