Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis




Vorwort


Die VerŠnderungen, die in den letzten Jahrzehnten in der Weltpolitik vor sich gingen, sind in vielem auf das zurŸckzufŸhren, was wir Neues Denken nennen. Daran wird heute allerdings selten erinnert, besonders in Ru§land, wo es herkommt. Zuweilen stellt man sogar die Frage: Hat es das Neue Denken Ÿberhaupt gegeben? Und: Was ist das eigentlich? Eine au§enpolitische Konzeption, eine Anzahl politischer GrundsŠtze und moralischer Werte, eine Form von Ideologie oder vielleicht auch nur eine Art Propaganda im Dienste neuer Machthaber? Heute werden darŸber viele Urteile gefŠllte, die zutiefst ideologisch geprŠgt sind. Das kann man durchaus verstehen. In Ru§land und im Westen ist man gerade erst dabei, sich mŸhsam aus den Fesseln der Ideologien zu lšsen. †berall fŠllt es schwer, alte ideologische Klischees abzulegen.

Kritische Bewertungen lassen hŠufig genug enge tagespolitische oder egoistische Absichten erkennen. Manch einer will sich im nachhinein rehabilitieren und als allwissend darstellen. Er habe die Dinge kommen sehen und davor gewarnt, aber man habe nicht auf ihn gehšrt. Solche Besserwisser sind besonders heute hŠufig anzutreffen. Das ist kein ausgesprochen russischer, sondern ein allgemein menschlicher Zug. Hinterher sind alle klŸger. Die einen sind jedoch verantwortungsbewu§t genug, bei der Analyse des Vergangenen die jeweiligen ZeitumstŠnde zu berŸcksichtigen. Andere versuchen dagegen, ihre heutige Sicht der Probleme auf die allgemeine Zeit zu projizieren.

Als wir die Reformen im Bereich der internationalen Beziehungen konzipierten, bestand unser Hauptproblem in der Frage, wie wir es erreichen kšnnten, den Hšllenzug, der dem atomaren Abgrund entgegenraste, zum Stehen zu bringen, den Automatismus der Prozesse auszuschalten, die der Kalte Krieg in der von Konfrontation gespaltenen Welt ausgelšst hatte, und die KrŠfte und Ressourcen der Menschheit auf die Lšsung der angestauten enormen Probleme zu lenken. Dabei ging es uns nicht nur um unser Land. Es mu§te das maximal Mšgliche getan werden, um die BemŸhungen der ganzen Menschheit zu vereinigen und sich den globalen Herausforderungen zu stellen, mit denen sie konfrontiert war. Wir sahen in der Perestroika nicht nur eine Chance, die Krise in unserem Land zu Ÿberwinden, sondern zugleich auch unseren Beitrag zu leisten, um die atomare Gefahr von unserem Planeten abzuwenden und uns an der weltweiten Suche nach adŠquaten Antworten auf die globalen Herausforderungen zu beteiligen.

Der Aufbau neuartiger internationaler Beziehungen war und  bleibt ein schwieriger, widersprŸchlicher Proze§. Mšglicherweise bewegt er sich heute nicht in der notwendigen Richtung. NatŸrlich hatte niemand die Vorstellung, da§ die Dinge geradlinig verlaufen. Aber heute mu§ besorgt stimmen, da§ man die Welt, die bereits, wie es schien, auf dem Wege von der Konfrontation zur Vereinigung war, erneut auf einen gefŠhrlichen Kurs zu drŠngen versucht. Diese Tendenz, die bereits in der praktischen Politik zu erkennen ist, fŸhrt zu erneuter Spaltung und neuer Konfrontation. Dies zeigt, da§ es an einer neuen Politik fehlt, die den Aufgaben gerecht wird, vor denen die Welt in dieser Zeit des Umbruchs steht. Die Verantwortung der Weltpolitik wŠchst mit jedem Tag. Gefordert ist eine neue, hšhere QualitŠt.

Was stellt das Neue Denken aus heutiger Sicht dar? War es zeitlich begrenzt? Ist die Zeit abgelaufen, die ihm die Geschichte zugemessen hat? Oder eignete es sich nur fŸr die Beendigung der globalen Konfrontation und ist daher fŸr die Lšsung der Probleme der heutigen, všllig neuen Situation nicht mehr brauchbar? Alle diese Fragen zu klŠren ist das erste Ziel dieses Buches.

Das Neue Denken ist kein Patentrezept und keine abgeschlossene Konzeption. Es ist von seinem ganzen Wesen her darauf angelegt. alle neuen Fragen aufzunehmen, mit denen die Welt sich konfrontiert sieht. Auch nach Beendigung der Perestroika ist die Entwicklung des Neuen Denkens nicht zum Stillstand gekommen. Was ist in den Jahren seit 1991 an Neuem dazugekommen? Dies zusammenfassend darzulegen, ist das zweite Ziel, das sich die Verfasser gesetzt haben.



Die UrsprŸnge


Das Neue Denken entstand nicht aus abstrakten †berlegungen, die zu einem lebensfremden Modell fŸhrten. Nein, es verdankt seine Geburt vor allem einer kritischen Neubewertung der damaligen internationalen Situation sowie der Stellung unseres Landes in der Welt und seiner Politik. Diesen Fragenkreis tief zu durchdenken war einfach nicht mehr zu umgehen.

Mitte der achtziger Jahre befand sich die Welt in einer Sackgasse, aus der niemand einen Ausweg sah. Die Ost-West- Konfrontation schien fŸr die Ewigkeit gemacht. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs stellte man sich darauf ein. Niemand wollte den Atomkrieg, aber keiner konnte garantieren, da§ er nicht doch eines Tages ausgelšst werden wŸrde, und es es durch einen unglŸcklichen Zufall.

Die UdSSR und die USA, die Staaten in Ost und West hatten einander fest im Visier. Atomare und konventionelle Waffen weiterzuentwickeln und anzuhŠufen gehšrte zum Alltag des internationalen Lebens. Europa war zu einem wahren atomaren Aufmarschgebiet geworden, das man Jahr um Jahr, Monat und Monat mit immer mehr Raketen verschiedener StŠrke und Reichweite vollstopfte. Auf den Meeren und Ozeanen wimmelte es von RaketentrŠgern Ÿber und unter Wasser. Nicht nur der Luftraum, selbst der Kosmos war in die Konfrontation einbezogen. In Asien, Afrika und Lateinamerika tobten regionale Konflikte.

Eines war offensichtlich: So konnte es nicht mehr weitergehen. Der rasenden Fahrt in den Abgrund mu§te Einhalt geboten werden. Die Krisensituation, die zu jener Zeit in der Sowjetunion entstanden war, forderte entschiedene Ma§nahmen in allen Bereichen, eine neue QualitŠt der Innenpolitik in Theorie und Praxis. Zugleich war klar, da§ die Lšsung der ŸberfŠlligen Aufgaben im Inneren des Landes wesentlich komplizierter oder ganz und gar unmšglich sein wŸrde, wenn es nicht gelang, die internationale Lage grundlegend oder zumindest spŸrbar zu verŠndern, den Kalten Krieg einzudŠmmen. Es war also dringend notwendig, sich den au§enpolitischen Problemen intensiv zuzuwenden.

Worum ging es? Es ging darum, den Platz der Sowjetunion in der Weltpolitik auf neue Weise und ohne jeden Vorbehalt einzuschŠtzen, die wirklichen nationalen Interessen, die realen Parameter und Imperative ihrer Sicherheit zu definieren, den Zustand der Weltgemeinschaft sowie ihre HauptkrŠfte und Entwicklungstendenzen nŸchtern zu analysieren und schlie§lich auf dieser Grundlage ein abgewogenes Programm konkreter Aktionen in den Hauptbereichen der au§enpolitischen Praxis zu erarbeiten.

Zu all diesen Frage hatte es auch vor Beginn der Perestroika †berlegungen gegeben. Als man Anfang der achtziger Jahre die herangereiften Probleme in der Sowjetunion zu untersuchen begann, widmete man auch dem internationalen Bereich gro§e Aufmerksamkeit. Umfangreiches, interessantes Material kam aus den Forschungszentren (z.B. dem Institut fŸr Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen, dem Institut fŸr die USA und Kanada, dem Institut fŸr die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems u.a.). Einzelne Wissenschaftler und Fachleute der Au§enpolitik steuerten ihre †berlegungen bei.

Man kann nicht sagen, da§ die gesamte Au§enpolitik der Sowjetunion bis zu diesem Zeitpunkt falsch gewesen wŠre. Das gilt vor allem fŸr die praktische TŠtigkeit unserer Diplomaten, die solide Arbeit leisteten. Das erste "Tauwetter" in den internationalen Beziehungen Mitte der fŸnfziger Jahre oder die Entspannung in der ersten HŠlfte der siebziger Jahre waren FrŸchte dieser Arbeit, die noch heute Respekt verdienen. Auch an anderen Abschnitten der diplomatischen "Front" wurden zumindest Teilerfolge erzielt. Aber insgesamt standen Mitte der achtziger Jahre die Ergebnisse in keinem VerhŠltnis zum Aufwand und zu den Erfordernissen, vor denen unser Land und die Welt standen. Im Grunde genommen waren die Beziehungen der Sowjetunion zu faktisch allen Staaten der nichtsozialistischen Welt von Spannungen belastet. Eine direkte Kriegsgefahr bestand nicht, zu einer Aggression war es bisher nicht genommen, aber die Gesamtsituation verschlechterte sich weiter.

In dieses Bild pa§ten der Krieg in Afghanistan, das komplizierte VerhŠltnis zu unserem gro§en Nachbarn China, da nun bereits mehrere Jahrzehnte bestand, und der anhaltende Wettlauf mit dem Westen bei der Bewaffnung vieler Staaten Asiens und Afrikas, der NebenschauplŠtze des Kalten Krieges. Die Sicherheit unseres Landes war bei alldem nicht stabiler geworden. Dabei wurden fŸr die RŸstungsproduktion unmŠ§ig hohe Summen ausgegeben. Das Streben, allen potentiellen Gegnern militŠrisch Ÿberlegen zu sein (dieses Ziel setzte man sich tatsŠchlich), fŸhrte dazu, da§ die MilitŠrausgaben innerhalb von wenigen Jahren 25 bis 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichten. Das war das FŸnf- bis Sechsfache dessen, was die europŠischen NATO-Staaten fŸr diese Zwecke aufwendeten. Diese Belastung ruinierte unser Land.

Das Problem lag nicht so sehr in der sowjetischen Au§enpolitik, in der TŠtigkeit der sowjetischen Diplomaten, sondern vielmehr in den Konzeptionen, auf denen diese Politik beruhte. Diese gingen von weltanschaulichen Dogmen aus, nicht aber von den RealitŠten, einer nŸchternen Situationsanalyse und der Notwendigkeit, die realen Lebensinteressen unseres Landes und unseres Volkes zu sichern. Diese Konzeptionen errichteten die Au§enpolitik aus auf eine harte Konfrontation und die Isolierung der Sowjetunion von der Au§enwelt. Ausgenommen waren lediglich jene Staaten, die man als unsere VerbŸndeten betrachtete. Aber sie nahmen in unserer au§enpolitischen Doktrin eher eine untergeordnete Stellung ein. Das war das au§enpolitische Erbe des Totalitarismus. Wo dieser auch immer entstehen und in welches Kleid er sich auch hŸllen mag, er ist undenkbar ohne ein rigides ideologisches und politisches System, ohne eine Sammlung von Klischees, die die Wirklichkeit entstellen und einem einzigen Ziel dienen: das Regime zu stabilisieren und einen entsprechenden Untertanengeist zu erzeugen.

Die erste starke Triebkraft und damit auch die erste Quelle des Neuen Denken war eine unvoreingenommene, gnadenlose Analyse unserer eigenen au§enpolitischen Konzeptionen und der Praxis, die sie hervorgebracht hatten. Mit anderen Worten, es ging darum, unser eigenes alten Denken umzukrempeln. Diese Analyse war keine einfache Sache. Weshalb? Weil die au§enpolitischen Konzeptionen der Sowjetzeit von den herrschenden ideologischen Postulaten vorbestimmt waren. Eine VerŠnderung der au§enpolitischen Konzeptionen machte es erforderlich, diese Postulate zu revidieren und somit die tief verankerten Grundlagen des gesamten Systems der herrschenden Ideologie in Frage zu stellen.

Vor dieser Schwierigkeit standen vor allem diejenigen, die die VerŠnderung der bestehenden Auffassungen in Angriff nahmen. Denn auch sie waren Kinder ihrer Zeit. Von klein auf, bereits in der Schule, hatten sie die Grundlagen der offiziellen Ideologie in sich aufgenommen. Zwar hatten auch sie den XX. Parteitag der KPdSU erlegt und waren von den EnthŸllungen Ÿber den Stalinismus, die dort aus dem Munde Nikita Chruschtschows erklangen, tief erschŸttert. SpŠter nannte man diese Generation die "Sechziger". Aber in den fŸnfziger Jahren wurden die ideologischen Fesseln bei weitem nicht vollstŠndig abgeworfen. Diejenigen, die den Proze§ der Befreiung von den alten Auffassungen auslšsten und vorantrieben, hatten vor allem mit sich selbst und ihrem eigenen Bewu§tsein einen Kampf auszufechten.

Andererseits waren auch Šu§ere Schwierigkeiten zu Ÿberwinden. Die Gesellschaft als Ganzes, darunter der grš§te Teil der Nomenklatura, konnte die neuen GedankengŠnge kaum akzeptieren. Viele sahen darin unerlaubte Ketzerei, die eine nahezu všllige Selbstaufgabe von ihnen forderte. "WofŸr haben wir gekŠmpft?" fragten viele, die bisher ehrlich gearbeitet und gelebt hatten, ohne sich Ÿber den Sinn der offiziellen Postulate tiefere Gedanken zu machen. Es brauchte Zeit, Ÿberzeugende, logische ErklŠrungen sowie Beweise fŸr den praktischen Nutzen des neuen Vorgehens, damit die Menschen, die BŸrger unseres Landes die neuen Ideen begriffen und annahmen. Wie heute leicht zu erkennen ist, hat ein bestimmter Teil von ihnen sie allerdings niemals wirklich verstanden oder akzeptiert.

Die zweite Triebkraft und damit die zweite Quelle des Neuen Denkens war eine tiefgehende Analyse der Weltpolitik, der Mittel und Methoden ihrer Realisierung. Hier ging es um die †berwindung eines alten Denkens, das nicht nur Ergebnis der sowjetischen Geschichte, sondern der gesamten Weltgeschichte ist, eines Denkens, das auch wir uns vollstŠndig zu eigen gemacht haben. Dieses betraf vor allem die Rolle der Gewalt, der militŠrischen Gewalt, des Krieges als ein gewohntes Mittel nicht nur zur Verteidigung des eigenen Staates, sondern auch zur Durchsetzung seiner politischen Ziele.

Das Všlkerrecht erkannte Kriege seit jeher als rechtmŠ§ig an. Allerdings wurden seit der zweiten HŠlfte des 19. Jahrhunderts bestimmte juristische BeschrŠnkungen eingefŸhrt, um die Folgen der Kriege fŸr die Zivilbevšlkerung zu mildern. So fŸhrte man zum Beispiel Regeln fŸr die Behandlung von Kriegsgefangenen ein. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Einsatz chemischer Waffen verboten. Es gab auch Versuche, den Wettlauf bei der Entwicklung anderer Waffenarten zu bremsen. Das alles aber Šnderte nichts an dem Grundsatz, da§ Krieg allgemein als ein "legitimes" Mittel der Politik galt.

Als die Atomwaffe auf der BildflŠche erschien, Šnderte das die Situation grundlegend. Die Menschheit hatte eine Waffe geschaffen, mit deren Hilfe sie kollektiven Selbstmord begehen konnte. Das hŠtte sie eigentlich dazu veranlassen mŸssen, ihr bisheriges Verhalten aufzugeben. Das ist aber bekanntlich nicht geschehen. Im Gegenteil, bis Ende der sechziger Jahre tobte das WettrŸsten vor allem im Bereich der Atomwaffen. Die MilitŠrdoktrinen aller Staaten, die Ÿber Atom- und Wasserstoffwaffen verfŸgten, sowie der MilitŠrblšcke, denen diese Staaten angehšrten, beruhten im Grunde genommen auf Szenarien, die den Einsatz von Atomwaffen oder zumindest die Drohung damit beinhalteten. 

Ein wachsender Teil der Weltšffentlichkeit, vor allem die Wissenschaft, schlug Alarm und forderte, den atomaren Holocaust auszuschlie§en. In den sechziger Jahren wurden einige einschrŠnkende Schritte getan - so kam es zum Vertrag Ÿber das Verbot von Atomwaffenversuchen in der AtmosphŠre, im Weltraum und unter Wasser, danach zum Vertrag Ÿber die Nichtweiterverbreitung dieser Waffen. Zudem wurden Abkommen geschlossen, die  BeschrŠnkungen oder Verbote fŸr andere Massenvernichtungsmittel (chemische, biologische Waffen u.a.).  vorsahen. All das hielt den Wettlauf bei der Produktion und der Weiterentwicklung von Atomwaffen jedoch nicht auf. Insgeheim gingen auch die Produktion und die AnhŠufung jener Massenvernichtungswaffen weiter, fŸr die Verbote oder BeschrŠnkungen galten. Forschungen von Wissenschaftlern vor allem aus der Sowjetunion und den USA  wŠhrend der siebziger und achtziger Jahre zeigten anschaulich, was die Menschheit erwartete, sollte es zu einem atomaren Inferno kommen. Besonders aufrŸttelnd wirkte das von ihnen entdeckte PhŠnomen eines mšglichen "atomaren Winters". All das bewies eindeutig, da§ eine tiefgreifende VerŠnderung der grundsŠtzlichen Haltung der Staaten sowie ihres praktischen VerhŠltnisses zur Politik und zu deren Mitteln erforderlich war, vor allem ein Verzicht auf Gewalt, die das Leben von Millionen Menschen vernichteten, wenn nicht gar den Untergang der ganzen Menschheit heraufbeschwšren konnte.

Auch diese Wende - das war klar - war nicht leicht zu vollziehen, vor allem wegen der historischen Traditionen, die sich unter den neuen Bedingungen Ÿberlebt hatten, aber im Bewu§tsein der Menschen und in der Politik noch tief  verwurzelt waren; au§erdem wegen des allgemeinen Zustands des Ost-West-VerhŠltnisse, wie es sich im Kalten Krieg herausgebildet hatte: des gegenseitigen Mi§trauens und der Vorstellung, da§ jeder, der meinen eigenen  Standpunkt nicht teilte, ein Feind war, von dem permanent tšdliche Gefahr ausging; schlie§lich wegen der  materiellen und politischen Interessen derjenigen, die sich an der Produktion von Massenvernichtungswaffen und Waffen Ÿberhaupt bereicherten sowie jener, die in der RŸstung ein probates Mittel zur Sicherung der eigenen †berlegenheit, ein Werkzeug hegemonialer Politik sahen.

Aber eine Wende war hier zu einem Imperativ der Zeit geworden. Eine dritte Triebkraft und Quelle des Neuen Denkens war schlie§lich die Analyse der tiefgreifenden VerŠnderungen, die sich wŠhrend der Jahrzehnte seit dem Zweiten  Weltkrieg in den tragenden Grundlagen des Lebens auf der Erde vollzogen hatten. Dazu zŠhlen die VerŠnderungen  in der technischen Basis der Wirtschaft, die stŸrmische Entwicklung der Computertechnik, die neue KanŠle und zusŠtzliche Mšglichkeiten fŸr den weltweiten Austausch von Informationen schuf, das Aufkommen neuer  Transportmittel - all das verŠnderte die Beziehungen zwischen den Staaten und Všlkern auf wahrhaft revolutionŠre Weise. Eine Weltwirtschaft, die diesen Namen verdient, und weltweite RŠume fŸr Informationen und Kultur wurden nun nach und nach Wirklichkeit. 

Dieser Wandel fand jedoch im Zustand der internationalen Beziehungen und in der Politik der Staaten im Grunde genommen keinen Niederschlag. Und wenn es doch geschah, dann hšchst einseitig: Vor allem die Gro§mŠchte  nutzten die neuen Mšglichkeiten intensiv, um kleinere und weniger entwickelte Staaten auszubeuten. Die  Interdependenz wurde zur Waffe in den HŠnden derer, die einen hegemonialen Kurs in der Weltpolitik durchzusetzen versuchten. 

Die genannten VerŠnderungen erforderten eindeutig ein neues Verhalten. Mehr noch, wenn man sie nicht ins KalkŸl zog, war das alte Denken auch in anderen Bereichen nicht zu Ÿberwinden. Denn das Begreifen und Beherrschen der VerŠnderungen erforderte einerseits, die alten hinderlichen Dogmen und Klischees abzuwerfen (und das nicht nur von unserer Seite, sondern auch seitens der Staaten des Westens und der EntwicklungslŠnder); andererseits wurde mit dem Entstehen einer einheitlichen Welt die Anwendung von Gewalt als Methode und Mittel der Politik noch  gefŠhrlicher, vor allem, wenn es sich um atomare und andere Massenvernichtungswaffen handelte.

Mit anderen Worten, alles hing miteinander zusammen, alle Probleme - die nationalen und die globalen - waren zu einem Knoten geschŸrzt, der entwirrt werden mu§te, wenn wir unsere nationalen Interessen (die darin letztlich mit den Interessen aller Staaten der Weltgemeinschaft Ÿbereinstimmten) realisieren und das †berleben des Menschengeschlechts sichern wollten.

Bei der Analyse dieser herangereiften Fragen in ihrer Gesamtheit war die sowjetische FŸhrung bestrebt, die  Forschungsergebnisse der internationalen Wissenschaft sowie die Erfahrungen der Kulturgemeinschaft zu nutzen. Auch das war etwas Neues, Ungewohntes. Denn bis Mitte der achtziger Jahre galten derartige Arbeiten in unserem Land in ihrer Mehrzahl als feindlich, falsch und inakzeptabel.

Von der Stalinzeit wollen wir hier gar nicht reden, da Genetik, Kybernetik, Politologie, Geopolitik und andere  Disziplinen in unserem Land zu "bŸrgerlichen Pseudowissenschaften" erklŠrt wurden, was zu gro§en RŸckstŠnden in diesen Bereichen von Wissenschaft und Technik - und nicht nur dort - fŸhrte. Aber auch nach dem  Chruschtschowschen "Tauwetter" und selbst nach der Entspannung der siebziger Jahre wurden Ideen von  Andersdenkenden (auch in der Wissenschaft, erst recht im politischen Bereich) rundweg abgelehnt. 

Nicht mit einem Mal, sondern nach und nach kehrten in den Jahren der Perestroika die interessanten Ideen von Wissenschaftlern und Politikern, die Werke der gro§en Schriftsteller und Dichter an uns zurŸck, die man bis dahin dem Vergessen anheimgegeben hatte. Zur internationalen Wissenschaft, zur Weltkultur, zu den riesigen Ideenspeichern der Welt war nun wieder lebendiger Kontakt vorhanden. Nicht zufŠllig fanden seit den ersten Jahren der Perestroika regelmŠ§ig Treffen der FŸhrung unseres Landes mit bedeutenden Wissenschaftlern und KŸnstlern, mit Politikern der verschiedenen Richtungen und Auffassungen statt. Dies schuf die Mšglichkeit, das internationale Geistesleben besser kennenzulernen, tiefer in Sinn und Wesen neuer Ideen und neuer Situationen einzudringen. Auf diese Weise erfuhren auch unsere eigenen Vorstellungen von unserer Umwelt, unsere theoretischen  Verallgemeinerungen Ÿber die Weltlage und ihre Entwicklungsperspektiven eine Bereicherung. Zugleich erhielten wir dadurch wesentlich grš§ere Mšglichkeiten, praktische Schlu§folgerungen fŸr die Innen- und Au§enpolitik zu ziehen.

Zu den VorlŠufern und in gewissem Ma§e auch Urhebern des Neuen Denkens sind deshalb so bedeutende russische Wissenschaftler zu zŠhlen wie Wladimir Wernadski, Pjotr Kapiza und Andrej Sacharow, dazu Denker wie Albert Einstein, Bertrand Russell, Giorgio La Pira und viele, viele andere. Hier ergibt sich eine Frage, die hŠufig auch hšrbar gestellt wird: Ist in der Sowjetunion bis zur Perestroika niemandem der Gedanke gekommen, da§ in Theorie und Praxis der Au§enpolitik VerŠnderungen erforderlich waren?

Solche Gedanken gab es natŸrlich. Die Vergangenheit ist lŠngst noch nicht in allen Einzelheiten bekannt, aber nach den vorhandenen Informationen gab es bereits in Stalins letzten Lebensjahren eine gewisse Sorge Ÿber den Verlauf der Entwicklung und Anzeichen fŸr den Wunsch, im au§enpolitischen Bereich etwas zu verŠndern.

Nach Stalins Tod kam es zu einem Wandel, dem ersten "Tauwetter" in den Jahren des Kalten Krieges. Die Beziehungen zu vielen Staaten wurden normalisiert, erste Gipfeltreffen fanden statt, und die ersten internationalen VertrŠge wurden unterzeichnet, die eine Verbesserung des allgemeinen internationalen Klimas brachten. In jenen Jahren ging der  Koreakrieg und bald darauf der erste Indochinakrieg zu Ende. All das war allerdings nicht von langer Dauer. Die Ungarnkrise und der Krieg am Suezkanal beendeten diese Tendenz wieder.

Auch waren die damaligen Versuche, VerŠnderungen herbeizufŸhren, bei weitem nicht konsequent, und sie waren umstritten. So erklŠrte Georgi Malenkow auf einer WŠhlerversammlung in Moskau, die Politik des Kalten Krieges sei "eine Politik der Vorbereitung eines neuen Weltkrieges, der angesichts der heutigen Mittel der KriegsfŸhrung zum  Untergang der Weltzivilisation" fŸhren wŸrde. Diese Äu§erung fand jedoch keine UnterstŸtzung, sondern wurde offiziell verurteilt. Auf der Plenartagung des ZK der KPdSU im Januar 1955 sagte Wjatscheslaw Molotow, ein  Kommunist sollte nicht vom "Untergang der Weltzivilisation" und auch nicht vom "Untergang des Menschengeschlechts" sprechen, sondern darauf abzielen, "alle KrŠfte fŸr den Untergang der Bourgeoisie vorzubereiten und zu mobilisieren".  Nikita Chruschtschow nahm einige Zeit spŠter (unter dem Einflu§ der internationalen Entwicklung) eine Position ein, die der von Malenkow Šhnelte. Auf sein DrŠngen hin wurde in offiziellen Dokumenten der KPdSU und des  Sowjetstaates formuliert, da§ die friedliche Koexistenz die Generallinie der sowjetischen Au§enpolitik sei. Aber als Chruschtschow 1964 vom Pfosten des Ersten SekretŠrs des ZK der KPdSU abgesetzt wurde, lie§ man diese Formel wieder fallen. An ihre Stelle trat eine andere, die die Grundlagen der sowjetischen Au§enpolitik auf den Stand vom Anfang der fŸnfziger Jahres zurŸckwarf.

Auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU im Jahre 1971 wurden dann noch einmal ein zwar nicht revolutionŠrer, aber doch ernstzunehmender Versuch unternommen, die sowjetische Au§enpolitik, insbesondere das praktische Vorgehen,  zu korrigieren. Der Parteitag beschlo§ ein Friedensprogramm, das einige vernŸnftige und notwendige VorschlŠge enthielt, die vor allem die Atomkriegsgefahr reduzieren sollten. Allerdings wurde dieses Programm unter anderem deshalb beschlossen, weil die Sowjetunion in den vorausgegangenen Jahren einige au§enpolitische Aktionen durchgefŸhrt hatte, die ihr weder Einflu§ noch Ansehen einbrachten (sie hatte den "Prager FrŸhling" niedergeschlagen und eine gro§e Anzahl neuer Mittelstreckenraketen in Europa stationiert, ohne bestehende Verhandlungsmšglichkeiten fŸr die Lšsung des Problems auszuschšpfen). Die in dem Friedensprogramm vorgesehenen Schritte verliefen in der Praxis bald aber wieder im Sande. Mit der sowjetischen Intervention in Afghanistan wurden fŸr lange Zeit alle Mšglichkeiten zunichte gemacht, die Lage zum Besseren zu wenden. Mit dieser Aktion lebte faktisch der Kalte Krieg in einer noch gefŠhrlicheren Variante wieder auf.

Versuche, die sowjetische Au§enpolitik unter BerŸcksichtigung wenigstens eines Teils der RealitŠten in der Welt zu prŠzisieren und zu modernisieren, gab es also durchaus. Aber sie waren oberflŠchlich und inkonsequent, vor allem kam es nicht zu den notwendigen VerŠnderungen in der Konzeption und bei den Grundprinzipien der Au§enpolitik.

Von der Notwendigkeit solcher VerŠnderungen war, wenn auch nur in allgemeinster Form, im Dezember 1984 in  London die Rede, als eine sowjetische Parlamentsdelegation Gro§britannien besuchte. In den dort gehaltenen  Reden hie§ es, da§ das Atomzeitalter gebieterisch ein neues politisches Denken erforderte. In unserer Zeit sei es aber wie niemals zuvor notwendig, einen konstruktiven Dialog zu fŸhren, nach Lšsungen fŸr die internationalen SchlŸsselprobleme zu suchen, Felder der †bereinstimmung zu ermitteln, was dazu fŸhren kšnnte, da§ das Vertrauen zwischen den Staaten gefestigt wird und in den internationalen Beziehungen ein Klima entsteht, das frei von atomarer Bedrohung, Argwohn, Mi§gunst, Angst und Feindseligkeit ist. Man mŸsse Schritt fŸr Schritt lernen, angesichts der RealitŠten der modernen Welt, die sich nach ihren eigenen Gesetzen verŠndern, zusammenzuleben. Das war ein recht klarer, eindeutiger Anspruch. Aber die Umsetzung dieser Ideen wurde erst mšglich, als im MŠrz 1985 eineneue FŸhrung der Sowjetunion gewŠhlt wurde, die bewu§t Kurs auf tiefgreifende VerŠnderungen nahm.




Version: 14.1.2017
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