Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis

Die Weltordnung im †bergang

Die Beendigung des Kalten Krieges und der militŠrischen Konfrontation der beiden Blšcke, die EindŠmmung des WettrŸstens bis hin zur vollen Einstellung in einigen Bereichen, die Normalisierung des internationalen Lebens - all das eršffnete neue Horizonte.

Es schien, als bestŸnde die Chance, ein neues System der internationalen Beziehungen auf der Grundlage gleichberechtigter Zusammenarbeit aufzubauen. Dieses konnte natŸrlich eine gewisse RivalitŠt und Interessenkonflikte nicht ausschlie§en, versprach aber die Mšglichkeit, alle wichtigen Probleme ausschlie§lich mit zivilisierten politischen Mitteln zu lšsen.

Eine neue AtmosphŠre schien auch fŸr die Entwicklung der Wirtschaft im nationalen und internationalen Rahmen zu entstehen, die eine †berwindung ihrer bereits weit vorangeschrittenen Militarisierung durch Konversion versprach. Die frei werdenden Mittel hŠtten fŸr die Lšsung akuter Probleme der globalen Entwicklung, beispielsweise fŸr die Lšsung akuter Probleme der weltweiten Kluft zwischen Nord und SŸd, eingesetzt werden kšnnen. AllmŠhlich entstanden Voraussetzungen fŸr einen wirklich freien und offenen, in jedem Falle aber wesentlich breiteren Austausch kultureller Werte.

Kurz gesagt, die neue Situation eršffnete allen Staaten den Weg zu einer wahrhaft friedlichen Entwicklung. Man kann sicher sagen, da§ diese Chancen in einigen Bereichen jene bedeutend Ÿbertrafen, die nach 1945 bestanden, damals aber versŠumt wurden.

In der Nachkriegszeit blieb die Spaltung der Welt in zwei gesellschaftliche Systeme erhalten. Der aus den ideologischen Dogmen beider Seiten gespeiste Kalte Krieg vertiefte die Spaltung bis hin zu tšdlicher Gefahr. Heute dagegen erkennen nahezu alle Staaten der Welt gleiche Prinzipien als grundlegend fŸr ihre Entwicklung an - Marktwirtschaft, eine pluralistische parlamentarische Demokratie u.a. Wenn diese Prinzipien in den einzelnen LŠndern auch auf unterschiedliche Weise realisiert werden, so wird allein die Tatsache, da§ alle sich an ihnen orientieren, eine normale Entwicklung der weltweiten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen erleichtern. Im Jahre 1945 war der deutsche Faschismus zwar zerschlagen, aber in einigen LŠndern, angefangen mit der Sowjetunion, blieben totalitŠre Regime bestehen. In unserer Zeit ist gerade der Zusammenbruch derartiger Regime ein wesentliches Merkmal der weltweiten politischen Entwicklung.

1945 war der Zweite Weltkrieg zwar beendet, aber in einigen Regionen wurden Kriege fortgesetzt oder wieder aufgenommen. An einigen waren sogar Gro§mŠchte beteiligt. Zahlreiche regionale Konfliktherde entstanden. Als die Konfrontation zu Ende ging, wurde dagegen mit der Liquidierung derartiger Herde begonnen, die zumindest in der Anfangsphase vielversprechend vorankam.

Nicht zufŠllig hat die Idee, eine neue Weltordnung ohne Krieg und Konfrontation zu schaffen, die auf der friedlichen Koexistenz aller Staaten beruht, nach 1989 in der Welt weite Verbreitung gefunden. Seitdem sind Ÿber sechs Jahre vergangen. An die Stelle der Euphorie von 1989/90 ist offener Pessimismus getreten. Die neue Weltordnung wird vielfach als Mythos oder Utopie angesehen. Was ist geschehen?

Als Antwort auf diese Frage werden verschiedene GrŸnde ins Feld gefŸhrt.

Probleme, die die Konfrontation Ÿberlagerten oder in den Hintergrund rŸckten, liegen nun offen zutage. Neue Spannungsherde sind entstanden. Die Politiker wurden mit neuen Aufgaben konfrontiert, die niemand zu lšsen vermochte, weil man auf sie nicht vorbereitet war.

Die geopolitische Karte der Welt hat sich wesentlich verŠndert. die Blockkonfrontation ist eingestellt, der Warschauer Vertrag hat sich selbst aufgelšst, viele neue unabhŠngige Staaten sind entstanden. All das hat dazu gefŸhrt, da§ die bipolare Struktur der Weltgemeinschaft verschwunden ist. Die Welt ist wahrhaft pluralistisch geworden. Sie hat die alte Beziehungsstruktur verloren, die zwar grundsŠtzlich negativ war, aber die Welt organisierte und zusammenhielt. Die Staaten sind von der allgegenwŠrtigen Gefahr eines Atomkrieges befreit, sie haben die Blockdisziplin der Zeit des Kalten Krieges abgeworfen. Das hat allen gro§e Handlungsfreiheit gebracht. Jeder Staat sucht seinen Platz in der sich verŠndernden Welt und ist dabei, seine Interessen neu zu bestimmen.

Zu diesen Faktoren geopolitischer VerŠnderungen mu§ ein weiterer hinzugefŸgt werden - der Zerfall der Sowjetunion. Ihr Verschwinden hat die gesamte Beziehungsgeometrie verŠndert - vor allem in Europa, aber bei weitem nicht nur dort. Ein bedeutsames Gegengewicht gegen jeglichen Hegemonismus, das die Sowjetunion in den Jahren der Perestroika geworden ist, ist verschwunden. Damit hat jeder, der egoistische PlŠne verfolgt, wesentlich grš§eren Spielraum erhalten. Die Welt ist unberechenbarer, in ihrer Entwicklung schwerer bestimmbar geworden. Die anstelle der Sowjetunion entstandenen unabhŠngigen Staaten, einschlie§lich Ru§land, sind heute Gegenstand eigensŸchtiger PlŠne und Kalkulationen der Gro§mŠchte. Das zeigte sich bereits unmittelbar nach den BeschlŸssen von Beloweschskaja Puschtscha Ÿber die Auflšsung der Union. Eine Jagd auf das Erbe der Sowjetunion setzte ein. Sie zeigte sich insbesondere in der selektiven Politik des Westens gegenŸber den neuen Staaten. Der Zerfall der UdSSR trug dazu bei, da§ nationalistische, zentrifugale KrŠfte in Europa und anderen Regionen Auftrieb erhielten. Die Politik des Westens war eine faktische Ermutigung dieser KrŠfte - angefangen mit der Ÿbereilten Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, die den Zerfall Ex-Jugoslawiens beschleunigte und jede Mšglichkeit zunichte machte, die ehemaligen Mitglieder der jugoslawischen Fšderation friedlich zu "scheiden", wenn dies generell nicht zu umgehen war.

Diese Prozesse und Ereignisse brachten ohne Zweifel eine wesentliche Komplizierung der internationalen Situation mit sich. Das ist aber nach unserer Meinung nicht die Hauptsache. Die Hauptsache liegt darin, da§ die Politik und die Politiker - im nationalen und internationalen Rahmen - sich als unfŠhig erwiesen, diese Prozesse vorauszusehen oder gar AktionsplŠne in Gang zu setzen, um deren negative Folgen zu neutralisieren und einen normalen, flie§enden †bergang zu den neuen Beziehungen, zu der neuen Weltordnung zu ermšglichen, Ÿber die man so viele Worte gemacht hatte.

Hier erhebt sich unweigerlich die Frage: Waren die Politik und die Politiker wirklich nur unfŠhig, eine solche neue Politik zu definieren oder hatten einige (vielleicht auch viele) gar nicht die Absicht, dies zu tun?

Stellen wir die Frage anders. Bestand nach Beendigung des Kalten Krieges die reale Mšglichkeit, zu einer neuen Weltordnung zu gelangen? In der Regel wird diese Frage zustimmend beantwortet. Ist das nicht etwas Ÿbertrieben? FŸr uns gibt es keinen Zweifel, da§ die objektiven Voraussetzungen fŸr einen †bergang zu neuen weltweiten Beziehungen Ende der achtziger Jahre existierten. Davon haben wir gerade gesprochen. Aber Voraussetzungen sind noch keine Chance.

Eine wirkliche Chance fŸr einen solchen †bergang setzt voraus, da§ alle oder zumindest die Hauptakteure auf der weltpolitischen BŸhne auch subjektiv bereit sind, diesen †bergang zu vollziehen. War diese Bereitschaft vorhanden? Wenn wir diese Frage heute mit Blick auf die Vergangenheit und die Ereignisse der jŸngsten Zeit beantworten, dann mŸssen wir sagen: In vielen FŠllen gab es diese Bereitschaft nicht.

Was die Sowjetunion betrifft, so war sie ohne jeden Zweifel bereit, wahrhaft demokratische, friedliche internationale Beziehungen aufzubauen. Mehr noch, das Neue Denken und die darauf beruhende Au§enpolitik waren im Grunde genommen bereits die Materialisierung eines neuen Vorgehens, die praktische Anwendung der neuen Methoden bei der Lšsung auftretender Probleme.

Die Konzeption dieser Politik mit Blick auf die Zukunft, die bei Kontakten mir den fŸhrenden ReprŠsentanten der USA, Gro§britanniens, Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland und anderer Staaten immer wieder dargelegt wurde, war eindeutig: Wir wollten die Anwendung der Ideen des Neuen Denkens in der ganzen Welt, den Aufbau postkonfrontativer internationaler Beziehungen auf der Grundlage dieser Prinzipien. Dabei wurde die Umgestaltung der Beziehungen im Bereich der Weltpolitik im engeren Sinne lediglich als ein Teil eines viel weiter gefa§ten Problems gesehen. Wir schlugen vor, zugleich auch die Weltwirtschaftsbeziehungen durch die EinfŸhrung einer wahrhaften Gleichberechtigung der Staaten, also eine Korrektur der Linie gegenŸber der "Dritten Welt", wesentlich zu vervollkommnen. Und schlie§lich sehen wir die VerŠnderungen im Bereich der internationalen Beziehungen im weiteren Sinn als Auftakt und Bestandteil des †bergangs zu einer neuen Zivilisation, zur †berwindung der Krise der gesamten gegenwŠrtigen Weltordnung, die die Menschheit in eine Katastrophe fŸhren konnte. Der Westen, insbesondere die USA, zeigten keinerlei Bereitschaft zu einer so grundsŠtzlichen Wende. Wenn die USA von einer neuen Weltordnung sprachen, dann hatten sie im Grunde genommen die Fortsetzung ihrer bisherigen Linie im Sinn, die darauf hinauslŠuft, ihre FŸhrungsposition in der Welt durchzusetzen. Gewisse Korrekturen waren hšchstens an den Methoden vorgesehen. Die Beendigung des Kalten Krieges interpretierte man so, da§ nun fŸr die seit langem verfolgten Ziele der amerikanischen Politik viele wesentliche HŸrden gefallen waren. Dies schlo§ eine gewisse Partnerschaft mit der UdSSR und danach mit Ru§land ein - stets unter der Voraussetzung, da§ man Moskau im gŸnstigsten Falle die sogenannte zweite Geige zugestand, wŠhrend die erste eindeutig Washington vorbehalten blieb. Eine Minimalvariante, die die USA gerade noch akzeptieren konnten, lief darauf hinaus, da§ die UdSSR (bzw. Ru§land) die Kreise der USA nicht stšrte, also eine Art Neuaufteilung der Einflu§sphŠren in der Welt erfolgte. Die Warnung Michail Gorbatschows a George Bush beim Treffen auf Malta, da§ es keinerlei "Kondominium" Ÿber die Welt geben werde, traf den Nagel auf den Kopf.

Schlie§lich sah die amerikanische Konzeption allein gewisse Korrekturen im Bereich der Weltpolitik im engeren Sinn vor. Mit der in der Weltwirtschaft herrschenden Ordnung war Washington durchaus zufrieden (wŸnschenswert war hšchstens eine StŠrkung des Regimes des freien Handels unter der Voraussetzung, da§ die USA gegenŸber ihren Konkurrenten starke Positionen einnahmen). Die Probleme der Zivilisation wurden als "unangenehm" angesehen und weit in den Hintergrund gerŸckt. Die USA meinten, sie kšnnten sich ihrer durch Ma§nahmen in Teilbereichen entledigen, die sie selbst nicht allzusehr belasteten.

Auch die Ÿbrigen WestmŠchte setzten in ihren Vorstellungen von einer neuen Weltordnung eigene Akzente. So nahm Deutschland, nachdem die Wiedervereinigung Tatsache geworden war, zunŠchst vorsichtig, spŠter aber immer offener Kurs darauf, seine frŸhere Vormachtstellung in Mittel- und Osteuropa wieder zu erlangen. Das hatte seine Auswirkungen auch auf andere Aspekte der Bonner Au§enpolitik.

Mit anderen Worten, als der Kalte Krieg zu Ende ging, sprachen sich viele, wenn nicht sogar alle, fŸr eine neue Weltordnung aus. Aber die Vorstellungen davon gingen auseinander. Selbst wenn in der Welt alles beim alten geblieben wŠre, hŠtten derartige Unterschiede in kŸrzester Frist unweigerlich zu Differenzen unter den Partnern fŸhren mŸssen. Dabei meinen wir nicht die natŸrlichen Unterschiede in den nationalen Interessen, die ein stŠndiger Faktor sind, der die Weltpolitik stets begleitet hat und auch weiter begleiten wird. Ihn kann und mu§ man berŸcksichtigen, indem man einen gegenseitig annehmbaren Ausgleich dieser Interessen, vernŸnftige Kompromisse findet. Wir meinen hier die grundsŠtzlichen Unterschiede in der Zielstellung, in der Sicht auf die Welt, ihre BedŸrfnisse und Perspektiven. Es geht uns also hier nicht nur darum, da§ die Weltpolitik viele Probleme nicht voraussah (oder gar nicht bemerkte), sondern darum, da§ verschiedene strategische Orientierungen und politische PlŠne bestanden. Die vorherrschenden Konzeptionen waren nicht zukunftsorientiert, sie speisten sich aus den Vorstellungen der Vergangenheit. Im besten Falle ging es darum, traditionelles Vorgehen zu perfektionieren und mit einigen neuen Elementen anzureichern. Eine wirklich neue Sicht auf die Dinge, wie sie dringend erforderlich war, wenn man eine neue Weltordnung anvisierte, war nicht festzustellen.

Nicht zufŠllig blieb die Politik immer hŠufiger hinter der Entwicklung zurŸck, sah sich zunehmend in der Rolle der Feuerwehr, die ausrŸckt, wenn die Flammen bereits zum Himmel schlagen. Dabei erkannten die USA und andere Staaten den Wert der Prinzipien des Neuen Denkens nicht selten šffentlich an (so z.B. in Dokumenten, die sie gemeinsam mit der FŸhrung der UdSSR unterzeichneten) und lie§en sich zuweilen anscheinend sogar in ihren Handlungen davon leiten. Zuallererst wurden diese GrundsŠtze Ÿbrigens von der neuen FŸhrung Ru§lands "vergessen".

Gemeinsames Handeln hat es tatsŠchlich gegeben. Nur geschah es meist dann, wenn in bestimmten konkreten Fragen die Interessen im wesentlichen Ÿbereinstimmten. DarŸber ging es nicht hinaus. Im tieferen Sinne wurden die Philosophie des Neuen Denkens, ihre Grundprinzipien nur von sehr wenigen geteilt und anerkannt. Am weitestgehenden vielleicht von den fŸhrenden Vertretern solcher Staaten wie Indien, Finnland, Spanien oder …sterreich.

Wie dem auch sei, seit Ende 1991, besonders aber Anfang 1992 schlug die Hauptrichtung der internationalen Entwicklung um. Wenn man die Ereignisse der vergangenen drei bis vier Jahre Revue passieren lŠ§t, so zeigt sich, da§ der Kalte Krieg insgesamt zwar der Vergangenheit angehšrt, sein Erbe, bestimmte Elemente allerdings weiterbestehen, wenn auch in anderer Gestalt. Zwischen den ehemaligen Gegnern, die sich heute Partner nennen, ist eine gewisse Fremdheit erhalten geblieben. Sie kommt z.B. darin zum Ausdruck, da§ nach wie vor beharrlich von den "Siegern" im Westen und den "Verlierern" im Osten gesprochen wird.

Ungeachtet aller positiven und durchaus bedeutsamen VerŠnderungen im VerhŠltnis zwischen den ehemaligen Gegnern, ist eine gewisse herablassende Haltung der westlichen Politik, die zuweilen in Arroganz umschlŠgt, nicht zu verkennen. Das deutet sehr auf pragmatische Berechnung hin und lŠ§t nicht auf eine gro§zŸgige Weitsicht schlie§en.

Das Feindbild ist weit in den Hintergrund gerŸckt und besteht in der alten Form faktisch nicht mehr. Aber heute, besonders in allerjŸngster Zeit, werden Versuche unternommen, es in abgewandelter Form neu erstehen zu lassen. So kann man in der westlichen Presse, zuweilen auch in Reden von Politikern immer wieder von verschiedenen "Bedrohungen" aus dem Osten lesen oder hšren.

Hier sei eingerŠumt, da§ es auf beiden Seiten Ewiggestrige gibt, die bereit sind, die alte Feinschaft neu zu schŸren. Ihre Motive sind unterschiedlich, aber diese Gefahr sollte auf keinen Fall unterschŠtzt werden. Dies um so mehr, als diese KrŠfte, wo immer sie auch agieren, einander im Grunde genommen in die HŠnde spielen. Sie berufen sich aufeinander, wen sie nach Argumenten fŸr ihre Propaganda des Hasses oder zumindest des Mi§trauens gegenŸber der anderen Seite suchen.

Die heute vor allem in Europa bestehenden militŠrpolitischen und wirtschaftlichen Strukturen sind in den Jahren des Kalten Krieges entstanden und waren damals ganz eindeutig auf Konfrontation ausgerichtet. Man versuchte sie irgendwie an die neuen Bedingungen anzupassen.

Am schwersten fŠllt das der NATO. Schlie§lich wurde sie einmal als Werkzeug der militŠrischen Auseinandersetzung vor allem mit der UdSSR aufgebaut. Zwar gibt es in den formulierten Konzepten und selbst in den Strukturen der NATO nicht wenige VerŠnderungen (auf die wir noch zurŸckkommen werden), aber zugleich sind wichtige Elemente des frŸheren Vorgehens erhalten geblieben. Der amerikanische Verteidigungsminister William Perry hat selbst vor kurzem daran erinnert, als er betonte: "Diese Organisation ist keine Bruderschaft, sondern ein MilitŠrbŸndnis." Allerdings sagte er nicht, gegen wen.

An der Erhaltung der NATO als Werkzeug zur Konservierung der Positionen der USA in Europa und zur Einflu§nahme auf die europŠische Politik ist natŸrlich vor allem Washington interessiert. In Europa lšst des Vorgehen dieses BŸndnisses, insbesondere seine erste entschlossene Aktion als "Garant des Friedens", der Bomben und Raketen auf Jugoslawien niederhageln lie§, nicht Ÿberall Begeisterung aus.

Bestimmte †berreste des Kalten Krieges haben sich also nach wie vor erhalten. Dazu kommen neue Momente. Heute geht die Grš§te Gefahr nach unserer Auffassung von drei Quellen aus:

Die erste sind alarmierende Anzeichen fŸr eine neue Spaltung der Welt, fŸr die Entstehung neuer Konfrontationsherde. Sie zeigen sich in Europa, wo eindeutig das Bestreben vorherrscht, lediglich das zu konsolidieren, was als "westlich" anerkannt ist. Mag die Trennlinie heute auch anders verlaufen. Welche VorwŠnde man auch findet, letzten Endes geht es vor allem darum, Ru§land auszugrenzen.

Es mu§ besorgt stimmen, wenn versucht wird, in Europa ein neues Sicherheitssystem auf der Grundlage der NATO zu konstruieren, ein BŸndnis, in das mittel- und osteuropŠische Staaten aufgenommen werden, aus dem Ru§land aber faktisch ausgeschlossen wird. Dabei werden allerdings viele Worte darŸber gemacht, da§ europŠische Sicherheit ohne Ru§land undenkbar sei.

In die genannte Richtung weisen auch andere Tatsachen. So zum Beispiel die Versuche, wŠhrend des Krieges in Bosnien-Herzegowina einerseits gemeinsame Aktionen mit Ru§land zu vereinbaren, andererseits sehr ernste Schritte (wie Bombardierungen und RaketenschlŠge) zu unternehmen, ohne Ru§land auch nur ernsthaft davon zu informieren. Oder der Abschlu§ einer geheimen Vereinbarung der NATO mit der UNO hinter dem RŸcken Moskaus, die den Nordatlantikpakt faktisch jeglicher UNO-Kontrolle entzieht. Man kann nicht sagen, da§ Ru§land selbst an dieser Entwicklung schuldlos wŠre. Nein, auch sein Verhalten war durchaus nicht immer konsequent und fehlerlos. Ernste AnlŠsse fŸr ein derartiges Verhalten ihm gegenŸber hat es jedoch nicht gegeben.

Man sollte die Lehren der Geschichte nicht vergessen. Im Jahre 1945 waren die Alliierten nach ihrem Sieg Ÿber den Nazismus nicht imstande, die sich damals bietende Chance fŸr eine Umgestaltung der Weltgemeinschaft zu nutzen, obwohl entsprechende Verpflichtungen in die UNO-Charta aufgenommen wurden.

Es ist heute durchaus nicht zwingend, da§ sich die Dinge erneut in dieser Weise entwickeln. Aber jede Spaltung, jede Abgrenzung, jeder Versuch, bestimmte Staaten aus dem allgemeinen Trend auszuschlie§en, kann die Entwicklung letzten Endes in eine Šhnliche Richtung drŠngen.

Eindeutige Gefahr geht auch von dem aus, was man ein neues WettrŸsten nennen kšnnte. Die gefŠhrlichsten Arten militŠrischer Technik breiten sich weiter Ÿber den ganzen Erdball aus. Dazu gehšren auch Atom- und andere Massenvernichtungswaffen, die in Form ihrer Produktionstechnologie weitergegeben werden. Die MilitŠrtechnik wird perfektioniert, die konventionelle RŸstung erreicht die QualitŠt von "absoluten Waffen". In den entwickelten LŠndern arbeitet man an neuen biologischen, elektronischen oder Laserwaffen, die den Gegner tšten, lŠhmen oder psychisch schŠdigen.

Die verhŠngnisvollen Folgen des WettrŸstens, das untrennbarer Bestandteil des Kalten Krieges war, sind bekannt. Es heizte nicht nur Spannungen und gegenseitige Furcht an, sondern zehrte auch die Wirtschaftspotentiale der Staaten aus. Es hatte Šu§erst negative politisch-psychologische Folgen, stŠrkte die Positionen der fŸr ihre Intoleranz und Grausamkeit bekannten militantesten Elemente der Gesellschaft.

Eine dritte Gefahr, die sich vor allem in den letzten Jahren zeigt, ist ein spŸrbares Wiederaufleben der traditionellen Politik der StŠrke, die vorzugsweise zu militŠrischen Mitteln greift, um auftauchende Probleme zu lšsen. Das aktuellste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel hierfŸr ist Jugoslawien. Wir haben hier sowohl das politische Verhalten der an den Konflikten im Lande selbst beteiligten Seiten im Auge als auch die Handlungsweise anderer Staaten, die in der Anwendung von Waffengewalt im Grunde genommen den einzigen Weg zur Lšsung der Probleme sehen. Neben diesen RŸckfŠllen in das Alte, die in der neuen Situation besonders gefŠhrlich sind, existieren natŸrlich auch Erscheinungen, die man als Keime kŸnftiger, erneuerter internationaler Beziehungen ansehen kann. Das ist z.B. eine gewisse Aktivierung der Weltšffentlichkeit insgesamt, das sind erste Versuche, bei der Lšsung internationaler Grundsatzprobleme von den allgemeinen Menschheitswerten und den Prinzipien der Moral auszugehen. Beispiele hierfŸr waren der Umweltgipfel von 1992 in Rio de Janeiro. die Weltfrauenkonferenz, die Weltbevšlkerungskonferenz und andere. Weitere Beispiele sind einige Aktionen der UNO, die nach Beendigung des Kalten Krieges zum ersten Mal die Mšglichkeit erhielt, in ihrer eigentlichen Rolle als friedenserhaltende und friedensschaffende Kraft wirksam zu werden.

Ein weiterer Keim des Neuen ist in der wachsenden Rolle neuer Subjekte der Politik der gro§en nichtstaatlichen Organisationen in den internationalen Beziehungen zu sehen, die in verallgemeinerter Form die Stimmung der Weltšffentlichkeit widerspiegeln.

Alle diese neuen Erscheinungen sind fŸr sich genommen sehr wichtig, haben aber bei weitem noch keinen ausreichenden Einflu§ auf die Entwicklung in der Welt.

Kann man angesichts des bisher Dargelegten feststellen, da§ der Proze§ der †berwindung der Konfrontation bereits unumkehrbar geworden ist?

Offenbar kann man dies bislang noch nicht mit voller †berzeugung behaupten. Nach wie vor finden sich im Geflecht der Weltpolitik Elemente der Konfrontation.

Diese Feststellung wird dadurch erhŠrtet, da§ derartige Elemente durchaus zu solchen historisch Ÿberkommenen Traditionen passen wie dem Prinzip vom Gleichgewicht der KrŠfte, dem Hegemonismus, der Einteilung der Welt in Einflu§sphŠren, der willkŸrlichen Gleichsetzung von speziellen, eigensŸchtigen und weltweiten Interessen. Diese Traditionen wirken weiter, wenn sie auch nicht immer offen vertreten werden.

Interessenunterschiede zwischen den Staaten sind, wie bereits gesagt, nicht auszuschlie§en. Sie wird es immer geben,. Auch eine gewisse RivalitŠt in der internationalen Arena ist nicht zu vermeiden. Aber mu§ diese ebenso unvermeidlich zur Konfrontation fŸhren? Kann man das alte, Ÿberlebte Vorgehen ablegen und zu einer vernŸnftigen, nichtkonfrontativen, sozusagen partnerschaftlichen Lšsung der entstehenden Probleme kommen? Im Prinzip - ja. DafŸr mu§ sich aber offenbar im Denken und Handeln, in der Natur des VerhŠltnisses der Mitglieder der Weltgemeinschaft zueinander noch sehr viel Šndern.

Was haben wir also heute vor uns? Wie es hei§t - einen "Kalten Frieden"? Oder kehren wir zur Konfrontation zurŸck, wenn auch noch nicht ganz?

Nach unserer Meinung befindet sich die Welt gegenwŠrtig in einem Stadium ihrer Entwicklung, das man als †bergangsperiode bezeichnen kann. Diese hat ihre eigenen CharakterzŸge und Besonderheiten. Offenbar haben wir es heute nicht mit einer gewšhnlichen †bergangsperiode zu tun, sondern mit einer Weltordnung im †bergang, einer Ordnung, die durchaus lŠngere Zeit bestehen kann. PrŠgend fŸr sie sind eine konflikttrŠchtige LabilitŠt der VerhŠltnisse und ein †berwiegen von Elementen der SpontaneitŠt in den internationalen Beziehungen.

Wie lange diese †bergangsperiode anhŠlt, wird vom Zusammenwirken vieler Faktoren bestimmt.

  • Von gro§er Bedeutung wird zweifellos sein, wie die Entwicklung in Ru§land verlŠuft, wohin sie mittelfristig fŸhrt. Wird dort in der nŠchsten Zeit eine gewisse politische und wirtschaftliche Stabilisierung eintreten? Wir glauben, dafŸr werden nicht weniger als 20 bis 25 Jahre notwendig sein, vielleicht aber auch ein voller Generationswechsel.
  • Die kŸnftige Entwicklung der Welt wird auch von der Zukunft der GUS beeinflu§t werden, davon, ob sie endgŸltig zerfŠllt oder ob sich eine wirkliche multilaterale Zusammenarbeit entwickelt, die bis zu einer gewissen Integration fŸhren kann. Auch das hŠngt wiederum in nicht geringem Ma§e von Ru§land und dessen Politik ab, zugleich vom Verhalten Šu§erer KrŠfte, die heute eindeutig darauf aus sind, im postsowjetischen Raum eigene Positionen zu erobern.
  • Wesentlichen Einflu§ wird der weitere Verlauf der Integrationsbewegung in Westeuropa, insbesondere in der EuropŠischen Union haben. Wird sie zunŠchst vertieft werden, oder wird sich die Union erweitern? Die Integration der Staaten Mittel- und Osteuropas in die EU wird nicht weniger als 15 bis 20 Jahre in Anspruch nehmen. Sehr wichtig wird das kŸnftige VerhŠltnis der EU zu Ru§land sein.
  • Nicht weniger bedeutsam ist die Evolution im asiatisch-pazifischen Raum. Diese wiederum hŠngt in vieler Hinsicht von der inneren Entwicklung Chinas ab, davon wie sich das VerhŠltnis von zentrifugalen und zentripetalen Prozessen dort gestaltet, wie ein gro§es China und dessen Au§enpolitik  beschaffen sein werden, welches VerhŠltnis sich zwischen Peking und Taipeh herausbildet.
  • Wesentliches Gewicht wird auch die Entwicklung der USA und des amerikanischen Kontinents insgesamt haben. Wird der Proze§ der panamerikanischen Integration gelingen oder scheitern? Bis diese Frage klar beantwortet werden kann, wird betrŠchtliche Zeit vergehen, besonders wenn man bedenkt, da§ die Staaten der sŸdlichen Halbkugel zu einer gewissen regionalen Absonderung neigen und sich der EuropŠischen Union in gleichem Ma§e annŠhern mšchten wie den USA.
  • Die grš§ten Unbekannten sind die Staaten Schwarzafrikas und der arabischen Welt. Welche Rolle der islamische Fundamentalismus in der Zukunft spielt, wird sich erst im nŠchsten Jahrhundert zeigen.
  • In dem Ma§e, wie die Bedeutung des MilitŠrpotentials als bestimmender Faktor der weltweiten Entwicklung zurŸckgeht, wie Wirtschaftskraft und KonkurrenzfŠhigkeit als solche Faktoren in den Vordergrund treten, werden sich Mšglichkeiten und Gewicht einzelner Staaten in Weltwirtschaft und Weltpolitik verŠndern. Wird es gelingen, diesen Proze§ in einem zivilisierten, friedlichen Rahmen zu halten?
  • Sehr vieles wird von der inneren Entwicklung der Staaten des Westens insgesamt abhŠngen. Bereits heute wird sichtbar, da§ die liberale Marktwirtschaft an ihre historischen Grenzen stš§t. Die Aufwendungen fŸr Renten, Sozialhilfe, Gesundheit, Bildung, Arbeitslosigkeit und andere Bereiche, die fŸr einen sozialen Ausgleich und eine gesunde Gesellschaft erforderlich sind, geraten mit den "Regeln" des liberalen Wirtschaftsmodelle immer stŠrker in Konflikt.
  • Von gro§er Bedeutung wird auch sein, ob die einzelnen Staaten und die Weltgemeinschaft insgesamt den globalen Problemen genŸgend Aufmerksamkeit widmen. Deren VerschŠrfung wird immer hŠufiger zu Krisenerscheinungen in den einzelnen Gesellschaften fŸhren, kann aber auch neue zwischenstaatliche Konflikte auslšsen. Der Kampf um die ReichtŸmer der Natur von Erdšl und Erdgas bis hin zum Wasser, ungeregelte Migration und viele andere Probleme beschwšren neue Gefahren fŸr den Weltfrieden herauf.

Das ist bei weitem keine erschšpfende, ja sogar eine eindeutig unvollstŠndige AufzŠhlung der Faktoren, die den zeitlichen Rahmen der Weltordnung im †bergang bestimmen werden, bis letzten Endes eine wirklich neue, wahrhaft Weltordnung entsteht. Aber ausgehend von dem, was wir heute wissen, kšnnen wir annehmen, da§ es sich um einen relativ langen Zeitraum handeln wird.

  • Die Hauptsache sollte man aber auf keinen Fall vergessen: Die Voraussetzungen und Bedingungen fŸr kŸnftige unumgŠngliche VerŠnderungen werden nicht allein im Bereich der Weltpolitik oder der Weltwirtschaft entstehen. Letzten Endes werden die fundamentalen Prozesse die entscheidende Rolle spielen, die sich in den Grundlagen des Daseins der weltweiten Gemeinschaft der Menschen vollziehen.


Version: 14.1.2017
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