Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis

Die Herausforderung der Globalisierung

Die Entwicklung der Welt zu einer vielseitigen Einheit hat sich niemand ausgedacht. Das ist keine abstrakte Konzeption, wie zuweilen behauptet wird, sondern eine objektive Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung. Ihre Wurzeln reichen viele Jahrhunderte zurŸck: Die Wissenschaft - sowohl in Ru§land als auch in anderen LŠndern - datiert sie in die Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Diese Tendenz ist Ÿber die Jahrhunderte in den vielfŠltigsten Formen hervorgetreten - von der Entstehung der Weltreiche bis zu den kolonialen Eroberungen, von der GrŸndung der Handelsgesellschaften, die auf mehreren Kontinenten tŠtig waren, bis zur Entwicklung der weltweiten Verkehrswege, vom Auftauchen internationaler Konzerne Ÿber die Bildung der gegenwŠrtigen transnationalen Gesellschaften bis hin zu den neuen weltweiten Kommunikationsmitteln.

Bereits in den siebziger und achtziger Jahren unseres Jahrhunderts hat in der Wissenschaft der Begriff der "Mondialisierung" Verbreitung gefunden. Er beschrieb die offensichtliche Tatsache, da§ die Produktions- und Austauschprozesse sich internationalisiert haben. Dazu gehšren auch die starken Kapitalstršme von einem Land ins andere, eine enorme Entwicklung des Handels, die in ihrem Tempo das Wachstum der Produktion weit Ÿbertrifft. Heute werden die weltweit ablaufenden Prozesse mit dem Begriff der "Globalisierung" umschrieben. In ihm kommt zum Ausdruck, da§ die Internationalisierungsprozesse im Grunde genommen alle Lebensbereiche der Weltgemeinschaft erfassen, da§ zugleich der wechselseitige Zusammenhang und die wechselseitige AbhŠngigkeit von Staaten und Všlkern eine eindeutige qualitative AusprŠgung erfahren haben, zu einer realen Grš§e geworden sind.

Der Proze§ der Globalisierung ist in vieler Hinsicht von inneren WidersprŸchen gekennzeichnet. Einerseits eršffnet er in der Tat der ganzen Welt und jedem Lande neue, nie gekannte Chancen, sich rascher zu entwickeln, die fortgeschrittenen Produktionsformen und -methoden anzuwenden, am Austausch geistiger und kultureller Werte teilzuhaben. Andererseits gibt er den technisch-wirtschaftlich und politisch stŠrkeren Staaten viel grš§ere Mšglichkeiten als bisher, andere Staaten und Všlker auszubeuten, aus dem ungleichen Entwicklungsniveau der einzelnen Regionen unseres Planeten ŸbermŠ§ige Vorteile zu ziehen.

Ein weiterer Aufri§ dieses Problems: Die Globalisierung ermšglicht den Zusammenschlu§ der kreativen KrŠfte der Weltgemeinschaft zur Lšsung der globalen Probleme. Zugleich bringt sie aber auch eine fortschreitende Internationalisierung dieser Probleme selbst, ihrer negativen Auswirkungen auf das Leben der gesamten Weltgemeinschaft mit sich.

Das positive wie negative Potential dieser Prozesse zusammenfassend, sprechen wir von der Herausforderung der Globalisierung. Wir meinen, da§ ihre verschiedenen Seiten und Erscheinungsformen eine neue QualitŠt der TŠtigkeit der Menschen, deren Anpassung an die neuen Bedingungen und damit eine neue QualitŠt der Politik im weitesten Sinne erfordern.

Die Anerkennung der Globalisierung als Haupttendenz in der Entwicklung der Weltgemeinschaft beim †bergang vom 20. zum 21. Jahrhundert war, wie bereits gesagt, der Ausgangspunkt fŸr das Neue Denken, wie es in den Jahren 1985 - 1991 formuliert wurde. Heute ist diese These von nicht geringerer, sondern eher von noch grš§erer AktualitŠt als damals. Denn in den vergangenen Jahren hat sich diese Tendenz nicht abgeschwŠcht, sondern noch verstŠrkt. Und dies nicht nur deswegen, weil der internationale Austausch von Waren, Kapital, Technologien und kulturellen Werten in dieser Zeit quantitativ angewachsen ist. Es sind auch qualitativ neue Momente entstanden, die der Globalisierung neue Dimensionen verleihen.

Vor allem mŸssen hier die Folgen der geopolitischen VerŠnderungen erwŠhnt werden, die mit den sozialpolitischen UmwŠlzungen in den Staaten der ehemaligen UdSSR, in Mittel- und Osteuropa sowie in anderen Regionen einhergehen (wo sie allerdings weniger prŠgnant oder weniger umfassend erscheinen.) Diese VerŠnderungen haben der Globalisierung in wirtschaftlicher und anderer Hinsicht einen neuen Schub verliehen.

Denn diese Staaten, die sich - zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg - zugleich auf den Weg in die Marktwirtschaft und in die pluralistische Demokratie begeben haben, greifen nach einer Zeit gewisser Autarkie nunmehr aktiv in die Weltwirtschaft ein. Der Weltmarkt hat damit wahrhaft weltweiten Charakter angenommen. Das hat zu einer neuen Herausforderung gefŸhrt. Vor allem fŸr die Staaten, die diese Wende vollzogen haben: Sie sind in den Ozean der weltweiten Konkurrenz geraten und kšnnen sich seinen Erfordernissen natŸrlich nicht augenblicklich anpassen. Das hat ihren Volkswirtschaften in betrŠchtlichem Ma§e geschadet. Die "Šlteren" Akteure auf dem Weltmarkt haben es nicht versŠumt, die Situation zu nutzen, um auf den verwaisten MŠrkten der Neuankšmmlinge ihr GlŸck zu versuchen.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist also ein globales Feld der freien Konkurrenz mit all seinen VorzŸgen und Nachteilen entstanden. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Vertiefung des wechselseitigen Zusammenhangs und der wechselseitigen AbhŠngigkeit der Staaten und Všlker.

Eine weitere qualitative VerŠnderung, die sich insbesondere in den letzten Jahren zeigt, ist die stŸrmische Entwicklung der Revolution im Bereich der Informatik, die die gesamte Wirtschaft erfa§t, vor allem aber das internationale Finanz- und Bankwesen. Die gesamte Weltwirtschaft ist dynamischer geworden. Die Wechselwirkung (und damit auch die Konkurrenz) zwischen den nationalen Volkswirtschaften hat sich verstŠrkt. Die transnationalen Gesellschaften gewinnen immer grš§ere UnabhŠngigkeit von den nationalen Wirtschaften und agieren weltweit, ohne auf deren Interessen RŸcksicht zu nehmen. Ein besonders tiefgreifender Wandel hat sich im finanziellen Bereich vollzogen.

  • Die MobilitŠt des Kapitals ist geradezu dramatisch gewachsen, die modernen Kommunikations- und Informationssysteme haben neue Finanztechnologien hervorgebracht. Die Bewegung des Kapitals verlŠuft losgelšst von der Bewegung der Waren und Dienstleistungen. Auf letztere entfallen heute kaum noch zwei Prozent des Kapitalumsatzes von etwa einer Billion Dollar tŠglich. Der Rest sind spekulative Operationen. Diese Operationen auf den weltweiten FinanzmŠrkten, die gegenseitig bereits in Realzeit ablaufen, kšnnen sich jeglicher Kontrolle entziehen - eine Entwicklung, die gro§e Gefahren in sich birgt.
  • Zu ernster Sorge geben auch neue Entwicklungen und Probleme im Bereich der allgemeinen Sicherheit Anla§. Die globale Gefahr eines atomaren Infernos ist zwar zurŸckgegangen, aber noch nicht všllig gebannt. GegenwŠrtig haben wir es vor allem mit einer globalen SchwŠche der Sicherheit zu tun.
  • Die Welt ist voller verstreuter Konflikte, die eine gro§e Anzahl von Menschen betreffen und in deren †berwindung immer mehr Staaten einbezogen werden. Das ist darauf zurŸckzufŸhren, da§ diese Konflikte die unterschiedlichsten Interessen - von nationalen bis religišsen - berŸhren. Dabei beobachten wir auf dem ganzen Erdball eine schleichende Verbreitung nicht nur von Massenvernichtungsmitteln wie Atom- und Chemiewaffen, sondern auch von High-Tech- Waffen im konventionellen Bereich. Dazu kommt, da§ sich parallel dazu der internationale Terrorismus global ausbreitet, sich mit der Drogenmafia verbindet und immer hŠufiger auch einen bestimmten Teil des politischen Establishments fŸr seine Ziele einspannt.
  • Schlie§lich mŸssen wir sehen, da§ die globalen Probleme sich nicht nur vertiefen. In den letzten Jahren werden bereits die praktischen Folgen dieser Vertiefung immer deutlicher sichtbar. Die Ozonlšcher wachsen. Vor allem auf der nšrdlichen Halbkugel ist eine allgemeine KlimaerwŠrmung zu beobachten. Die Zahl der Naturkatastrophen nimmt zu. Defizite bei den Nahrungsmittelreserven, Energiequellen und TrinkwasservorrŠten werden sichtbar.

All dies sind PhŠnomene, die vor allem in den letzten Jahren aufgetaucht sind oder sich zugespitzt haben. Auf den ersten Blick kšnnte es so aussehen, als handle es sich um isolierte Erscheinungen. In Wirklichkeit sind all dies Auswirkungen oder Folgen der rasch voranschreitenden Globalisierung der menschlichen Existenz, der zunehmenden allgemeinen Interdependenz, die, fŸr sich genommen, eine komplizierte und in sich widersprŸchliche Erscheinung darstellt.

Ganz eindeutig werden unter diesen Bedingungen sowohl serišse theoretische Arbeiten als auch neue politische Schlu§folgerungen gebraucht, die die Thesen des Neuen Denkens aufnehmen und weiterentwickeln. In theoretischer Hinsicht, aber auch fŸr die Politik gewinnt das Problem des VerhŠltnisses zwischen weltweiten, globalen und nationalstaatlichen Interessen gro§es Gewicht. Es war auch frŸher von Bedeutung, wurde hei§ debattiert, aber bei weitem nicht immer verstanden. Heute stellt es sich mit besonderer SchŠrfe. Das Feld gemeinsamer Interessen der Menschheit in ihrer Gesamtheit wŠchst weiter. Alle Erscheinungen, von denen eben die Rede war, verleihen den allgemeinen Menschheitsinteressen zunehmendes Gewicht.

Nach der Beendigung des Kalten Krieges jedoch haben in allen Regionen und fŸr alle Všlker die eigenen regionalen, nationalen und sogar lokalen Interessen wesentlich grš§ere Bedeutung erlangt. Da der Druck der Konfrontation geschwunden ist, haben sich fŸr die SelbstbestŠtigung der zahlreichen neuen Staaten und fŸr die IdentitŠtsfindung der Regionen, Nationen und Všlker nie dagewesene RŠume gešffnet. Wer derartige Handlungsfreiheit gewonnen hat, wen Blockdisziplin oder Bedrohung von au§en nicht lŠnger bedrŸcken, fŸr den hat nun diese SelbstbestŠtigung, nicht die Lšsung der allgemeinen Menschheitsprobleme, erste PrioritŠt.

  • Dabei spielt auch die wachsende Interdependenz, insbesondere die Vertiefung der Integrationsprozesse in einigen Regionen eine Rolle. Da sie sich lawinenartig ausbreiten, werden verschiedene Gemeinschaften von der Furcht befallen, sie kšnnten ihre IdentitŠt verlieren. Die Menschen versuchen dieser Gefahr zu entgehen, indem sie sich in ihre nationale, regionale oder religišse Nische zurŸckziehen.

Wie kšnnen diese erklŠrlichen und insgesamt sogar unumgŠnglichen Prozesse miteinander in Einklang gebracht werden? Bislang gibt es keine Antwort auf diese Frage. Aber sie ist notwendig. Zu suchen ist sie eindeutig im politischen Bereich und sicher nicht zuletzt im Zusammenhang damit, da§ eine gewisse Steuerung der Prozesse in der Welt herbeigefŸhrt werden mu§. Doch davon spŠter. Und noch eine theoretisch-politische Frage, die bei der Weiterentwicklung des Neuen Denkens zu erwŠgen ist - die Umkehrung der gegenseitigen Beeinflussung der in den einzelnen LŠndern und im internationalen Bereich ablaufenden Prozesse sowie der entsprechenden Politikbereiche. Als die Konfrontation noch im Gange war und auch als man daran ging, sie zu Ÿberwinden, Ÿbten die internationalen Prozesse wachsenden Einflu§ auf das innere Leben der Staaten aus. Der Kalte Krieg zwang sie alle, ihre Aktionen im nationalen Rahmen seinen Forderungen zu unterwerfen, er deformierte die politischen (und nicht nur die politischen) Prozesse, behinderten ihren normalen Ablauf.

In den letzten Jahren haben sich die Akzente verschoben: Aktionen der Staaten im Bereich ihrer Innenpolitik wirken sich immer spŸrbarer auf das Leben anderer Staaten aus. Das betrifft die Lšsung nationaler, wirtschaftlicher, škologischer und vieler anderer Probleme.

  • Man darf z.B. nicht vergessen, da§ militŠrische Krisen in der postkonfrontativen Zeit in den meisten FŠllen innerhalb eines Staates ausbrachen und erst danach (wenn auch nicht immer) internationalisiert wurden. Diesen Konflikten lagen zumeist falsche oder unglŸckliche innenpolitische Entscheidungen zugrunde, die vorwiegend nationale Probleme betrafen.

Daraus ergibt sich eine wachsende Verantwortung jedes Staates fŸr seine Innenpolitik vor der gesamten Weltgemeinschaft. Jeder Staat und jede politische Kraft haben bei ihren innenpolitischen Entscheidungen auch die BedŸrfnisse der Weltgemeinschaft, ihre Probleme und Sorgen ins KalkŸl zu ziehen. Der gro§e deutsche Physiker Carl Friedrich von WeizsŠcker hat nicht zufŠllig den Begriff der Weltinnenpolitik in die Sprache der Wissenschaft eingefŸhrt. Leider wird dieser neue Zusammenhang zwischen inneren und Šu§eren Angelegenheiten in der praktischen Politik der Staaten bei weitem noch nicht genŸgend beachtet. Ohne dies kšnnen aber politische EntschlŸsse fehlerhaft, viele von ihnen sogar schŠdlich sein. In erster Linie fŸr den Staat, der sie fa§t.

All dies zusammengenommen - die neuen Erscheinungen der Globalisierung, ihre Folgen und die daraus entstehenden neuen Probleme - macht es nach unserer Meinung erforderlich, da§ der internationale Dialog, der bei der Einstellung des Kalten Krieges eine unersetzliche Rolle gespielt hat, auf ein ganz neues Niveau gehoben wird. Vor allem mu§ begriffen werden, da§ in der neuen Etappe allein die Beteiligung der Gro§mŠchte an einem Dialog, der die Hauptrichtungen der Weltpolitik bestimmt, nicht mehr ausreicht. Es ist dringend notwendig, die BemŸhungen, die Erfahrungen und das intellektuelle Potential der Mehrheit der Nationen aus allen Teilen der Welt zusammenzufŸhren. Mechanismen mŸssen entwickelt werden, die eine gewisse Steuerung der Prozesse in der Welt ermšglichen. In den vorangegangenen Etappen der gesellschaftlichen Entwicklung verfŸgten die nationalen Gesellschaften, die Staaten Ÿber ihren politischen und juristischen Rahmen, ihre innerhalb der nationalen Grenzen geltenden Spielregeln. Aber in unserer Welt, da die Globalisierung rasch voranschreitet, sehen wir, da§ diese Spielregeln noch rascher veralten. Und die Probleme werden nicht gelšst, sondern spitzen sich weiter zu.

  • Die Politik unserer Zeit mu§ eine wahrhaft philosophische Sicht auf die Welt in ihrer Gesamtheit und zugleich WidersprŸchlichkeit, nicht als Antagonismus, sondern als Einheit ihr innewohnender GegensŠtze gewinnen. Anderenfalls wird sie ihre Rolle nicht spielen kšnnen. Die Aufgabe, die globalen Prozesse zu steuern, wird unerfŸllt bleiben.

Der Gedanke, da§ gewisse Spielregeln fŸr die neue Welt entwickelt und eine Steuerung der weltweiten Prozesse erreicht werden mŸssen, findet heute immer breitere Anerkennung. Mehr noch, bestimmte Versuche in dieser Richtung sind bereits zu erkennen. Die Rolle einer solchen steuernden Kraft streben die G7 an. Mehr noch, die USA #haben aus dem Munde hochrangiger Vertreter bereits mehrfach Anspruch auf eine - "amerikanische FŸhrung der Welt" erhoben. Weder das erste noch der zweite Anspruch jedoch sind begrŸndet. Die heutige Welt besteht aus freien, unabhŠngigen und souverŠnen Staaten, die nicht bereit sind, eine fremde FŸhrung zu akzeptieren. Das wird mit jedem Jahr deutlicher sichtbar. Mehrfach wurde der Gedanke, geŠu§ert, eine Weltregierung zu schaffen. Er geistert nach wie vor durch wissenschaftliche und politische Publikationen. Aber auch er ist, zumindest bislang, nicht realisierbar. Heute spielen im politischen Denken ganz andere Probleme eine Rolle - Selbstbestimmung, Selbstidentifikation oder Selbstverwaltung.

In der gegenwŠrtigen Etappe, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, kann die Idee einer Steuerung der weltweiten Prozesse in Form einer Koordinierung der Aktionen der Staaten, der ZusammenfŸhrung dieser Aktionen fŸr die Lšsung ganz konkreter gemeinsamer Probleme realisiert werden.

NatŸrlich - und auch das gilt es zu beachten - hat jedes Volk seine eigene Sicht auf gemeinsame Probleme und selbst gemeinsame Bedrohungen (z.B. im škologischen Bereich). Deshalb betreffen sie aber nach wie vor alle gemeinsam und erfordern eine gemeinsame Antwort.

Um Mi§verstŠndnisse zu vermeiden, wollen wir sofort klarstellen: Die Antwort mu§ gemeinsam, aber durchaus nicht gleichfšrmig sein. LšsungsvorschlŠge mŸssen ihrem Inhalt nach in dem Sinne grundsŠtzlich Ÿbereinstimmen, da§ sie das Wesen der akuten Gefahren fŸr die Zivilisation gleich bewerten. Sie kšnnen aber in dem Sinne vielfŠltig sein, da§ sie die spezifischen Bedingungen jedes Landes und jedes Volkes berŸcksichtigen.

Die Probleme mŸssen gemeinschaftlich eršrtert werden und zur Vereinigung der Anstrengungen aller Všlker fŸhren. Diese Vereinigung bedeutet aber keine Standardisierung. Die konkreten Aktionen zur †berwindung der entstandenen Gefahren mŸssen in jedem Lande und in jeder Region deren realen Bedingungen entsprechen. Jeder hat seinen eigenen Pfad zur gemeinsamen Rettung. Alle diese Pfade mŸssen aber letzten Endes in einen gemeinsamen Weg mŸnden. Vor allen Všlkern und Staaten steht heute eine všllig neue, nie dagewesene Aufgabe - ihre Aktionen in den Bereichen aufeinander abzustimmen, die alle gemeinsam bewegen und allen gleicherma§en wichtig sind.

Das ist eine Šu§erst komplizierte Aufgabe! Denn durch die Jahrhunderte waren die Menschen daran gewšhnt, da§ Staaten und Všlker isoliert handeln. Jeder kŸmmerte sich um sich selbst. Andere wurden im besten Falle als zeitweilige VerbŸndete oder WeggefŠhrten angesehen. Zuweilen - und gar nicht so selten - versuchte man seine Probleme auf Kosten anderer zu lšsen. Unter den heutigen Bedingungen kann ein solches Verhalten den einzelnen Staat nur in noch grš§ere Schwierigkeiten stŸrzen.  Wer versucht, das Nullsummenspiel zu spielen, verliert dabei selbst.  Aber damit die Menschen das begreifen und in der Praxis auch danach handeln, wird eine wahre psychologische Revolution erforderlich sein.

In gewissem Ma§e hat sie bereits begonnen. Aber was wir bisher sehen, sind lediglich die ersten Schritte. Dabei ist uns kaum noch Zeit geblieben ...

Wie Weiter? Was ist angesichts all dieser psychologischen und politischen Komplikationen zu tun? Es ist ganz klar, da§ wir nicht sofort, mit einem gro§en Sprung zur Koordinierung der Aktionen in der Weltgemeinschaft, zur Steuerung der weltweiten Prozesse kommen werden. Das hei§t, wir werden uns diesem Ziel Schritt fŸr Schritt nŠhern mŸssen. Dabei gilt es zunŠchst, die bereits vorhandenen Instrumente zur Koordinierung und Abstimmung des Vorgehens der Staaten stŠrker ins Spiel zu bringen.

Das betrifft in erster Linie die Organisation der Vereinten Nationen. 1995 ist sie 50 Jahre alt geworden. Das vergangene halbe Jahrhundert hat sich eindrucksvoll demonstriert, Ÿber welch enorme Mšglichkeiten diese Organisation verfŸgt und wo ihre Grenzen liegen. Die UNO war dann am wirksamsten, wenn ihre Mitgliederstaaten - und bei weitem nicht nur die stŠndigen Mitglieder des Sicherheitsrates - sich in ihrem Wollen und Streben einig waren, sich konkrete, realistische Ziele stellten und sich gemeinsam fŸr sie einsetzten. Darauf kommt es auch heute an. Gerade in letzter Zeit jedoch zeigt sich immer deutlicher die Gefahr, da§ die Rolle der UNO eingeschrŠnkt werden soll. Es tauchen VorschlŠge auf, ihre Funktionen zu beschneiden. Man versucht ihre BeschlŸsse zu manipulieren. Offenbar wird es immer notwendiger, die Funktionen und die Rolle der UNO unter BerŸcksichtigung all der neuen Aspekte unserer Gegenwart, von denen hier die Rede war, erneut zu prŠzisieren und weiser zu vervollkommnen. Die UNO mu§ zu einem Organ werden, das die Besonderheiten der neuen Welt, ihre Herausforderungen und realen Erfordernisse umfassend berŸcksichtigt.

Wie kann die UNO weiter vervollkommnet werden? Diese Frage wird international eršrtert. Viele Reformprojekte liegen bereits vor. Aber keines hat bisher den notwendigen Konsens aller Mitglieder gefunden. Selbst solche vom UNO-GeneralsekretŠr vorgelegten und Šu§erst nŸtzlichen Dokumente wir die Agenda fŸr Frieden und die Agenda fŸr Entwicklung stehen bisher im wesentlichen auf dem Papier.

Wir wiederholen - konkrete VorschlŠge zur Vervollkommnung der UNO mŸssen Ergebnis der BemŸhungen der ganzen Weltgemeinschaft sein. Dabei drŠngen sich einige Aspekte ganz von selbst auf: Die UNO ist vor allem eine Organisation fŸr Frieden und Sicherheit. Bei ihrer GrŸndung war sie aber vor allem darauf ausgerichtet, militŠrische Bedrohungen abzuwenden. Heute hat sie Sicherheit viele verschiedene Aspekte - škonomische, škologische und soziale. All das mu§ berŸcksichtigt werden - in der UNO-Charta, in der Struktur und Zusammensetzung ihrer Organe.

  • In diesem Zusammenhang drŠngt es sich geradezu auf, einen wirtschaftlichen Sicherheitsrat zu bilden, der u.a. die TŠtigkeit der internationalen Finanzzentren unter Kontrolle nehmen kšnnte.
  • Dringend notwendig ist ein mit wirklichen Befugnissen ausgestattetes Organ fŸr die škologische Kontrolle und die Abstimmung des Vorgehens der Staaten in diesem Bereich.
  • Die Entwicklung der letzten Zeit lŠ§t auch die Bildung eines Organs fŸr Informationssicherheit als geboten erscheinen.
  • Schlie§lich ist auch ein Koordinationszentrum fŸr den Kampf gegen den Terrorismus, das organisierte Verbrechen und den Drogenhandel dringend notwendig geworden.

Die UNO ist die einzige wirklich globale Organisation. Und es ist an der Zeit, Ÿber Schritte nachzudenken, wie die Interessen und Meinungen aller Mitgliedstaaten in ihren BeschlŸssen maximale BerŸcksichtigung finden kšnnen. Dabei stehen die Zusammensetzung des Sicherheitsrates, seine stŠndigen Mitglieder und die Rechte der Vollversammlung zur Debatte. Vielleicht mu§ ein bestimmter Teil der BeschlŸsse der Vollversammlung - wenn sie lebenswichtige globale Fragen betreffen - fŸr alle Mitgliedstaaten als bindend erklŠrt werden.

Zu bedenken wŠre, ob die UNO nicht eine Konzeption fŸr ein gemeinsames Vorgehen, eine Art Gesamtstrategie fŸr globale Partnerschaft braucht. Wichtiger Bestandteil dieser Strategie mu§te ein sorgfŠltig erarbeiteter Komplex von Verfahren sein, mit deren Hilfe Konflikte prognostiziert und - vor allem mit politischen Mitteln - bereits im Keim erstickt werden kšnnen. NatŸrlich mu§ die UNO auch weiterhin das Recht haben, Blauhelme einzusetzen. Aber nicht, um an der Seite einer Partei gegen eine andere zu kŠmpfen, sondern vor allem, um Voraussetzungen fŸr die politische Konfliktlšsung zu schaffen, die verfeindeten Seiten voneinander zu trennen, bevor sie zur Waffe greifen. Eine wichtige Aufgabe der UNO und ihrer Institution ist die Vervollkommnung des modernen Všlkerrechts. Dieses stellt bis heute eine nichtkodifizierte Sammlung juristischer Normen dar, die einander hŠufig widersprechen und bei weitem nicht den gesamten Bereich der internationalen Beziehungen erfassen. Die neuen Probleme, die in den letzten Jahrzehnten aufgetaucht sind, haben dort bisher in der Regel keinen Eingang gefunden.

Im Lichte der Globalisierungsprozesse erscheint es z.B. immer dringlicher, das Prinzip der nationalen SouverŠnitŠt neu zu definieren. Das ist ein sehr delikates Problem. In einer Zeit der stŸrmischen Renaissance nationaler GefŸhle gewinnt die SouverŠnitŠt besonderes Gewicht. Trotzdem ist von allen Staaten mehr oder weniger anerkannt, da§ das Prinzip der absoluten SouverŠnitŠt heute in gewissen Bereichen nicht mehr funktioniert. Die wachsende Zahl internationaler VertrŠge, die Festlegungen zu verschiedensten Problemen - von der RŸstungsreduzierung bis zu Ma§nahmen im Umweltbereich - enthalten, demonstriert dies anschaulich. Die Staaten delegieren heute einen Teil ihrer souverŠnen Rechte an die internationale Gemeinschaft. Diese Praxis wird weiter um sich greifen und mu§ dringend juristisch fundiert werden.

Eine weitere, nicht weniger delikate Frage: Auch die bestehenden Normen des Všlkerrechts sind in der Regel nicht durch notwendige Ma§nahmen der Kontrolle ihrer DurchfŸhrung seitens der Mitglieder der Weltgemeinschaft untermauert. Aber die Globalisierung stellt neue Anforderungen im Sinne einer Art internationaler Verantwortlichkeit oder, wenn man so will, internationaler Disziplin. Was kann man in diesem Sinne tun? Dies ist eine neue Frage, die dringend der Eršrterung bedarf.

Man kšnnte weitere Bereiche nennen, wo die TŠtigkeit der UNO zu vervollkommnen ist. Das Wichtigste aber besteht darin, da§ die heutige Rolle der UNO in der Welt, ihre globale Bedeutung bekrŠftigt und neu fixiert werden mŸssen. Vor allem mu§ begriffen werden: Wie die Funktionsweise und Struktur dieser Organisation auch immer weiterentwickelt werden mšgen, sie kann nicht wirksam sein, ohne da§ alle Staaten ihre TŠtigkeit und ihre BeschlŸsse achten und respektieren. Das schlie§t eine der Rolle der UNO wŸrdige, termingemŠ§e Finanzierung ihrer TŠtigkeit ein. Zu diesem Thema sollte eine Sondertagung der UNO einberufen werden. Neben der UNO existieren heute faktisch auf allen Kontinenten verschiedene regionale Organisationen, die nicht selten den ganzen betreffenden Kontinent umfassen. Sie haben politische und in einigen FŠllen auch wirtschaftliche Funktionen. Da§ diese Organisationen entstanden sind, ist im Grunde genommen ebenfalls Ausdruck der Globalisierungstendenz, der Notwendigkeit, BeschlŸsse, die Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in der jeweiligen Region betreffen, stŠrker zu koordinieren. Zugleich gerŠt die Regionalisierung der Welt auch in einen gewissen Widerspruch zu ihrer Globalisierung. Es entsteht die Gefahr, da§ die wirtschaftliche und politische Konkurrenz zwischen einzelnen regionalen Organisationen wŠchst. Angesichts dessen glauben wir, da§ es unbedingt notwendig ist, eine wirksame Zusammenarbeit der regionalen Organe und Organisationen der UNO, ihres Sicherheitsrates und weiterer Strukturen zu organisieren. Dadurch wird es einerseits mšglich, ein gewisses einheitliches System von weltweiten und regionalen Instrumenten und BeschlŸssen aufzubauen, und andererseits zu erreichen, da§ die regionalen Organisationen besser zusammenwirken und nicht miteinander rivalisieren.

Im wirtschaftlichen Bereich ist eine Konkurrenz zwischen ihnen(wie auch zwischen einzelnen Staaten) nicht zu vermeiden. Aber internationale Wirtschafts- und Finanzorganisationen kšnnen dafŸr bestimmte Rahmen setzen. Das betrifft z.B. die Welthandelsorganisation (unter der Voraussetzung, da§ sie sich fŸr Gleichberechtigung und gegenseitige Respektierung der Interessen einsetzt). Mit den VerŠnderungen im WeltwŠhrungssystem und, mehr noch, der Verbreitung der Marktwirtschaft Ÿber den ganzen Erdball ist eindeutig die Zeit gekommen, die entsprechenden internationalen Organisationen, die vor einem halben Jahrhundert in Bretton Woods gegrŸndet wurden, zu reformieren.

Zu den regionalen Organisationen fŸr Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit drŠngt sich eine weitere Bemerkung auf. Diese Organisationen kšnnen gro§en Nutzen bringen. Aber nur dann, wenn sie dafŸr Ÿber die notwendigen Rechte und Instrumente verfŸgen. Auf das Problem der europŠischen Sicherheit und die Regionalorganisation fŸr Europa, die OSZE, kommen wir noch zurŸck.

  • Aber bereits hier sei gesagt: Gerade das Beispiel dieser Organisation beweist: Wenn sie Ÿber keine fest umrissenen Rechte, vor allem nicht Ÿber das Recht verfŸgt, fŸr alle Mitgliedstaaten bindende BeschlŸsse zu fassen, wenn die ihr zur VerfŸgung stehenden Instrumente schwach sind, ihre BeschlŸsse hšchstens Empfehlungscharakter tragen und sie lediglich Beobachter entsenden darf, dann kann sie nicht zu einem wirksamen Organ der Sicherheit und Zusammenarbeit werden.
  • Zur Rechtfertigung kšnnte angefŸhrt werden, da§ die OSZE aus dem Stadium ihres Aufbaus noch nicht recht herausgekommen ist. Sichtbar ist aber etwas anderes: Eine Reihe einflu§reicher Mitgliedstaaten unternimmt alles, damit sie keine echte Wirksamkeit erlangt. Die GrŸnde hierfŸr kšnnen verschiedene sein - von der mangelnden Bereitschaft, sich den BeschlŸssen der OSZE zu beugen, weil sie einem "lŠstig" erscheinen, bis hin zu der Absicht, die NATO als wichtigstes Sicherheitsorgan in Europa zu erhalten.
  • Und noch etwas. Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung zu finden, ist in unserer Zeit durchaus nicht nur Sache von Berufspolitikern. Die letzten Jahre, insbesondere das letzte Jahrzehnt, haben gezeigt, da§ dabei gesellschaftliche KrŠfte eine enorme Rolle spielen kšnnen und mŸssen.
  • Wissenschaftler, €rzte, Schriftsteller und GeschŠftsleute haben bei der †berwindung des Kalten Krieges eine hervorragende Rolle gespielt. Dies vor allem beim Erkennen der realen Gefahren, bei der Schaffung des notwendigen geistigen und psychologischen Klimas, das die Voraussetzung fŸr eine Politik der Entspannung, der Versšhnung, des Verzichts auf Konfrontation war.
  • Auch heute dŸrfen die gesellschaftlichen KrŠfte keine geringere Rolle spielen. Deshalb wollen wir hier einen frŸheren Vorschlag wiederholen: Bei der UNO sollte ein weltweiter Rat der Weisen geschaffen werden. Er kšnnte aus Menschen bestehen, die nicht an staatliche Funktionen gebunden sind, die von ideologischen und anderen Vorurteilen frei sind. Menschen, die in der Lage sind, die neuen Erscheinungen der Weltentwicklung objektiv zu bewerten und aus ihren Erkenntnissen praktische Empfehlungen abzuleiten.
  • Vielleicht sollte man auch darŸber nachdenken, Šhnliche RŠte oder analoge Foren als stŠndige Einrichtung in jeder gro§en Region, vielleicht auf jedem Kontinent, zu grŸnden. Die gigantische Welt der Wissenschaft und Kultur, mit ihrem unerschšpflichen Potential, ist in der Lage, das politische Denken wesentlich zu bereichern und BeschlŸsse zu initiieren, die sowohl den regionalen und nationalen Interessen als auch den Interessen der gesamten Menschheit entsprechen.


Version: 14.1.2017
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