Christian Dieckhoff, Anna Leuschner

Die Energiewende und ihre Modelle: Was uns Energieszenarien sagen kšnnen - und was nicht

(transcript, 2016)

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Die UnterschŠtzung des Klimawandels - Zum Einfluss nicht-epistemischer Werte auf die Klimamodellierung

Anna Leuschner


1 Einleitung

Komplexe Systeme wie das Klimasystem zu modellieren birgt viele Schwierigkeiten methodologischer und theoretischer Art; der Grund sind epistemische Unsicherheiten, die sowohl die Datenlage als auch kausale ZusammenhŠnge betreffen. Diese Unsicherheiten lassen SpielrŠume bei der Modellwahl zu, sodass ein Einwirken nichtepistemischer (z.B. politischer, moralischer oder škonomischer) Werte auf die Konstruktionen der Modelle mšglich wird.

Dies wird oft von sogenannten Klimaskeptikern als Beleg dafŸr beansprucht, dass die Ergebnisse der Klimaforschung, die in den Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) prŠsentiert werden, nicht glaubwŸrdig sind. So wird auf Basis der Modellunsicherheiten mitunter geltend gemacht,

In diesem Beitrag mšchte ich

Trotzdem liegt ausreichend empirisches Wissen vor, das die von den Modellen angezeigten Trends zuverlŠssig bestŠtigt.

Dies erklŠrt sich dadurch, dass ihre allgemeine Konstruktion einen Einfluss auf die Modellergebnisse hat. Doch kšnnten nicht auch andere als nicht-epistemische Werte dafŸr herangezogen werden, die epistemischen Unsicherheiten und die daraus resultierenden Modellunterbestimmtheit zu ŸberbrŸcken? Wenn das so wŠre, dann wŠre ein notwendiger Einfluss nicht-epistemischer Werte auf den Rechtfertigungskontext nicht gegeben. Parker schlŠgt vor, dass die LŸcken, die durch die epistemischen Unsicherheiten entstehen, nicht unbedingt durch nicht-epistemische Werte, sondern auch mittels "pragmatische Faktoren" geschlossen werden kšnnen.

ãMust their choice then either be arbitrary or determined by social values? No. Pragmatic factors can also fill the gap (Wendy Parker, "Values and uncertainties in climate prediction, revisited" (im Cache), page 27 in: Studies in history and philosophy of science 46, S. 24-30 2013).

Dies wirft allerdings verschiedene Probleme auf. Zum einen muss, selbst wenn eine Entscheidung im Modellierungsprozess pragmatisch nach Handhabbarkeit getroffen wird, dieser Entscheidung eine andere zugrunde liegen, nŠmlich die, dass es situativ gerechtfertigt ist, auf Basis rein pragmatischer GrŸnde Entscheidungen zu treffen. Eine solche Rechtfertigung erfordert aber ein AbwŠgen gegenŸber (nicht-epistemischen) Werten. Zum anderen kšnnen, wie schon erwŠhnt, bestehende Modelle oder Modellteile bereits in der Vergangenheit von (nicht-epistemischen) wertbasierten Entscheidungen beeinflusst worden sein und folglich (nicht epistemische) Werte unbemerkt transportieren (Eric Winsberg, "Values and uncertainties in the predictions of global climate models" (im Cache) S. 127 in Kennedy Institute of Ethics Journal 22(2), S. 111-137 (2012); Johannes Lenhard und Eric Winsberg,"Holism, entrenchment, and the future of climate model pluralism" (im Cache) in Studies in History and Philosophy of Modern Physics 41(3), S. 253-262 (2010)). Wenn ein solches Modellteil dann aus pragmatischen GrŸnden Ÿbernommen wird, werden auch die darin enthaltenen (nicht-epistemischen) Wertannahmen mit Ÿbernommen.

Zusammengefasst zeigt dies, dass sich der (nicht-epistemische) Werteinfluss aus der Klimamodellierung letztlich aufgrund der epistemischen Unsicherheiten und daraus folgenden Modellunbestimmtheiten nicht eliminieren lŠsst. Doch muss man sich vor Augen halten, dass hierbei lediglich Details der Ergebnisse betroffen sind - die groben Trends (die ErwŠrmung, der Meeresspiegelanstieg, die zunehmenden DŸrren und †berschwemmungen) sind klar, nicht zuletzt weil sie auch durch Befunde vieler anderer klimawissenschaftlich relevanter Forschungsbereiche wie z.B. diverser Bereiche der Biologie und Umweltwissenschaften, Geologie oder Paleoklimatologie bestŠtigt werden. Diese Trends dŸrfen folglich als zuverlŠssig gelten und werden dann durch die Modelle als Bandbreiten mšglicher Entwicklungen (gegeben den Wissensstand) angegeben. Unsicher ist jedoch (in verschiedenen, von den jeweiligen epistemischen Unsicherheiten abhŠngigem Ma§e), wo genau die RŠnder dieser Bandbreiten sind.

Die nicht-epistemische Beeinflussung des Rechtfertigungskontextes der Klimaforschung fŸhrt hier insofern zu Problemen, als von den Ergebnissen viele gesellschaftliche Interessen betroffen sind. So wird in der Klimaforschung oft von konservativer Seite vorgeworfen, sie neige zu hysterischen Warnungen. ... Wie weit dies zutrifft, wird im Folgenden untersucht.

3 Nicht-epistemische Werte in der Klimamodelierung: Konsequenzen

Im Gegensatz zum vielfach behaupteten Alarmismus der Klimaforschung finden sich seit einiger Zeit vermehrt Anzeichen dafŸr, dass die Klimaprognosen des IPCC den Klimawandel und seine Folgen systematisch unter-, nicht ŸberschŠtzen. Dies zeigen zum einen empirische Studien, die die Prognosen vergangener IPCC-Berichte im Lichte neuer Erkenntnisse ausgewertet haben, zum anderen die stetig wachsende Zahl der Berichte von KlimaforscherInnen; diese beklagen, ihre Forschung unter politischem Duck sowie Repressionen und Drangsalierungen durch organisierte Klimaskepsis nicht mehr frei und unbeeinflusst ausfŸhren zu kšnnen sowie zu einer UnterschŠtzung ihrer Ergebnisse zu neigen, um sich zu schŸtzen (Justin Biddle und Anna Leuschner, "Climate skepticism and the manufacture of doubt: Can dissent in science be epistemically detrimental?" (im Cache), European Journal for Philosophy of Science 5(3), S. 261-278 (2015); Lewandowsky et al., "Seepage: Climate Change Denial and its effect on the Scientific community" (im Cache), in: Global Environmental Change 33, S. 1 - 13 (2015).

Zu den empirischen Studien zŠhlt beispielsweise eine Untersuchung, die die Vorhersagen des dritten Sachstandsberichts zu Temperaturentwicklung, Meeresspiegelanstieg und der atmosphŠrischen CO2-Konzentration mit aktuellen Beobachtungsdaten abgeglichen hat und dabei zu dem Ergebnis kommt, das der Bericht nichts Ÿbertrieben und einige Klimawandelfolgen(z.B. den Meeresspiegelanstieg) sogar unterschŠtzt hat (Stefan Rahmstorf et al., "Recent climate observations compared to projections" (im Cache), Science 316, S. 709 (2007)). Eine Untersuchung des United Nations Environment Programme's Climate Change Science Compendium, in der mehr als 400 Fachpublikationen ausgewertet wurden, kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die Entwicklung der atmosphŠrischen CO2-Konzentration sowie verschiedener Klimawandelfolgen (unter anderem wieder des Meeresspiegelanstiegs) schwerwiegender seien als im vierten Sachstandsbericht de IPCC angenommen worden war (UNEP, 2009). Dasselbe zeigt in Bericht des U.S. National Research Council [NRC], die bislang in den IPCC-Berichten angenommenen CO2-Emissionen seien zu zurŸckhaltend gewesen.

"CO2 concentrations from fossil fuel burning and other sources are projected to increase from 2005 levels of 379 ppm to about 440 ppm by 2030 [...], committing the planet to additional warming. These projections are based on estimates that CO2 emissions in China increased at an annual rate of about 3 to 4 percent during the past 10 years (...]. but a subsequent province based inventory concluded that emissions actually increased at a higher rate of about 10 to 11 percent (...]. For comparison, total fossil fuel emissions from the United States increased by about 11 percent over the entire 10-year period. Emissions from a number of other developed countries were also higher than agreed-to targets. These disparities between projected and actual emissions underscore the large uncertainties inherent in projecting CO2 and other greenhouse gas emissions, particularly beyond a decade. The Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) projections may have been too conservative in other cases as well. For example, [...] the retreat of summer Arctic sea ice and snow extent [...] and melting of the Greenland and Himalayan-Tibetan glaciers [...] may also be larger and faster than predicted." (NRC, 2009. S. 11-133)

Diese stetige UnterschŠtzung des Klimawandels und seiner Folgen zeigt sich bildlich an der Entwicklung des sogenannten ãburning embers"-Diagramms. Es illustriert die

  1. Risiken fŸr einzigartige und bedrohte …kosysteme,
  2. HŠufigkeit und Schweregrad extremer Wetterereignisse,
  3. die globale Verteilung von Klimawandelfolgen
  4. die škonomischen und škologischen Gesamtfolgen des Klimawandels und
  5. irreversible, gro§skalige und abrupte BrŸche) durch das IPCC.


Abbildung 1: Die erste Version aus dem dritten Sachstandsbericht des IPCC
Figure SPM-2, Seite 5, TAR WG II, SPM 5


Abbildung 2: Die aktuelle (2014) Version des Diagramms aus dem fŸnften Sachstandsbericht des IPCC (Fig19-4). Es ist zu beachten, dass die Baseline geringfŸgig geŠndert worden ist (von 1990 zu 1986-2005). Interessant ist insbesondere, dass nun eine weitere Kategorie ("very high risk") eingefŸhrt werden musste, die durch die Farbe Lila symbolisiert wird.
Box SPM-1 Fig1 (IPCC, 2014, WG II, ch. 19, S. 1073-1074)

Das Diagramm Figure SPM-2, Seite 5 (linkes Bild), welches im dritten Sachstandsbericht (TAR) eingefŸhrt worden war (IPCC, 2001, WG II, SPM 5), wurde 2009 in einer Veršffentlichung der Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States aktualisiert (Joel Smith et al. "Assessing dangerous climate change through an update of the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) "reasons for concern" (im Cache) in: Proceedings of the National Academy of Sciences 106(11), S. 4133-4137 (2009) und im fŸnften Sachstandsbericht des IPCC nochmals Ÿberarbeitet (rechtes Bild) und auf den neuesten Stand gebracht (IPCC, 2014, WG II, ch. 19, S. 1073-1074).

FŸr diese kontinuierliche UnterschŠtzung der Risiken gibt es sicherlich verschiedene GrŸnde. ZunŠchst ist wichtig zu beachten, dass die Entwicklung der Risikobeurteilung zu einem Gro§teil schlicht der Verbesserung des Wissensstands Ÿber die betroffenen Sozial- und …kosysteme geschuldet ist." Allerdings impliziert dies, dass das, was als Wissensstand zŠhlt, durchgŠngig (zu) zurŸckhaltend angesetzt war, was vermuten lŠsst, das negative Befunde tendenziell vernachlŠssigt worden waren. Dies mag an einer grundsŠtzlichen Neigung von WissenschaftlerInnen liegen, in ihrer Arbeit zurŸckhaltend zu verfahren (Keynyn Brysse et al., "Climate change prediction: Erring on the side of least drama" (in cache), in: Global Environmental Change 23(1), S. 327-337 (2013))

[Anm. Joachim Gruber: siehe auch M. Oppenheimer et al., "Discerning Experts - The Practices of Scientific Assessment for Environmental Policy"].

Entsprechend bevorzugen Wissenschaftler ohnehin tendenziell falsch-negative gegenŸber falsch-positiven Fehlern5 ... Ein weiterer Faktor scheinen die gesellschaftlichen Bedingungen -insbesondere die klimaskeptischen Anfeindungen- zu sein, denen Klimawissenschafler ausgesetzt sind (William R. Freudenburg and Violetta Muselli, "Global warming estimates, Media expectations, and the asymmetry of scientifc challenge" (im Cache) in Global Environmental Change 20, S. 483-491 (2010), Lewandowski et al., Srdan Medimorec and Gordon Pennycook, "The language of denial: Textanalysis reveals differences in language use between climate change proponents and skeptics" (im Cache) in Climate Change 133, S. 597-605 (2015))


3 Weitere Studien, die diesen Trend bestŠtigen, finden sich bei Brysse et al. (2013)
4 Dies betonen auch Smith et al. (2009).


FehlschlŸsse beim Argumentieren mit Szenarien
Gregor Betz

3 Probabilistische FehlschlŸsse

Die im Folgenden besprochenen FehlschlŸsse stellen SpezialfŠlle von Hanssons Tuxedo Fehlschluss dar (Sven Ove Hansson, "From the casino to the jungle in Synthese 168(3) S.423-432 (2009)), d.h. des Fehler, davon auszugehen, dass Wahrscheinlichkeiten immer zuverlŠssig bestimmt werden kšnnen.

3.1 Frequentischer Fehlschluss

Wissenschaftliche Gutachten und Sachstandsberichte machen in zunehmendem Ma§e von mehreren Modellen Gebrauch, um Szenarien aufzustellen und zu analysieren. Dabei ist es fehlschlŸssig, Wahrscheinlichkeitsprognosen aus sogenannten multimodel ensembles (wie etwa Ensembles von Klima- oder Energiemodellen) herzuleiten, indem die (mšglicherweise gewichteten) relative HŠufigkeiten des Modell-Ensembles als Wahrscheinlichkeiten interpretiert werden.

Warum handelt es sich um einen Fehlschluss? Das Argument setzt voraus, dass

Beide Annahmen sind unbegrŸndet (vgl. Reto Knutti et al., "Good practice guidance paper om assessing and combining multi model climate projections" (im Cache) in: Meeting Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change Expert Meeting on Assessing and Combining Multi Model Climate Projections, Thomas Stocker et al. (eds), WG I Technical Support Unit, University of Bern (2010); Wendy Parker, "Predicitng weather and climate: Uncertainty, ensembles and probability" (im Cache) in: Studies in History and Philosophy of Modern Physics 41(3) S. 263-272 (2010)). (Wenn das Argument bayesianisch rekonstruiert wird, so entsprechen die aufgefŸhrten Schwierigkeiten jewels dem Problem der Prior-Wahrscheinlichkeit und dem Problem der Bewertung der Catch-All-Hypothese.)

Beispiel
In einer Meta-Studie betrachten Volker Krey und Leon Clarke ("Role of renewable energy in climate mitigation: a synthesis of recent scenarios" (im Cache) in: Climate Policy 11(4), S. 1-28 (2011)) 162 globale Energieszenarien, welche das CO2-Reduktionspotential sowie die Kosten erneuerbarer Energien abschŠtzen. Doch anstatt die 162 Szenarien als blo§e Mšglichkeiten anzusehen, schlussfolgern die Autoren aus den Ensemble-Ergebnissen eine probabilistische Konklusion und begehen damit den Frequentistischen Fehlschluss:

ãHence, although there is no obvious silver bullet, there is an indication that some renewable energy sources are more likely to play an important role than others."

In seinem methodologisch sehr sorgfŠltigen Special Report on Renewable Energy Sources and Climate Change Mitigation verwendet und interpretiert das IPCC die Ergebnisse von Krey und Clarke (Volker Krey and Leon Clarke, "The role of renewable energy in climate mitigation: a synthesis of recent scenarios" (2011)) indessen umsichtig und ohne dabei den Frequentischen Fehlschluss zu begehen (Manfred Fischedick et al., "Mitigation potential and costs", Chapter 10, S. 791-864 in Renewable Energy Sources and Climate Change Mitigation, IPCC Special Report (2012))


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