Langzeitsicherheit eines Endlagers für hochradioaktiven Abfall kann zurzeit nicht gewährleistet werden.
Eine Systemkritik von Dr. Joachim Gruber
Deutschland ist mit wesentlichen Teilen seiner nuklearen Endlagerforschung um Jahrzehnte rückständig, und das liegt an Fehlern im System.
Mit einer Öffnung des Systems täten wir einen ersten Schritt hin zu einer intelligenten, freien Endlagerforschung.
Das möchte ich in den kommenden Minuten erläutern.
Bei der Sicherheit von nuklearen Endlagern geht es um zwei Komponenten, die Standsicherheit der Grube und die Langzeitsicherheit des Endlagers:
- die Standsicherheit des Grubengebäudes und seine Abschottung von der Biosphäre während der Beladung mit hochaktivem Abfall muß über maximal ein Jahrhundert gewährleistet sein und ist Sache von Bergbauingenieuren und ihrer weitgehend ausgereiften Technik.
- die Langzeitsicherheit ist die Sicherheit der Isolierung des nuklearen Abfalls über eine Million Jahre.
Im Fall der Langzeitsicherheit befinden wir uns im Stadium der frühen Grundlagenforschung. Ich möchte das Ausmaß unserer Unkenntnis mit einem Vergleich deutlich machen: Autobauer verstehen heute ihr Fach umfassender als wir Wissenschaftler die Langzeitsicherheit. Versetzen wir uns ins Jahr 1765: James Watt stellt in diesem Jahr seine erste funktionierende Dampfmaschine vor. Die explodiert allerdings noch zu häufig.
Damals war der Autobau soweit von seinem Ziel entfernt, wie wir heute von der Langzeitsicherheit von nuklearen Endlagern.
- Der Verbrennungsmotor liegt noch ein Jahrhundert jenseits des Horizonts,
- das sichere Autofahrwerk ein weiteres Jahrhundert.
- In den beiden Jahrhunderten mündet die Grundlagenwissenschaft in eine Technik, und
- erst nachdem die Technik ihre Kinderkrankheiten ablegt, liefert sie die Verläßlichkeit des heutigen Autobaus.
Würden wir heute ein Enlager bauen, wäre das so, wie wenn James Watt die damaligen deutschen Straßen mit 40 Millionen Dampfwalzen bestückt hätte, von denen täglich welche explodierten.
- Das nukleare Establishment hat schon Sicherheitskomponente (1), in der Asse, fehleingeschätzt, obwohl das Problem im Bereich einer erprobten Ingenieurstechnik liegt. Wieso lassen wir Wissenschaftler jetzt schon den Bau eines Endlagers zu? Das ist die erste Frage, die Frage nach den Fehlern im Status Quo.
- Die zweite Frage ist: Mit welchen Mitteln können wir den Status Quo erschüttern? Das ist die Frage nach einer Systemveränderung.
- Frage #3 ist: Warum finden sich in den Reihen des nuklearen Establishments keine Systemkritiker, die nach außen treten? Fehlt ein gesetzlicher Schutzrahmen für sie, ein Whistleblowerschutz?
Ich werde im folgenden Akteure benennen (Politiker und Wissenschaftler) und Vorgänge. Meine Kritik gilt den Schwachstellen im System. Sie soll nicht ethisch-moralischer Appell sein.
Nun also zur ersten Frage: Wo liegen Fehler des Status Quo?
- Die Politik ...
- ... vergibt Forschungsaufträge gezielt an ihr genehme Institutionen (z.B. die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, GRS). Weder die fachlich qualifizierte noch die allgemeine Öffentlichkeit fordert Rechenschaft von den beteiligten Wissenschaftlern (anders als in den USA). Und so kommt es, daß Ziele, Methoden und Ergebnisse nur innerhalb einer engen, durch die Politik abgesteckten Gemeinde kommuniziert werden.
In den USA fordert und lebt der Wissenschaftler traditionell mehr Freiheit und Kommunikation: So wie die deutsche Politik die Endlagerforschung, so hat die Bush-Administration alle Naturwissenschaften gegängelt. Daraufhin haben mehr als 15000 amerikanische Wissenschaftler ihre Legislative (den Congress) auf diese Unterhöhlung des amerikanischen wissenschaftlichen Standards aufmerksam gemacht.
- ... läßt wissenschaftliche Zwischenergebnisse zu Lösungen umdeklarieren. Wie relevant diese Ergebnisse tatsächlich sind, und wie nahe sie uns einer sicheren Endlagerung bringen, kann kein Wissenschaftler sagen, weil kein Wissenschaftler die volle Komplexität kennt. Erst die Techniker gewinnen mit ihrer Methode des "trial and error" einen Einblick in die relative Bedeutung der einzelnen Prozesse, auf die die Wissenschaft aufmerksam gemacht hat.
Mit anderen Worten: Ein Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft läßt sich von einer fachlich weniger qualifizierten Politik dazu bewegen, den notwendigen Entwicklungsprozeß abzukürzen.
Beispiel: Die Strahlung des hochradioaktiven Abfalls lädt das Steinsalz mit Energie auf. Wir wissen wenig über die Menge der Energie und die Auswirkung auf die Langzeitsicherheit, wenn sie sich entlädt. Außerdem besteht zum jetzigen Zeitpunkt kein Handlungsbedarf. Trotzdem erklärt die Wissenschaft des nuklearen Establishments das Problem als unerheblich.
- Der deutsche Endlagerwissenschaftler ...
- ... unterscheidet nicht zwischen staatlicher Förderung und politischer Einengung bis hin zur Korruption seiner Wissenschaft. Das liegt an seiner Isolation: Intransparenz und Kommunikationsbarrieren aus Zeiten vor den social media Technologien schirmen seine Arbeit von der Gesellschaft ab.
- ... steht mit dem Problem allein, wenn die Politik seine Ergebnisse falsch auslegt oder verwendet.
- ... braucht für seine Arbeit ein hohes Maß an Konzentration. Um sich den Freiraum dafür zu schaffen, handelt er in vorauseilendem Gehorsam, wenn ihm das als geraten erscheint.
Während meines Jahrzehnts in den USA habe ich erfahren, daß die amerikanische Kultur -wesentlich ausgeprägter als die deutsche- selbstbewußte, autonome Arbeit schätzt. Ein damit zuweilen einhergehender Verlust von Position und Einkommen wird als Zielstrebigkeit und nicht als Mißerfolg gewertet.
- ... arbeitet nur ausnahmsweise für längere Zeit im Ausland. Eine Kulturbarriere beschränkt sein wissenschaftliches Gesichtsfeld. Beispiel: die Mitglieder des Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AkEnd). Im Gegensatz dazu sucht der Industriewissenschaftler den intensiven internationalen Austausch, um sein Produkt zu verbessern.
Ich beobachte in der Langzeitsicherheitsforschung eine schon Jahrzehnte andauernde Rückständigkeit. Das ist eine gravierende Folge der selbstgewählten wissenschaftlichen Isolation: Deutsche Modelle schließen immer noch wesentliche Abläufe aus, die zum Versagen von Endlagern führen, obwohl sie in der internationalen fachübergreifenden Literatur dokumentiert sind. In der Systemtheorie werden sie als Selbstorganisation bezeichnet.
Beispiel 1: An der Indiana University Bloomington hat die international sehr angesehene Arbeitgruppe um Peter J. Ortoleva im Jahr 2002 ein mögliches immer wiederkehrendes Bersten von Endlagerbarrieren vorhergesagt,
- ein Oszillieren zwischen Öffnen und Schließen in geologischen Zeiträumen.
- Treibende Kraft für die Oszillation ist der Druckaufbau durch Kohlenwasserstoffe.
- In den langen Zeiten zwischen dem Bersten sehen die Barrieren intakt aus.
- Damit widerspricht Ortoleva einem weit verbreiteten pauschalen Argument, das die Endlagergeologen verwenden:
--- Wenn eine geologische Formation einige Millionen Jahre alt ist, dann bleibt sie über weitere etwa eine Million Jahre genau so, wie wir sie gerade angetroffen haben. ---
Der Grund dafür: Anders als der anfangs erwähnte Ingenieursbergbau hat die deutsche Endlagergeologie exakte Wissenschaften, wie Physik und Mathematik, noch nicht ausreichend eingebunden, und das möglicherweise deshalb, weil unzureichend Öffentlichkeit hergestellt wird, die das einfordern könnte.
Beispiel 2: Es gibt geochemische Vorgänge, welche es den Radionukliden ermöglichen, sich wieder zu sammeln (aufzukonzentrieren), nachdem sie das Endlager verlassen haben. Eine geringfügige Leckage kann sich auf diesem Weg zu einem sekundären Radionuklidlager. Man kann den Vorgang mit folgendem Experiment nachbilden:
- Man spannt ein Leinentuch und neigt die Fläche des Tuchs leicht schräg nach unten. Dann gibt man einen Tropfen wasserlöslicher Farbe darauf.
- Nach kurzer Zeit hat sich der Tropfen zu einem nach unten verlaufenden Fleck ausgebreitet, in dem die Farbtiefe nach außen hin abnimmt. Bis hierhin reichen die deutschen Modelle der Radionuklidausbreitung. Der nächste Schritt wird in den Modellen von vornherein ausgeschlossen, und der ist ...
- ... Wasser anderer Zusammensetzung, also z.B. reineres Wasser, verlagert Farbe vom Zentrum an den Rand des Flecks, d.h. unter dem Einfluß von solchem Wasser bildet sich ein Ring höherer Farbtiefe. In der Mathematik wird er als Schockwelle bezeichnet.
In diesem Analogversuch ist die Farbe die aus dem Endlager austretende radioaktive Kontamination und das Leinentuch das Gestein um das Endlager. Da das Gestein im Gegensatz zum Tuch nicht homogen ist, verteilen sich die Radionuklide nicht kreisförmig sondern in Adern und sammeln sich in Wolken (dem Analog zum Ring auf dem Leinentuch). Es bildet sich das erwähnte sekundäre Radionuklidlager.
- Weil sich beim hier beschriebenen Experiment normalerweise Fleckenränder bilden, und
- weil im Gestein solche Schockwellen beobachtet wurden (man sollte sie auch in den Bodenschichten der Biosphäre suchen),
muß man sicherheitshalber davon ausgehen, daß die Bildung sekundärer Radionuklidlager der Normalfall ist. Genau das geschieht aber in Deutschland bei der Berechnung der Langzeitsicherheit nicht (Beispiele).
Auf diese Weise können gefährliche Mengen des hochaktiven Abfalls im Grundsatz alle Barrieren durchbrechen und in die Biosphäre eindringen.
Diese beiden Prozesse (das periodische Bersten der Barriere und die Metastasenbildung) schließt die GRS -wahrscheinlich aus Unkenntnis- von vornherein aus, weil sie sich zu einfache Endlagermodelle macht. Und deswegen ist sie heute nicht in der Lage, zeitgemäße Arbeiten zur Erforschung der Langzeitsicherheit zu formulieren. Trotzdem setzt die Politik sie dafür ein.
- Der dritte Akteur -nach dem Politiker und dem Wissenschaftler- ist die deutsche Öffentlichkeit:
Solange sie sich auf dem Gebiet der Langzeitsicherheitsforschung die Mittel zur Kontrolle ("Open Data", s.u.) auf ganz ähnliche Weise vorenthalten läßt, wie im Fall von "Stuttgart 21", kann sich diese gefährliche Einseitigkeit der Wissenschaft halten.
Um es noch einmal zusammenzufassen:
Die dargestellten Systemfehler sind charakteristisch für einen Wissenschaftszweig,
- der unter starker politischer Einflußnahme arbeitet,
- dessen Vorhersagen sich nicht daran messen können, ob sie eintreten oder nicht,
- der von der übrigen Fachwelt gemieden wird, also isoliert arbeitet und
- dessen Ergebnisse die Öffentlichkeit nicht kontrolliert.
Wie können wir diesen mißlichen Status Quo erschüttern?
(2) Die Rolle von Open Data
Hier kommt das Open-Data-Konzept herein.
Insbesondere werden sich voraussichtlich folgende Fortschritte einstellen:
- Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit und der Fachwelt:
Open Data in der Wissenschaft wird alle öffentlich finanzierten Forschungsarbeiten im Internet entgeltfrei und in von Computern durchsuchbarem Format zugänglich machen. Die Folge ist:
- Gesteigerte Kommunikationsbereitschaft:
Einen Einblick in die in den USA gelebte Freiheit der Wissenschaft und Kommunikation vermitteln die im Internet vorgehaltenen Vorlesungen der Princeton University (Webmedia), des Massachussetts Institute of Technology (MITWorld), die VideoLectures.ne und TED - Ideas worth spreading.
Erst nachdem Deutschland unter Begleitung durch Open Data seinen Rückstand auf dem hier betrachteten Gebiet aufgeholt hat, sind die geochemisch/geologischen Voraussetzungen dafür gegeben, die Exploration von Endlagern zu beginnen.
(3) In Deutschland fehlt der Whistleblowerschutz.
- In den USA steht ein öffentlich Angestellter unter einem Whistleblowerschutz, der in allen Umweltgesetzen und dem Atomgesetz verankert ist (siehe Title II, Nuclear Regulatory Commission: Nuclear Whistleblower Protection, Sec. 206. "Noncompliance" (42 USC 5846) und Sec. 211. "Employee Protection" (42 USC 5851) in Atomic Energy Act of 1954 and Energy Reorganization Act of 1974). Ein solcher Schutz ist im deutschen Atomgesetz nicht zu finden. Es ist daher schwer für die deutsche Rechtsprechung, einen Whistleblower als solchen zu erkennen, zu benennen und zu schützen. Ich habe selbst erlebt, daß sogar renommierte Rechtsanwälte einen solchen Fall ablehnen.
- Zur Zeit fehlt der deutschen Endlagersicherheitsforschung noch die Ankopplung an die Öffentlichkeit. Daher
- wendet sich der Whisleblower zuerst an die allgemeine Öffentlichkeit, also die Medien. Die bringen erhebliche fachliche Unschärfe und Verwirrung hinein, wodurch eine problemorientierte Auseinandersetzung geradezu ausgeschlossen wird.
- findet der Whistleblower nur mit Glück eine fachlich qualifizierte Öffentlichkeit, weil die (a) wegen der Kommunikationsbarrieren nicht in ausreichendem Maße existiert und (b) die wenigen Sachkundigen keine Veranlassung sehen, ein unkalkulierbares persönliches Risiko einzugehen, indem sie dem Whistleblower Gehör schenken.
- ist der Whistleblower -wegen der Überschaubarkeit der Gruppe der Eingeweihten- auf Grund der Kompetenz seiner Kritik leicht zu entdecken.
Ein gesetzlich verankerter Whistleblowerschutz ist somit eine notwendige Ergänzung zu Open Data.
(4) Links zur Vertiefung
Version: 11.11.2018