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Nachhilfe beim Bombenbau

Wegen mangelnder Kontrolle konnte Brasilien deutsche Atomtechnik militärisch nutzen
Von Wolfgang Hoffmann und Carl D. Goerdeler


  • Von: Wolfgang Hoffmann und Carl D. Goerdeler
  • Datum: 28.7.1989 - 14:00 Uhr

Die SPD-Abgeordneten Hermann Bachmaier und Hermann Scheer sind sich ihrer Sache ganz sicher. Nach ihnen vorliegenden Dokumenten haben sie keinen Zweifel mehr, daß sich Brasilien mit deutscher Hilfe militärisches Atom-Know-how verschafft hat. Von der Bundesregierung forderte das SPD-Duo daher Ende vergangener Woche, „sämtliche Lieferungen sensitiver Atomtechnologie an Brasilien einzustellen und alle bisher erteilten Ausfuhrgenehmigungen zurückzuziehen".

Regierungssprecher Hans Klein mochte sich mit diesem jüngsten Bonner Atom-Eklat gar nicht recht befassen. Er sprach vom Versuch, „irgendein Sommertheater" erfinden zu wollen, von „Unfug" und nahm Brasilien sogar ausdrücklich gegen die Angriffe deutscher Parlamentarier in Schutz. Minister Klein kritisierte, daß ein „großer, wichtiger und befreundeter Staat abqualifiziert, in Verdacht gezogen und verleumdet wird".

Die eilfertige Verteidigung Brasiliens durch den Bonner Regierungssprecher steht allerdings auf tönernen Füßen, sie ist bestenfalls Ausdruck eines seit vierzehn Jahren währenden accordo nuclear, wie man in Brasilien den 1975 unter der Regierung- Schmidt abgeschlossenen deutsch-brasilianischen Atomvertrag nennt. Neben der Lieferung von acht Kernkraftwerken des Typs Biblis sieht er den Know-how-Transfer eines kompletten Atompakets vor: Vom Uranabbau bis zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen sollte Brasilien alles bekommen, was es zur friedlichen Nutzung der Kernenergie braucht. Das Volumen des bisher größten deutschen Nukleargeschäfts belief sich auf zwölf Milliarden Mark (Preisstand 1975).

Umstritten war der Handel von Anfang an. Zum einen, weil man den Militärs der damaligen Diktatur Brasilien generell mißtraute, zum anderen, weil Brasilien den Atomwaffensperrvertrag — bis heute — nicht unterschrieben hat. In diesem Vertrag verpflichten sich die Unterzeichner, alles zu tun, um eine Weiterverbreitung der atomaren Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Hauptkritiker des deütsciirbräsiliaiiischen '"Atomhandels war die US-Regierung mit der hinter ihr stehenden amerikanischen Atomlobby, die sich von der deutschen Konkurrenz ausgebootet fühlte. Der amerikanische Druck auf Bonn war so groß, daß die Bundesregierung mit Brasilien ein trilaterales Zusatzabkommen schloß. Darin erklärten sich beide Länder bereit, alle deutschen Lieferungen inklusive der mit deutscher Hilfe entstehenden Anlagen durch einen dritten Partner — die Internationale Atom-Energieagentur in Wien (IAEA) — kontrollieren zu lassen. Damit glaubte Bonn, dem Geist des Atomwaffensperrvertrags gerecht zu werden.

Insider wunderten sich allerdings schon damals, weshalb Brasilien sich für die deutschen Atom- Angebote und nicht für die aus den USA und Kanada entschieden hatte. Vor allem das kanadische Angebot war um gut eine halbe Milliarde Mark billiger als das deutsche. Inzwischen kennt man die Motive der damaligen Militärs in Brasilia sehr genau. Die kanadische Regierung hatte — ebenso wie die amerikanische — von Brasilien verlangt, sogenannte füll scope safeguards zu akzeptieren. Brasilien hätte sämtliche Nuklearanlagen (vorhandene wie zukünftige) der Kontrolle durch die IAEA unterwerfen müssen. Laut Abkommen mit Bonn öffnen sich den Inspizienten aus Wien aber nur jene Türen, hinter denen sich deutsches Knowhow befindet. Der etwas teurere accordo nuclear mit weniger scharfen Kontrollen ermöglichte Brasilien mithin, ungehindert und unbeobachtet ein autonomes Atomprogramm aufzubauen.

Dies ist geschehen. Und Bonn hat auch schon das Scheitern der Nichtverbreitungspolitik eingestanden. Im November 1986 wird im Auswärtigen Amt intern vermerkt: „Unsere These, durch Kooperation nukleare Nichtverbreitungsziele zu erreichen, wird durch das brasilianische Beispiel fragwürdig. Kritiker, sowohl im Ausland wie intern, werden darauf verweisen, daß unsere Zusammenarbeit mit Brasilien nicht nur keine wesentlichen nichtverbreitungspolitischen Erfolge erbracht, sondern sogar zur Forderung eines unkontrollierten Nuklearprogramms beigetragen habe."

Was da im nachhinein vom Auswärtigen Amt aufgezeichnet wurde, wußten andere schon vorher. Noch vor Vertragsabschluß 1975 haben zuständige Referenten in einer Ministervorlage (vom 8. 8. 1974) notiert: „Der Abschluß eines Sicherheitskontrollabkommens gibt gegen eine vertragswidrige Verwendung der Anlagen keine absolute Sicherheit. . . Die Gefahr, daß sich ein Staat später über eingegangene Verpflichtungen hinwegsetzt, ist nicht von der Hand zu weisen." Die damaligen Minister Hans Matthöfer (Forschung) und Hans Friderichs (Wirtschaft) ignorierten die Bedenken und gaben sogar Order, „die graue Zone bis zu einer konkreten amerikanischen Initiative optimal zu nutzen, d.h. die Exportgenehmigungen für den gesamten sensitiven Bereich zu erteilen".

Dabei hatte Brasilien von Anfang an die Absicht, das zivile Abkommen militärisch auszubeuten. Freimütig bekannte der frühere brasilianische Marineminister Maximiano da Fonseca 1987 dem Evangelischen Pressedienst in einem Interview: „Natürlich war die Anzahl der bestellten Atomkraftwerke viel zu hoch. Es war klar, daß die Deutschen damit Geld verdienen wollten. Also, ich sagte mir damals, wenn wir die Dinger kaufen sollen, gut, aber dafür verschaffen die uns die Technologie, die wir wirklich haben wollen." Welche Technologie er meinte, sagte Fonseca an anderer Stelle des Gesprächs: „Eine Atombombe muß Brasilien testen."

Kenner des Landes verweisen auch darauf, daß das zivile Atomprogramm Brasiliens längst von untergeordneter Bedeutung ist, und das nicht nur wegen der mangelnden Liquidität des hochverschuldeten Landes. Statt acht Kernkraftwerken werden nur zwei realisiert, eines (Angra II) ist im Bau, für ein weiteres (Angra III) gibt es nur eine offene Baugrube. Auch die meisten anderen Pläne sind eingeschlafen. Auf dem Papier aber hat Brasilien das ganze Know-how, ebenso in den Köpfen des Personals, das großenteils in der Bundesrepublik ausgebildet wurde und schon teilweise (350 Mann, behauptet MdB Bachmaier) in das autonome Nuklearprogramm übergewechselt ist.

Daß dieses autonome Programm militärischen Zwecken dient, liegt nahe, weil es keiner internationalen Kontrolle mehr unterliegt. Doch Bonns Regierungssprecher will nichts davon wissen. Offenbar nimmt er für bare Münze, was in Artikel 21 der brasilianischen Verfassung steht: „Jegliche Nuklear-Aktivität auf nationalen Territorium ist nur für friedliche Zwecke und mit Zustimmung durch den Nationalkongreß gestattet." Als sei Klein Botschafter Brasiliens, wiegelt er ab: „Es gibt keinen Hinweis darauf, daß im Rahmen des autonomen Programms (Brasiliens) Atomwaffen hergestellt werden." Dabei müßte Klein die Akten besser kennen. Am 3. Februar 1987 berichtete der Bundesnachrichtendienst aus Pullach in einer Verschlußsache (Akten des BMWi Tgb. Nr. 3/88 Bd. 7a S. 171ff): „Das Parallelprogramm ist eindeutig auf militärische Zielsetzung ausgerichtet."

Begonnen wurde damit etwa zur Zeit des mit Deutschland abgeschlossenen accordo nuclear. Erklärtes Ziel der Militärs war, unter Umgehung internationaler Kontrollen an militärisches Knowhow zu gelangen. Falls notwendig, wollte man sich die Materialien auch heimlich aus dem Ausland besorgen. Schließlich haben die brasilianischen Generäle beste Auslandskontakte — Brasilien ist der Welt fünftgrößter Waffenexporteur.

Es war eine Sensation, als Reporter der Tageszeitung Folhd des Säo Paulo im August 1986 herausfanden, daß die Streitkräfte in der Abgeschiedenheit Amazoniens ein komplettes Atomwaffenversuchsgelände errichtet hatten, vergleichbar mit dem der USA in der Mojave-Wüste. Wenig später wurde bekannt, daß auf den Konten der Banco do Brasil unter mysteriösen Decknamen Millionenbeträge transferiert wurden, deren Spur von der Nationalen Atomenergiekommission zur Marine führte. Chef dieser Kommission ist Ex-Offizier Rex Nazareth, ein arbeitswütiger Mann, von seinen Mitarbeitern Dr. Strangelove genannt. Nazareth hat bis heute alle Regierungswechsel überlebt, er genießt das Vertrauen der Militärs, aber auch das der deutschen Industrie, die gern jeden Wunsch erfüllt. Nazarethallein kennt alle zivilen und militärischen Atomprojekte.

Der Zweck der geheimen Marine-Finanzierung ist mittlerweile bekannt. Die Admiräle wollen sich — wiederum mit deutscher Hilfe — den Wunsch nach einem atombetriebenen U-Boot erfüllen, das 1995 unter Wasser gehen soll. Allerdings reich: die im deutsch-brasilianischen Atomprogramm vereinbarte Uran-Anreicherungsanlage nicht aus, um das für den Atomantrieb benötigte hochangereicherte Uran zu gewinnen. Als man dies merkte, suchte die Marine nach Alternativen. Sie wurde per Zufall fündig.

Bereits 1954 hatte Admiral Alvaro Alberto drei primitive Modelle einer Ultrazentrifuge von der Universität Göttingen erstanden, mit denen man Kleinstmengen hochangereichertes Uran gewinnen kann. Dieser sogenannte „Schokoladenmixer" vergammelte in einer Besenkammer der Universität Säo Paulo, bis sie der Student Ivo Jordan für seine Doktorarbeit am Forschungsinstitut der Marine flottmachte. Und das genügte dann. Am 4. September 1987 meldete Präsident Jose Sarney: Brasilien beherrsche nun den vollen Atomkreislauf von der Urangewinnung, der Reinigung, Anreicherung, über die Kettenreaktion bis hin zur Wiederaufarbeitung. Von hier aus bis zur neuen Nuklearmacht ist es nur noch eine Frage der Zeit, die Brasilien im übrigen nutzt. Das Atomprogramm Brasiliens arbeitet auch schon intensiv an Trägerraketen, für die Deutsche gleichfalls Starthilfe leisten — die Deutsche Forschungsund Versuchsanstalt für Luftund Raumfahrt (DLR).

Daß Brasilien ungeachtet seiner desolaten Finanzlage keine Kosten scheut, das militärische Parallel-Atomprogramm immer üppiger auszustatten, fiel dem Auswärtigen Amt in Bonn schon auf. Es warnte intern: „Die Verschiebung von Haushaltsmitteln, Personal und Know-how in das Parallelprogramm könnte eine Austrocknung der zivilen Nuklearaktivitäten zur Folge haben."

Im August vergangenen Jahres wurde Brasiliens Atomprogramm umgekrempelt. Die für die deutsch-brasilianische Kooperation zuständige Nationale Atomenergiekommission wurde einem von den Militärs beherrschten Nationalen Rat der Nuklearpolitik unterstellt. Das Auswärtige Amt vermerkt dazu: „Auf brasilianischer Seite wird jetzt die vollzogene Umstrukturierung als klare Haltung der Regierung zugunsten der weiteren Entwicklung zum autonomen Nuklearprogramm angesehen." Motto der Aktion: Der Mohr — die Bundesrepublik — hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Beamte des Auswärtigen Amtes mahnen ihre politische Leitung: „Wir müssen darauf achten, daß durch die Umstrukturierung keine von uns gelieferte Technologie den bisher gültigen IAEA-Kontrollen entzogen wird."

Praktische Konsequenzen wurden aus diesen Vermerken nicht gezogen. Nach Auskunft des Bonner Außenamtes haben sie nur „vorsorglichen" Charakter, mit dem eine „erhöhte Aufmerksamkeit" dokumentiert werde. Auch nur vorsorglich wurde im Bonner Wirtschaftsministerium die Frage erörtert, ob denn überhaupt noch Genehmigungen für die Ausfuhr von Atomgütern nach Brasilien erteilt werden könnten. Die Antwort fiel positiv aus. Die Bundesregierung sieht gegenwärtig keinen Anlaß, die Atom-Zelte abzubrechen, wie die SPD-Abgeordneten Bachmaier

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und Scheer und der Grüne Wolfgäng Daniels das fordern. Der Wirtschaftsminister bleibt bei seiner liberalen Haltung, im Zweifel den Export zugunsten des deutschen Exporteurs zu genehmigen.

Wie krampfhaft die Koalition an der Atom- Partnerschaft mit Brasilien festhält, belegt die trickreiche Argumentation des Justitiars der Unionsfraktion, Manfred Langner. Zum Beweis dafür, daß mit Brasilien alles in Ordnung ist, zitiert er ein hochoffizielles Dokument, ein Aidememoire des Auswärtigen Amtes vom 5. September 1988. Darin steht unter anderem der Satz: „Die von Brasilien eingegangenen internationalen Verpflichtungen bleiben in jedem Fall gewahrt." Das von Langner zitierte Dokument hat allerdings einen Schönheitsfehler: Es ist kein Aide-memoire des Auswärtigen Amtes, sondern eines des brasilianischen Botschafters in Bonn. Der aber ist als Kronzeuge für die lauteren Absichten seines Landes am wenigsten geeignet.

Sowohl in den Akten des Auswärtigen Amtes wie des Wirtschaftsministeriums tauchen wiederholt Klagen darüber auf, daß Brasilien es unterlassen hat, den Import deutschen Atom-Know-hows rechtzeitig und pflichtgemäß an die Wiener Kontrollbehörde zu melden. Anläßlich einer Sitzung im Bonner Auswärtigen Amt beklagte IAEA-Safeguard-Berater von Baeckmann, er habe bei einer Inspektion in der brasilianischen Anreicherungsanlage festgestellt, daß „offensichtlich bisher nicht alle deutschen Lieferungen für diesen Standort der IAEA gemeldet worden sind".

manches aus dieser Werkstatt und dieser Imagination sinnbildhaft dunkel zusammen. Die Ingredienzen der „Saturnzeit" sind Ölund Acrylfarbe, Emulsion, Schellack, Farn und Blei, der Hintergrund ist Photo und Leinwand. Man sieht eine dunkelgraue, pastos rauhe Fläche mit hellen, fladenartigen Flecken, in der Mitte die zarte Gräte des Farnkrauts. Die „Johannisnacht", eine Art Bild auf Bleihintergrund, besteht aus fast denselben Materialien (Stahl und Glas kommen noch hinzu). Nehmen wir noch das Bild „Nigredo" dazu — ein hoch in den Horizont hineinlaufender Stoppelacker — rühren einmal um und schlagen in diesem oder jenem Buch oder Lexikon nach. Dann finden wir, daß Blei das erste der vier unedlen Metalle ist, also mit seinen verborgenen Silberanteilen der beste Beweis für die von den Alchimisten angestrebte Transmutation. Eine Stufe in diesem Läuterungsprozeß, dem die Alchimisten auch eine metaphysische Dimension beimessen, heißt „Nigredo": die männlichen und weiblichen Elemente, Sonne und Mond, Wärme und Kälte kommen hier zusammen. Ein Szenario, zu dem auch die im Bildtitel zitierte Johannisnacht paßt, die Nacht des Tages mit dem höchsten Sonnenstand (24. Juni), in der die Tollheit regiert und die Schatzsucher Glück haben und Rituale zelebriert werden, bei denen Farn und anderes Kraut eine Rolle spielen.

Wo sind wir? In Doktor Fausts Hexenküche? In einer mittelständischen Fabrikhalle im Odenwald, umstellt von bleiernen Bildern, in denen tote Rätsel brüten. Anselm Kiefer aber schlägt einen kleinen Ausflug vor, zu einer in der Nähe liegenden Ziegelei, die seit Jahren stillgelegt ist und kürzlich von ihm gekauft wurde. Eine ebenso schöne wie spukhafte Lokalität: Inmitten von grünen Bäumen und Büschen die rote Ziegelei, Arbeiter hämmern und klopfen im Niemandsland, um den Verfall zu erhalten. Wir gehen auf wackeligen Treppen im Haus herauf und herunter, springen über Löcher am Boden, schauen durch Schächte und atmen Staub. So ähnlich war es damals in den ersten Nachkriegsjahren, als man Verstecken spielte im Trümmergrundstück gegenüber. Aber hier, in der ehemaligen Ziegelei von Kaiser & Bohrer in Höpfingen, ist keine Bombe eingeschlagen, sondern die Zeit stehengeblieben. Wir schauen in das riesige Sumpfbecken, heute eine ausgetrocknete Grube, früher lagerten hier Ton und Lehm, bevor sie in die Ziegelpresse kamen. Dann ein Gang über den holperigen Ziegelboden mit seinen Belüftungslöchern, der dem Trocknen diente. Die endlosen Gänge und luftigen Holzgestelle dann der Trockenkammern. Ein Blick in einen grabkammerartigen Ofen, der Beklommenheit erzeugt. Aufatmen, als wieder Grün zu sehen und zu riechen ist.

Wozu dient diese Ziegelei? Als Atelier, Gesamtkunstwerk, Bühnenraum? Für Kiefer, der hier eine Atmosphäre vorfindet und nicht eine Funktion sucht, ist der verlassene Ort alles zugleich. Viele Photos hat er hier schon gemacht, die er, wie fast immer, vergrößert und auf Dokumentpapier abgezogen hat. Hell und Dunkel werden so vertauscht, die Bilder bewahren einen Negativcharakter, sehen aus wie Photo-Skelette. Einen Film würde Kiefer hier auch gern machen, und jeder Hollywood-Regisseur wäre von dieser Idee begeistert. Soll er „Die bleiche Mutter der bleiernen Zeit" heißen? Aber auf dem Rückweg von der Ziegelei kommt noch eine andere verlassene Szenerie ins Gespräch. Anselm Kiefer würde gern eine 30 000 Quadratmeter große Halle von Krupp in Essen übernehmen, Europas größte Maschinenbauhalle, die jetzt leer steht.

Von Kyffhäuser zu Krupp und Nürnberg zu Nothung: Es bedarf wirklich keiner besonderen Spitzfindigkeit, um immer wieder auf das Deutsche in Anselm Kiefers Werk zu stoßen, und es ist heute noch genauso verständlich wie damals, daß ein Teil der deutschen Kunstkritik erschrocken und abweisend reagierte, als auf der Venedig- Biennale 1980 im deutschen Pavillon Kiefers großes Panorama „Deutschlands Geisteshelden" prangte (im Nebenraum hatte eine Holzskulptur von Baselitz den Arm zum Gruß erhoben). Daß Anselm Kiefers Arbeiten heute in Jerusalem so begehrt sind wie in New York oder Los Angeles und daß sie sich zur guten Hälfte im Besitz jüdischer Sammler befinden, reduziert die Ambivalenz seiner Thematik durchaus nicht, sondern bestätigt die doppelbödige Faszination. Wer Kiefer diese Irritation abspricht, ihn ins Meer der alles umfassenden, alles befriedenden Exegese wirft und ihm dann den Rettungsring der Ironie zuwirft, der mystifiziert und verharmlost ihn zugleich. „Ich identifiziere mich nicht mit Nero oder Hitler", sagte Kiefer, als er auf seine frühe Vorliebe für die Schatten der Geschichte und das Zwielicht der Mythen angesprochen wurde, „aber ich muß das, was sie getan haben, ein kleines Stück weit wiederholen, um ihren Wahnsinn zu verstehen." Anselm Kiefer, der die Zeit seiner wahrhaft holzschnittartigen Werke hinter sich hat, spielt heute nicht mehr mit dem Feuer, sondern mit der Elektrizität. Der Alchimist '89.

Johannisnacht '89. In London eröffnet die Galerie Anthony d'Offay eine große Ausstellung mit neuen Arbeiten von Anselm Kiefer. Volumen und Gewicht dieser Werke machen allerdings eine Verteilung auf vier Orte notwendig. In den drei Dependancen der Galerie in der Stadt werden rund zwanzig Bilder gezeigt. Die Augen der Betrachter wandern langsam an den' Verwerfungen und Schrunden der Bleiflächen, Farbfurchen entlang, scheinen den stumpfen Glanz, das matte Schillern des Metalls zu reflektieren. Man sinnt den Eisenbahnsträngen nach (Schienen und Brücken sind ein Motiv, das Kiefer in den letzten Jahren häufig verwendet) in „Die Prinzessin von Sibirien" (ein Bild, das auf das Schicksal der Fürstin Wolkonskaja anspielt, die ihrem in den Dekabristenaufstand verwickelten Mann freiwillig in die sibirische Verbannung folgte), und dem Zweigwerk über der durchbrochenen Kreisform, die mit einem Gully-Ring ins Blei gedrückt wurde in „Horus".

Aber das wahre Monument in dieser Ausstellung ist die Skulptur „Zweistromland", für deren Aufstellung d'Offay einen Raum der Riverside- Studios mieten mußte: weil die tonnenschwere Bleiskulptur auf einem normal unterkellerten Boden nicht hätte stehen können.

„Zweistromland" (oder wie es im Englischen heißt „The High Priestess") ist eine bleierne Bibliothek. Auf zwei über vier Meter hohen Eisenregalen, die im Winkel zueinander aufgestellt sind, liegen und stehen 126 Folianten verschiedenen Formats. Die Bände stehen locker nebeneinander, sind gelegentlich auch quer gestapelt, hier und da rtgt einer heraus, scheint ein anderer besonders zerfleddert. Aber diese Bibliothek, die in der Distanz noch alle Anzeichen ehrwürdigen Alters simt entsprechender Benutzung hat, ist das Epitaph einer Bibliothek, ist Monument und Grabmal, Elegie und Beschwörung. Denn einerseits s:nd diese bleiernen Folianten bis zu hundert Kilogramm schwer, können also von einem Menschen allein nicht bewegf werden. Andererseits aoer sind siebzig von ihnen bearbeitet, enthalten callagierte Materialien, mit Emulsionen bearbeitete oder durch Spuren von Schuhen, Rädern oder Steinchen geprägte Seiten, Photos von Wolkenforrnationen, Wasserläufen, Landschaften, Städtearckitekturen. Durch Oxydation oder chemische Reaktionen gebiert der graue Hintergrund zarte Aquarellstellen in Grün, Rosa, Ocker.

Am Anfang war das Wort. Anselm Kiefer ist vollgesogen mit Märchen und Mythen, mit einer krausen Auswahl von Literatur, historischen Daten und Personen. „Man muß nach rückwärts gehen, um nach vorn schauen zu körinen", sagt er auf die Frage, warum er denn so tief eintauche in die Vergangenheit. Er holt sich nach einer Reise in den nahen Osten die Gestalten des Alten Testaments und die ägyptischen Götter herbei. Und er * spaziert immer wieder am Abgrund der deutschen Geschichte entlang, beschwört mit einer Figuration, einer Niemandslandschaft, mit einer in das Eild hineingeschriebenen Titelzeile die Märchen aus uralten, aus oft unguten Zeiten. Wort und Eild fallen bei ihm zusammen wie Wort und Mus.k bei Richard Wagner, von dem er die Vorliebe fiir die Stoffe der germanischen Mythologie hat.

Von Anselm Kiefer gibt es, über die Jahre hinveg, viele Künstler-Bücher und viele Bilder zum Thema „Bilderstreit". Ist die brennende Palette, die er so oft gemalt hat, Opfer oder Waffe? Mit seiner neuesten Arbeit, der gewaltigen Skulptur „Zweistromland", den in bleiernen Büchern verschlossenen Bildern, scheint er die Partei der Ikonoklasten ergriffen zu haben. Die Bücher verschlossen, die Bilder vergraben: Anselm Kiefer inszeniert ein großes Finale. (Die Ausstellungen der Anthony d'Offay Galerie laufen bis zum 19. August, der Bildband „Zweistromland", in dem Doppelseiten aus 28 Bänden abgebildet sind, ist beim Du Mont Verlag erschienen und kostet 160 Mark; aus diesem schönen Band stammen auch unsere Abbildungen)

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