Ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt
von Joachim Gruber
Ein Kommentar zu
Strahlengrenzwert überschritten: Greenpeace Analyse der Strahlenmessungen am Zwischenlager Gorleben (im Cache, 12.12.2011)
Gorleben: Strahlungsmessungen am Transportbehälterlager, Antiatom-Piraten, 23.11.2011 (im Cache, 12.12.2011)
Daniel Lübbert: "Strahlungsmessungen am Transportbehälterlager Gorleben: Zur Einordnung bisher bekannt gewordener Messwerte", Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 8 - 3010 - 144/2011 (im Cache)
Vergleich verschiedener ionisierender Strahlungsarten - die Äquivalentdosis
Basis des hier folgenden Vergleichs verschiedener Strahlungsarten (natürlicher und künstlicher) sind die von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) herausgegebenen Richtlinien zur Definition der Äquivalentdosis ("Dosiskonzept").
Die Äquivalentdosis ("Dosis", Sv) oder die jährliche Äquivalentdosis ("Dosisrate", Sv/a), werden empirisch -d.h. aufgrund der bis heute gemachten Erfahrungen mit Strahlenschäden- Erbgutschäden und Todesrisiken zugeordnet. Karzinome, welche durch die Medizin geheilt werden können, und Schädigung der Gesundheit oder der Gesellschaft werden außer Acht gelassen (im Detail). Allein auf dieser Bemessungsgrundlage wird die in den nationalen Strahlenschutzverordnungen vorgeschriebene Abwägung zwischen Strahlenschaden und Nutzen vorgenommen, und daher ist -besonders im Bereich niedriger Dosisraten, großer betroffener Bevölkerungen und langer Expositionszeiten- dieses Vorgehen umstritten.
Ich werde die Aussagen von Greenpeace zunächst im Rahmen des Dosiskonzepts bewerten. In der Schlussbemerkung werde ich andere Aspekte mit einbeziehen.
Im Wesentlichen weisen Greenpeace und Daniel Lübbert daraufhin, daß
Im Abschnitt "Ergebnisse" und detaillierter im Anhang werde ich vorführen, daß der Grenzwert (0.30 mSv/a) einerseits und die zwischen Greenpeace und NMU strittige Differenz (0.072 mSv/a) andererseits weit unterhalb der Dosisraten für natürliche und zivilisationsbedingte Strahlung einerseits und deren Schwankungen andererseits liegen.
1.1 Details zu den Aussagen
Im Einzelnen stellt Greenpeace fest:
Im Detail:
Man mißt die Neutronenstrahlung (Neutronendosis D(t), t = Messzeitpunkt) am Zaun des Zwischenlagers. (In Abb. 1 ist D(t) durch die breite horizontale Linie dargestellt.) Das Messergebnis setzt sich zusammen aus zwei Anteilen:
- der Neutronenstrahlung DZL aus dem Zwischenlager,
- der natürlichen Neutronenhintergrundstrahlung Dnat(t).
Da die natürliche Neutronenhintergrundstrahlung zeitlich variiert, braucht man ihren Wert Dnat(t) zum Zeitpunkt t der Messung der Neutronenstrahlung D(t) am Zaun des Zwischenlagers (den "zeitgleichen Wert" Dnat(t)), um den Anteil DZL des Zwischenlagers an der gemessenen Neutronenstrahlung zu berechnen: DZL = D(t) - Dnat(t).
Indem das NMU den zeitgleichen Wert der natürlichen Neutronenstrahlung, Dnat(1. Halbjahr) = 0.050 mSv/a, verwirft und einen um 0.013 mSv/Jahr höheren Wert Dnat(2. Halbjahr) = 0.0631 mSv/a verwendet (Punkt 5), verringert das NMU den Anteil der Neutronenstrahlung aus dem Zwischenlager.
2. Ergebnisse
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Abbildung 1: Vergleich verschiedener Strahlenbelastungen (Einheit: mSv/a)
Die Belastung durch die aus dem Zwischenlager austretende Neutronenstrahlung DZL ergibt sich aus dem vertikalen Abstand der Linie vom darunterliegenden Balken 2. |
Basis des nebenstehenden Vergleichs verschiedener Strahlungsarten sind die von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) herausgegebenen Richtlinien zur Berechnung der Äquivalentdosis (im Detail).
Da die Äquivalentdosisleistung (mSv/a) durch Neutronenstrahlung am Zaun des Zwischenlagers mehr als doppelt so stark ist wie die durch Gammastrahlung, werde ich mich hier auf die Diskussion der ersteren beschränken.
In der nebenstehenden Abbildung stellt die kurze horizontale durchgezogene Linie die Messwerte der Neutronenstrahlung am Zaun des Zwischenlagers dar. Die Messung des NLWKN und der PTB liegen innerhalb der Strichbreite. Die Balken stellen die Höhen bzw. die Variationsbreiten von Strahlenbelastungen dar (gemessen als Dosisrate, mSv/a). Die verwendeten Daten werden im Anhang erläutert.
Die zwischen Greenpeace und dem NMU strittige Neutronenstrahlung aus dem Zwischenlager ist in der nebenstehenden Abbildung 1 als Höhe der horizontalen Linie über den Balken 1 und 2 veranschaulicht:
Den Unterschied zwischen diesen Abständen möchte ich abgekürzt als "strittige Differenz" bezeichnen.
Daher möchte ich die strittige Differenz als "ICRP-irrelevant" bezeichnen.
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3. Schlussbemerkung
Obwohl nach meiner Einschätzung die um die strittige Differenz erhöhte Neutronenstrahlung aus dem Zwischenlager im Sinne der ICRP radiologisch unerheblich ist, so hat sie doch prinzipielle Bedeutung.
Obwohl Greenpeace hier -anders als in den bekannten früheren Fällen (Gas im Salzstock, Gorleben-Akten)- auf einen (radiologisch) nachrangigen Fehler aufmerksam macht, ist seine Kritik für die Zukunft bedeutsam: "Open Government" und "Open Data" destablisieren den Status Quo, wenn das offengelegte Datenmaterial -wie in diesem Fall von Greenpeace- ausgewertet wird, d.h. wenn die Gesellschaft Teile ihrer -häufig unbewußt verschwendeten- sozialen Energie darauf verwendet, es zu analysieren. Mit seiner Kritik liefert Greenpeace zur Transparenz und Bürgerbeteiligung in Wissenschaft und Technik einen weiteren Baustein, den Clay Shirky "cognitive surplus" nennt (z.B. in "Where do people find the time?", hier in Teil 1, hier in Teil 2).
Die Teilnahme weiter Kreise der Gesellschaft am naturwissenschaftlichen Denken und die auf diese Weise verbreiterte naturwissenschaftliche Basis wird unsere komplexe moderne Gesellschaft stabilisieren. Deshalb begrüße ich das Vorgehen von Greenpeace.
ANHANG
1. Grundlagen
1.1 Empfehlungen für den Schutz vor ionisierender Strahlung
Abwägung zwischen Schaden und Nutzen
"Fundamental aim of the International Commission on Radiological Protection (ICRP) set out in the 1990 Recommendations (1990 Recommendations of the ICRP, ICRP Publication 60, Annals of the ICRP 21, 1-3, Elsevier, April 1991):
The primary aim of radiological protection is to provide an appropriate standard of protection for man without unduly limiting the beneficial actions giving rise to radiation exposure.
This aim cannot be achieved on the basis of scientific concepts alone. All those concerned with radiological protection have to make value judgements about the relative importance of different kinds of risk and about the balancing of risks and benefits. In this, they are no different from those working in other fields concerned with the control of hazards."
"Member States shall ensure that all new classes or types of practice resulting in exposure to ionizing radiation are justified in advance of being first adopted or first approved by their economic, social or other benefits in relation to the health detriment they may cause."
1.2 Bemessung der Schädigung durch ionisierende Strahlung: das Dosiskonzept
Das Maß der Strahlenexposition, die Strahlendosis (Dosis, Sv) und die jährliche Strahlendosis (Dosisrate, Sv/a), berücksichtigt nur Erbgutschäden und Todesfälle durch Krebs. Karzinome, welche durch die Medizin geheilt werden können, und Schädigung der Gesundheit oder der Gesellschaft werden außer Acht gelassen.
Im Einzelnen (dose concept):
Bei der Berechnung der Dosis(rate) verwendet man "Strahlungswichtungsfaktoren" und "Gewebewichtungsfaktoren".
Jeder Gewebewichtungsfaktor ist kleiner als 1, die Summe aller Gewebewichtungsfaktoren ist 1. Die effektive Dosis ist also der Mittelwert aus gewichteten Organdosen.
Die Gewebewichtungsfaktoren werden so gewählt, daß sie den Beitrag von Krebs in solchen Organen verringern, in denen er durch Operation geheilt werden kann.
Die Dosen werden empirisch, d.h. aufgrund der bis heute gemachten Erfahrungen mit Strahlenschäden, Todesrisiken ("fatal risk") zugeordnet. Auf diese Weise erhält man die Bemessungsgrundlage für die in der Strahlenschutzverordnungen vorgeschriebene Abwägung zwischen Strahlenschaden und Nutzen.
Die oben genannten Wichtungsfaktoren und das Konzept der Controllable Dose werden international angezweifelt (Gesellschaft für Strahlenschutz -Eintrag bei Wikipedia-, Strahlenschäden beim Menschen, Contribution of the Nordic Radiation Protection Society in IRPA Member Societies' Contributions to the Development of new ICRP Recommendations, International Radiation Protection Association, 2000 - im Cache). Das nukleare Establishment (insbesondere die ICRP) lehnt die Gründe dafür ab.
2. Strahlenexposition
2.1 Höhe der Belastung durch ionisierende Strahlung
zum Vergrößern auf Bild klicken Quelle: Sources of Radiation Exposure to the U.S., Radiation Information Network, Physics Department, Idaho State University,
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Abbildung 2: Komponenten der Strahlenbelastung der Bevölkerung der U.S.A. Die über die Bevölkerung gemittelte Gesamtbelastung stieg von 3.6 mSv/a pro Person in den frühen 1980er Jahren auf 6.2 mSv/a pro Person im Jahr 2006. Dieser Anstieg ist im Wesentlichen durch die stärkere Verwendung der Computertomographie und der Nuklearmedizin verursacht. Diese beiden Modalitäten allein trugen 36 % zur gesamten Strahlungsbelastung und 75 % zur medizinischen Strahlenbelastung bei. Quelle: NCRP Report No. 160, Ionizing Radiation Exposure of the Population of the United States |
zum Vergrößern auf Bild klicken Quelle: Fig. XXXVI, Annex B, UNSCEAR 09-86753 Report, 2008 (im Cache)
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Abbildung 3: Die Strahlenexposition der Bevölkerung in verschiedenen Ländern setzt sich aus Expositionen durch 6 Strahlungsquellen ("Expositionspfade") zusammen. Die Grafiken geben deren geschätzte Beiträge (mSv/a) an. Die deutsche Bevölkerung erhält pro Person etwa 4.5 mSv/a (im Cache), davon 0.3 mSv/a durch kosmische Strahlung.
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zum Vergrößern auf Bild klicken Quelle: Umweltradioaktivität, Jahresbericht 2001, Bundesamt für Strahlenschutz (im Cache) |
Abbildung 4: Verteilung der mittleren effektiven natürlichen Strahlungsdosis (2.41 mSv/a) der deutschen Bevölkerung im Jahr 2000 auf 5 Expositionspfade. |
2.2 Variationsbreite der natürlichen ionisierenden Strahlung
zum Vergrößern auf Bild klicken Quelle: Wikipedia Background Radiation |
Abbildung 5: Variationsbereiche der Expositionspfade. Die Dosisraten einzelner natürlicher Expositionspfade (ohne Radonkonzentration in der Gebäudeluft) schwanken typischerweise zwischen 0.2 und 1 mSv/a. |
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zum Vergrößern auf Bild klicken Quelle: Physikalisch-Technische Bundesanstalt (im Cache html, pdf)
Abbildung 6: Variation der Höhenstrahlung mit der Höhe über dem Meeresspiegel.
"Die Höhe der Strahlenexposition durch Höhenstrahlung an einem bestimmten Ort hängt vor allem von der Flughöhe, dem magnetischen Breitengrad und vom Sonnenzyklus ab. Das Bild zeigt die Ortsdosisleistung in 10 km Höhe. Diese ist in Polnähe mehr als doppelt so hoch wie in Äquatornähe."
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Quelle: Physikalisch-Technische Bundesanstalt
"Die Tabelle zeigt einige Werte der durch Höhenstrahlung erzeugten Umgebungs-Äquivalentdosis auf ausgewählten Flugrouten. Die Dosisleistung durch Höhenstrahlung auf Meereshöhe beträgt ca. 0,04 μSv/h (entspricht ca. 0.35 mSv/a)."
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2.3 Variationsbreite der Strahlenbelastung durch Radon
zum Vergrößern auf Bild klicken Quelle: Fig. XIV of UNSCEAR 09-86753 Report 2008 Annex B (im Cache)
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Abbildung 7: Verteilung der mittleren Radonkonzentrationen in Gebäudeluft und der daraus resultierenden Strahlenbelastung. 10 % der Bevölkerung erhält weniger als 0.25 mSv/a, und derselbe Bruchteil erhält mehr als 1.7 mSv/a. Die Belüftung, Isolierung des Gebäudes gegen aufsteigende Bodenluft und die Wahl der Baustoffe kann die Strahlenbelastung der Bewohner zwischen etwa 0.2 und 1.7 mSv/a verändern. |
zum Vergrößern auf Bild klicken Quelle: Übersichtskarte der Radonkonzentration in der Bodenluft, der Bundesrepublik Deutschland (im Cache) |
Abbildung 8: Geographische Variation der Radonkonzentration in der Bodenluft im Freien und der daraus resultierenden Strahlenbelastung bei einem Aufenthalt im Freien von 19 Stunden/Tag: Im norddeutschen Flachland liegt die Strahlenbelastung durch Radon zwischen ≤0.17 und 1.36 mSv/a, im Mittelgebirge bis zu 5 mSv/a. |
3. Weiterführende Literatur
ANNEX D: Effects of ionizing radiation on the immune system, UN Scientific Committee on Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR), 2006 (im Cache)
The scope of this annex includes reviews of:
- Radiation-induced alterations of the immune response, including immunosuppression (depression) or immunostimulation (activation);
- Possible mechanisms by which the immune system is altered following exposure to ionizing radiation;
- Epidemiological assessments of immune system alterations in various diseases, with emphasis on the effects of ionizing radiation.
Version: 13.12.2011