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Von der Erinnerungsforschung zum Klimawandel
Oya - anders denken, anders leben, Ausgabe 7/2011
Kurzfassung dieses Interviews: "Zukunftsfähige Beispiele statt Konjunktive"
Wolfram Nolte sprach mit dem Sozialwissenschaftler Harald Welzer über die Notwendigkeit, anschauliche Beispiele zukunftsfähiger Lebensweisen zu fördern.
WN: Herr Welzer, Sie haben sich viele Jahre mit den Themen "Erinnerung" und "Gedächtnis" in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus beschäftigt und befassen sich erst seit relativ kurzer Zeit mit dem Thema Klimawandel. Was war der Grund für diese plötzliche Schwerpunkverlagerung? "
HW: Ja, das sieht so plötzlich aus, das ist aber nicht so plötzlich geschehen. Wenn man das mal biographisch betrachtet, habe ich eine lange politische Sozialisation. Die würde ich stark in der Anti-AKW Bewegung verorten. Wir haben 1986 einen Wissenschaftsladen in Hannover gegründet und insofern gab es immer sehr enge Links zu politischen Fragestellungen. Ich habe ja auch nicht nur Erinnerungs- und Gedächtnisforschung betrieben sondern immer auch Gewaltforschung. Und bei der Gewaltforschung war mir dann plötzlich vollkommen klar, was der Link ist. Denn wenn sich die Überlebensbedingungen von Menschen, von Gesellschaften verändern, dann hat das Folgen für die Frage des Gewaltaustrages. Ich war dann verdutzt, zu sehen, dass es sehr wenig Literatur und Forschung zu diesem Thema gibt und da habe ich gedacht: dann muss ich das halt machen.
Sie sind also auf den Klimawandel gekommen, weil der Klimawandel besonders tiefgreifende soziale Verwerfungen mit sich bringt?
Der Klimawandel ist ja, im Grunde genommen, von zwei Dynamiken bestimmt: das eine sind Veränderungen von Überlebensbedingungen durch Wüstenbildung, durch Extremwettereinflüsse u.s.w. Und die andere Seite ist die Ressourcen-Thematik, die ja auch sehr viel mit dem Klimawandel zu tun hat. In meiner Studie "Klimakriege" unternehme ich den Versuch, herauszufinden, was neue Quellen von Gewalt sind. Inwieweit muss man eigentlich solche Dinge wie Klimaerwärmung in Rechnung stellen, wenn man in Zukunft über Sicherheit und zwischenstaatliche Gewalt, Bürgerkrieg u.s.w. forschen will. Und das ist insofern sehr interessant gewesen, weil mir da überhaupt erst aufgegangen ist, dass sich die Sozial- und Kulturwissenschaften bisher so gut wie gar nicht mit dem Klimawandel befasst haben. Daraus entwickelte sich für mich so eine Art Sog hin zu dieser Fragestellung. Unter anderem ist dann das Buch "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten" dabei herausgekommen - aber auch viele andere Sachen.
Also eigentlich ganz folgerichtig aus den ursprünglichen Fragestellungen?
Ja, für mich selber war das ganz logisch, obwohl ich kein Öko bin und zu dieser Szene eigentlich nicht gehöre und auch wissenschaftlich über Jahrzehnte hin ganz andere Sachen gemacht habe.
Haben Ihre Forschungsarbeiten zum Klimawandel und seinen kulturellen Folgen auch Ihr eigenes Leben verändert?
In vielfältiger Hinsicht. Also die heiße und geliebte und immer sehr schlecht beantwortete Frage ist ja: Was kann man denn eigentlich tun? Meine Antwort darauf ist paradox.
Natürlich hat man auf den unterschiedlichsten Ebenen der Gesellschaft größere oder kleinere Handlungsspielräume. Meiner ist sehr groß im Vergleich zu einem Industriearbeiter oder einem Hartz-IV-Empfänger oder einem Schüler.
Diesen Handlungsspielraum kann ich nutzen.
Aber Sie sind nicht davon überzeugt, mit diesen Aktionen die Welt zu retten?
Ich habe so etwas wie einen kategorischen Imperativ in Zeiten des Klimawandels: sich nicht mehr schuldig machen als nötig. Ganz einfach.
Ich bin nicht so naiv und denke: damit hält man das große Ganze auf.
Aber mit diesem Konzept des Ausnutzens der Handlungsspielräume habe ich natürlich ein politisches Moment.
Dieses "Klein Klein" ist nicht sehr politisch. Das ist mal so. Ich finde das toll, wenn Karen Duve ihr Buch "Anständig essen" schreibt und davon 60.000 in vier Wochen verkauft. Das ist alles toll, das sind Indikatoren: es tut sich ein bisschen etwas.
So etwas finde ich gut, aber insgesamt fehlt natürlich eine Politisierung des ganzen Feldes.
Wenn ich Sie richtig verstehe, halten Sie es schon für wichtig, konkrete utopische Vorstellungen von der Zukunft zu entwickeln. Aber Sie plädieren für experimentelle Vorgehensweisen im Unterschied zu früheren utopischen Entwürfen, die fixe Ziele formuliert haben?
Absolut. In Teilen der Klimawissenschaften und auch im Bereich der sich engagierenden Kollegen gibt es ja diese Idee: wir brauchen ein neues "Apollo-Projekt" - so wie damals die ganze westliche Welt die Mondlandung ins Auge gefasst hatte und dadurch ein großer Entwicklungsschub in Gang kam.
In ihrem Buch "Das Ende der Welt" (im Cache) sehen Sie die Alternative in konkret zu schaffenden Situationen und Projekten, wo Menschen gewissermaßen einübend neue Denk- und Verhaltensweisen lernen können. Sehen Sie solche Projekte schon verwirklicht?
Ganz viel sehe ich da, aber mit dem Nachteil der eher zufälligen Repräsentation in den Medien.
Und sie wissen oft nicht, dass es andere gibt, die so was Ähnliches wollen und tun wie sie selbst.
Vielleicht tun sie es auch aus einer ganz anderen Motivation heraus als man selbst, aber sie machen tolle Sachen. Und der andere Punkt ist: Wir brauchen die Anschaulichkeit.
Vierzig Jahre Aufklärung über Öko, Nachhaltigkeit, Klimaschutz - was hat diese Kommunikation gebracht?. Es hat ein paar Effekte gehabt, das muss man nicht klein reden, aber das ist verbraucht.
Katastrophenkommunikation ist mittlerweile normal. Alle drei Tage kann man von irgendeinem Institut hören, dass alles noch viel schlimmer ist. Gletscher schmelzen, arktisches Eis schmilzt, usw.: Aha, die Welt geht unter und dann blättert man weiter
Und das ist für mich so ein Beispiel, wie fast alle, selbst die engagierten Forscher, nach dem Motto verfahren "das wird alles wieder gut". Keiner nimmt es ernst, dass man sozusagen schon über den tipping point hinaus ist, nur weil die Gesellschaft nicht gleich zusammen bricht.
Also Sie vermuten, dass es eher eine schleichende Erosion der Gesellschaft geben wird, keinen plötzlicher Kollaps?
Nein, natürlich nicht. Aber auch das ist das, was Meadows gesagt hat. Das ist das Interessante: Gesellschaften brechen nicht mit dem großen Crash zusammen. Das ist vielleicht im Kriegsfall so. Aber das ist sonst nie so. Man muss sich mal den Zusammenbruch des Ostblocks angucken. Es macht Plöpp und dann ist das Ganze weg, ohne dass irgendwie groß was passiert ist. Also Ceauescu wird getötet, das war schon das Maximum.
Aber es war natürlich ein reicher Westen da, der den Zusammenbruch sozusagen abgefedert hat.
Das ist schon klar. Der Westen wird dann nicht aufgefangen, wenn er zusammenbricht. Das mag die Differenz sein.
Der Punkt, der mich interessiert, ist:
Man kann ja mit guten Begründungen annehmen, dass es wahrscheinlich für unser System genau dasselbe ist. Das hat wahrscheinlich die Zukunft auch schon hinter sich.
Insofern glaube ich, dass dieses Modell seine Zukunft schon verbraucht hat.
Ich war einmal auf einer Tagung, da hatte ein Kollege, ein Klimawissenschaftler, eine Arbeitsgruppe vorgeschlagen mit dem Titel "Was ist, wenn es schief geht?". Das ist eine interessante Frage: Ja, was ist denn eigentlich, wenn alle tollen Einsparziele verfehlt werden? Also ich und der Kollege haben an der Arbeitsgruppe teilgenommen - sonst niemand.
Weil die meisten sich einen Zusammenbruch gar nicht vorstellen können?
Was sollte man stattdessen tun?
Ich würde sagen, man muss jetzt konstatieren, dass diese Rhetorik nichts mehr bringt. Sie hat historisch eine Funktion gehabt. Vieles ist passiert, viele Institutionen haben sich gegründet, Bewusstsein hat sich gebildet usw. - aber das funktioniert jetzt nicht mehr. Und es ist vielleicht sogar kontraproduktiv, wenn man meint, es wird etwas getan, ohne dass wirklich etwas getan wird. Jetzt muss man umstellen. Und zwar muss man von der Katastrophenkommunikation weg...
Weil sie nur lähmt?
Die Katastrophenkommunikation lähmt total.
Soziale Bewegungen, Frauenbewegung, Anti-Apartheitsbewegung, Bürgerrechtsbewegung, die haben alle positive Formulierungen. Sie sagen z.B.: Wir wollen Gleichheit. Das ist ein positives Veränderungsziel - nicht: wir wollen keinen Klimawandel. Das ist ein negatives Ziel. Und solange ich nur negative Ziele habe, kann ich in keiner Weise psychische, emotionale, soziale Energien bündeln.
Das machen ja viele Projekte, wie z.B. das Ökodorf Sieben Linden, in dem ich mehrere Jahre gelebt habe. Es versteht sich als sozial-ökologisches Modellprojekt, das zeigt, dass trotz geringerem Ressourcenverbrauch mehr Lebensqualität möglich ist. Und doch ist es uns kaum gelungen, diese Erfahrungen in den gesellschaftlichen Diskurs um Zukunftsfähigkeit einzubringen. Immer noch werden solche Projekte nicht ernst genommen als Experimente für gesellschaftliche Veränderungen.
Und da finde ich es eben wichtig, dass Wissenschaftler wie ich ein anderes Framing für diese Projekte machen. Da sind die Eliten gefordert. Das meine ich mit dem Handlungsspielraum auf unterschiedlichen Ebenen.
Die Kommunikation solcher Projekte soll also politischer werden, um sie aus der Ecke zu holen. Wie stellen Sie sich das vor?
Es ist ein großes Problem, dass die politischen Demarkationslinien sehr klassisch betrachtet werden. Hier gibt's Linke, dort gibt's Rechte, das bildet überhaupt nicht mehr den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand ab und vor allem nicht die Frage nach der Zukunftsfähigkeit.
Was verstehen Sie denn unter Zukunftsfähigkeit?
Das ganze Spektrum zwischen Ökodörfern und verantwortungsvollen Unternehmern deutet in Richtung Zukunftsfähigkeit.
Was ich mir wünsche, ist ein großes Referenzprojekt zur Zukunftsfähigkeit, z.B. die autofreie Innenstadt einer Großstadt.
Und wie haben die Bürger von Hasselt das durchsetzen können?
Das war ein charismatischer Bürgermeister. Es gibt ja manchmal so personenabhängige Erfolge. Dann aber auch eine Gruppe, die das gefeatured hat. So was baut sich ja systematisch selber aus, wenn das mal angelaufen ist. So eine Vision zu haben! Man stelle sich das für eine Halbmillionenstadt wie Essen vor. Vorzuführen, dass das ohne weiteres möglich ist, ist ein Traum von mir. Dann hätten wir die sinnfällige Erfahrung, dass man ohne Angst, überfahren zu werden, über die Straße gehen kann. Toll zu erleben, dass es plötzlich grün ist in der Stadt und dass es still ist.
Was ich mir vorstelle, ist sozusagen das komplette Spektrum von der klassischen Öko-Ecke bis zu wirklich arrangierten und mit viel logistischem Input und meinetwegen auch viel Geld hergestellten Referenzen - und dann kann man sagen: "Geht dahin und seht Euch das an. Klickt es an und schaut mal, wie das geht."
Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit Reversibilität?
Dass die Strukturen auch wieder rückgängig gemacht werden können.
Das sind ja die drei zentralen Treiber des Desasters. Diese Aufgaben müssen von zukunftsweisenden Beispielen nun nicht hundertprozentig gelöst werden, schon ein Anfang wäre gut.
Für mich gehören die menschliche und soziale Entwicklung entscheidend zu einer zukunftsfähigen Entwicklung.
Super! Jetzt kommen wir aber zu einem interessanten Punkt. Ich würde das sofort auch so sehen. Ich würde es aber anders formulieren. Für mich ist es eine Frage von Identität und einer Geschichte, die man über sich selbst erzählen kann.
Ich glaube, dann funktioniert`s. Was die Leute nicht kapieren, ist, dass die Rossmanns und die Ackermanns dieser Welt eine Geschichte erzählen.
Das sind alles Geschichten, die sie erzählen.
Was verstehen Sie unter "eine Geschichte erzählen"? Meinen Sie damit suggestive, Sinn vermittelnde Darstellungen, dass sich andere damit identifizieren können, ja sogar mitgehen müssen?
Ja, ich meine Geschichte hier als Metapher. Sie erzählen pausenlos eine.
Und diese Geschichten bewegen sich auch immer im Status quo, den jeder kennt, den jeder nachvollziehen kann...
Ja, wir brauchen doch die Energie, wir brauchen doch die Mobilität, jetzt machen wir geile Elektroautos, RWE vorweggehen und sonst was. Das ist eine sehr starke Geschichte, die sie erzählen. Sie haben auch große Ressourcen für ihre Geschichten.
Genau. Was können wir machen?
Alle diese praktischen Projekte gehören dazu, über die wir schon gesprochen haben, und wir müssen unsere Geschichten dazu erzählen. Und, zum wiederholten Mal, wir müssen das als politisch verstehen und auch als solches artikulieren. Zu dem politischen Artikulieren gehört allerdings auch, dass man nicht so nett ist und alles immer irgendwie ganz dufte findet, sondern...
Dass man mit mehr Leidenschaft und mehr Zorn argumentiert, wie Sie in Ihrem letzten Buch fordern?
Ja, aber es gehört auch dazu, klar zu benennen,
Mich beschäftigt immer noch die Frage, wie können diese vielen zukunftsweisenden Projekte und zukunftsfähigen Menschen ein "Wir"-Gefühl entwickeln?
Man muss von diesem Mönchischen wegkommen, dass man alles richtig, 100%ig machen muss. Das finde ich hochproblematisch. Wenn bei meinen Vorträgen diese Diskussionen über Widersprüche aufkommen, dann sage ich: "Klar ist da ein Widerspruch. Das ganze Leben ist extrem widersprüchlich." Auch unsere Gesellschaften sind widersprüchlich gebaut. Da gibt es halt Geschichte, geschaffene Tatsachen, die sind jetzt mal objektiv so. Die kriege ich nicht idealistisch weg. Und dass ich manchmal mit dem Auto fahre oder mit dem Flugzeug fliege, ist zwar nicht wünschenswert, das ist ein Widerspruch, den ich aushalte, solange, wie er nicht grundsätzlich weg ist. Das ist doch kein Problem. Karen Duve sagte vor ein paar Tagen auf einer Veranstaltung einen ganz einfachen, schlichten Satz: "es ist nicht legitim, so weiterzumachen wie bisher". Dieser Satz basiert auf der Erkenntnis, dass wir alles zerstören. Und zwar nicht nur die Welt, sondern auch die Zukunft derjenigen, die nicht so privilegiert sind wie unsereins. Also die Zukunft meines Sohnes, ganz zu schweigen von den noch mal in ganz anderer Weise Benachteiligten. Wir haben ja im Moment die Ungleichheit nicht nur Nord-Süd, sondern auch auf der Zeitachse. Das ist ja das neue Problem.
Das sollte uns ja eigentlich mehr berühren, weil es die eigenen Kinder betrifft. Ich habe aber den Eindruck, das tut es gar nicht so stark.
Doch. Wenn man das so persönlich sagt, berührt es die Menschen auch. Aber es sagt ja niemand. Da kommen die IPCC-Wissenschaftler und reden von ihren ppm-Werten und dem Jahr 2100 und was weiß ich, da denkt ja kein Mensch daran: "Was heißt denn das jetzt für mein Kind und Enkelkind?"
Da kann man eine ganze Menge machen. Nur das sagt halt keiner, weil das zu provokativ ist...
Die Menschen selektieren und verdrängen ihre Wahrnehmungen?
Ja, wie wir das am Anfang des Gesprächs festgestellt haben. Endlichkeit, Absturz - das denkt man nicht. Jeder denkt: "Na ja, das wird schon gut gehen". Ich denke es ja insgeheim auch. Ich sage die ganze Zeit das Gegenteil, bin rational auch völlig davon überzeugt, aber insgeheim denke ich: "Na ja, wir werden uns noch durchwursteln" oder "Es dauert hoffentlich noch lange" usw. Wie auch immer - man betrügt sich da gerne selbst, ist ja auch okay. Es soll ja nicht dazu führen, dass es einem schlecht geht. Also eigentlich gehört das ja zu der Widersprüchlichkeit. Ich habe bei den "Klimakriegen" zwei Schlusskapitel geschrieben. Ein positives und ein negatives. Ganz mit Absicht. Weil ich denke, genau in der Spanne oder in der Spannung zwischen diesen beiden Perspektiven, da ist der Raum des Politischen. Da kann man sich nämlich entscheiden und sagen:
Zurück zur Politisierung. Mich beschäftigt die Frage: wie können diese verschiedenen Initiativen - wie zum Beispiel Ökodörfer, Transition Towns, Nachbarschaftsinitiativen, soziale Unternehmer und was weiß ich, also wie können Menschen, die in einem zukunftsfähigen Sinn tätig werden, größeren gesellschaftlichen und politischen Einfluss gewinnen? Ist es Ihrer Meinung nach sinnvoll mit dem politischen System, den Parteien und Behörden, zu kooperieren?
Wenn es geht, ja. Wenn es nicht geht, nein. Da komme ich wieder auf mein Modell mit den Handlungsspielräumen. Wir sollen mit Leuten kooperieren, die sich ähnlich auf der Seite der Zukunftsfähigkeit verorten. Der Herausgeber einer großen Zeitschrift könnte sagen: "Wir machen jetzt mal eine andere Themen-Fokussierung" oder es hat jemand eine große Kanzlei, der sagt: "Okay, wir engagieren uns jetzt mal in dem Bereich der sozial Schwachen, verteidigen diese Leute oder geben Rechtsberatung".
Ich glaube,
Jede soziale Bewegung, die wir aus der Nachkriegszeit kennen,
Robert Jungk z.B. für die Anti-Atom-Bewegung. Da kann man ja viele nennen. In der Frauenbewegung genauso.
Diese Unterstützung von den Eliten haben wir aber im Moment nicht. Zumindest fällt es extrem schwach aus.
Die Erfahrung habe ich seit einigen Jahren wirklich gemacht: Es fehlt aber sozusagen noch das Sensorium, der Anhaltspunkt: wo kann ich denn jetzt eigentlich einsteigen?
Und wie könnte so eine Sensorium aussehen?
Meine Idee ist, wie ich eben schon gesagt habe, die gegebenen Strukturen zu nutzen und nicht neue zu erfinden. Also ich finde es gut, da in etablierte Formate zu gehen.
Das hat der Fernsehjournalist Franz Alt ja mal gemacht. In seiner Sendung "Zeitsprung" hat er über 1-2 Jahre ganz gezielt Zukunftsthemen bearbeitet...
Ja und da sind wir wieder bei dem Thema der Eliten und der Handlungsspielräume.
So stelle ich mir das vor und das kann man nicht von unten machen. Das kann man nur von oben machen.
Wenn ich das richtig verstanden habe, sind diese Handlungsspielräume für Sie die entscheidende Ressource für Veränderungen.
Weil wir Demokratien sind und reich sind.
Offen sein für das, was aus der Nutzung dieser Handlungsspielräume entsteht, darauf kommt es an?
Die Frage ist: was ist der Modus des Zusammenfügens? Das ist eine politische Frage, was man will und was man nicht will. Und dafür gilt es, Artikulationsformen zu finden.
Man muss auch andere Fragen stellen, z.B.:
Fangen wir doch mal mit einem Begriff wie "Kultivierung" oder "Lebenskunst" an. Wer kann das eigentlich vertreten?
Solche Menschen gibt es ja, und hier und da kann man auch noch einige mehr aktivieren.
Ich glaube, dann wird die Sache echt interessant. Da werden die Talkshow-Niveaus auch anders.
Ich möchte gerne noch eine weitere Idee einbringen, wie gesellschaftliche Alternativen politisch etabliert werden könnten. Wie wäre es, wenn wir einen Zukunftsrat oder etwas ähnliches hätten, der Ihr Modell der Erweiterung der Handlungsspielräume experimentell im großen Stil anwenden würde, z. B. Projekte initiiert und fördert, die zukunftsfähige Produktions- und Lebensweisen ausprobieren und dafür sorgt, dass die Erfahrungen in der Gesellschaft diskutiert werden und die Politik sich an ihnen orientiert?
Wir brauchen Labore der Zukunft und Institutionen, die dabei helfen, sie zu etablieren. Ob wir dazu einen "Rat" brauchen, weiß ich nicht. Auch Zukunftsprojekte brauchen Geld. Das wird man erst bekommen, wenn man in kleinem Maßstab bereits erfolgreiche Experimente vorzeigen kann. Aus solchen Erfahrungen entstehen wiederum Geschichten, die man erzählen kann.
Da braucht man keine Enquete-Kommission oder ähnlich aufwendige Untersuchungen. Man tut es einfach. Und wenn Opa Krawuttke sich beklagt, dass diese lauten Kinder ihm auf die Nerven gehen, muss eben ein zweiter Frühstücksraum her oder man muss irgendetwas machen, dass diese Leute trotzdem ihre Brötchen in Ruhe essen können. Das sind ja nur operative Fragen, wie man das macht. Aber ob das Modell funktioniert, das weiß man doch nach drei Tagen. Dann muss man es vielleicht noch ein bisschen justieren.
Harald Welzer (52), Soziologe, Sozialpsychologe und Autor, ist u. a. Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen und lehrt Sozialpsychologie an der Universität St. Gallen.
Lesestoff zur gesunden Desillusionierung:
Version: 2.1.2012
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Joachim Gruber