Den Duft dieser Maiglšckchen schicke ich zu Dir. Es sind die Lieblingsblumen der ErzŠhlerin dieser Chronik, Ruth Boerner.

Ich habe ihn ganz klar in meiner Nase. So wie Marcel Proust in seiner "Suche nach der vergangenen Zeit", kommen bei mir immer Erinnerungsszenen hoch, wenn ich einen bestimmten Geruch atme, ein bestimmtes Bild sehe.

Es gibt hier ein weisses, modernes Haus am Eingang zum Friedhof. Mit einem sehr gro§en Garten und im Sommer mit einem Schwimmbecken darin. Jedesmal, wenn ich daran vorbeikomme, blitzen die Bilder aus BrŸhl in mir auf.
Christa Gruber, 15.5.2024

Vorwort: Ida Gruber !

Sie kšnnte durchaus in unsere Jetztzeit (d.h. in die Mitte des 20. Jhds.) gepa§t haben: sie war selbstkritisch und nahm sich daher auch das Recht, andere und anderes zu kritisieren. Sie gab Vorteile auf um einer guten Sache willen, von der sie Ÿberzeugt war. Unterwerfung gab es fŸr sie, jedoch nur mit Wertma§stŠben.


Als ihr Don Juan in Form des Alexander Gruber gegenŸbertrat, - schwarzgelockt, dunkelŠugig, 1,85 m gro§, stand ihr Entschlu§ fest: den oder keinen. Umwerfend war sein badischer Dialekt, gemessen am mitteldeutschen der Ida.


"Einen AuslŠnder heirat meine Tochter nicht!" Das war damals um jeden Preis gŸltiges Verdikt des Vaters. "AuslŠnder ist er nicht," verbesserte Ida ohne Respekt und ohne den Willen zur Unterordnung. Sie heiratete ohne Familiensegen Alexander Gruber, ihre gro§e Liebe, und kehrte dem Elternhaus den RŸcken.


ZunŠchst kam die dunkelgelockte Tochter Ruth zur Welt, dann der blonde Hans.


Der erste Weltkrieg zerschlug das FamilienglŸck. Alexander wurde eingezogen. Ida kehrte, obwohl sie darum bat, nicht in ihr Elternhaus zurŸck. Man hatte ihr nicht verziehen, ohne elterlichen Segen geheiratet zu haben. Als sie dann kurzentschlossen ihr Schicksal in die eigene Hand nahm und berufstŠtig wurde, -damals fast eine Schande, - als sie sehr erfolgreich wurde und auf eigenen FŸ§en stand, šffnete sich ihr wieder die TŸr zum Elternhaus. "Aber nur fŸr dich und die Kinder," hie§ es, "dein Mann kommt hier nicht rein".


1915 starb die neunjŠhrige kleine Ruth nach einem Šrztlichen Behandlungsfehler an den Folgen einer MittelohrentzŸndung. Nach Kriegsende kehrte Alexander, gezeichnet vom Grauen der Front, zurŸck, ohne Einla§ ins Elternhaus und den Wohnort seiner Frau und seines Sohnes Hans zu finden.


1921 wurde die Ehe geschieden. Ida Gruber blieb berufstŠtig und sorgte fŸr ihren Sohn mit der ganzen Kraft ihres Kšnnens und ihrer Liebe.


Zwischen Vater und Mutter gestellt, wurde Hans mit Problemen konfrontiert, die er nicht im Alter von dreizehn Jahren lšsen konnte und wollte. Heute wei§ er, da§ ein Kind umso ruppiger reagiert, je mehr es verloren zu haben glaubt oder tatsŠchlich verloren hat. Den Weggang eines Elternteils aus der Ehe empfindet ein Kind etwa im Sinne von "warum tut man mir das an", oder "Vati hatte mich eben nicht lieb." Da§ es ganz anders ist, wird so einem Kind erst ein paar Jahre spŠter bewu§t.


Doch davon spŠter.

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Familie Boerner

Ganz anders verlief das Leben der Bertha Boerner geb.Wolf mit ihrem Ehemann Georg Boerner.


Im Grunde war Georg Boerner der eigentliche Leidtragende, oder

'Flucht in die zumindest Mitleidtragende, bedingt durch die 'Flucht in die gro§e Welt' des Heinrich Wolf, des ehemaligen KŸchenchef. Georg Boerner wŠre, seinem €u§eren gemŠ§, aber auch durch Veranlagungen, der ideale Hotel-Empfangschef, Verwalter und Promoter gewesen. Er war, wie man sagte, genau die richtige Gro§kotz-Jovial-Mischung, die so ein gro§es Hotel gebrauchen kann, um als 'Was Besseres' zu erscheinen oder auch zu sein.


Nur verstand Georg Boerner, damals BrŠutigam der Bertha, rein garnichts vom Kochen. Er konnte also Heinrich nicht ersetzen. Man feierte noch 1910 die Hochzeit der Bertha und des Georg, dann verkaufte man das wunderschšne Hotel in Bad Salzungen.

Georg Boerners Traum vom Hotelchef war ausgetrŠumt, und prompt zog sich seine Familie in Rudolstadt zurŸck, -und wie zurŸck. Georgs acht Geschwister, alle Mischung Gro§kotz-jovial, hŠtten es doch allzu herrlich gefunden, in 'Georgs Hotel' in Salzungen ein Urlaubsdomizil zu haben, mit dem man angeben konnte, das vor allem nichts kostete, in dem man die besten RŠume bekŠme. Und nun war der Traum aus.


Gutsbesitzersfrau Else, Georgs Šltere Schwester, bildete innerhalb der Familie eine Ausnahme. Sie bot ihrem Bruder an, externer Gutsverwalter und kaufmŠnnischer Berater zu sein, um die Produkte des Ritterguts Clothra an den Mann zu bringen, unentgeltlich natŸrlich. Da vom Hotelverkauf den Lamm-Wolf-Kindern Bertha, Heinrich und Bernhard ein nettes SŸmmchen blieb, war der Lebensunterhalt der Familie Georg-Bertha Boerner gesichert, ohne das Kapital anzugreifen. Man nannte sich PRIVATIER.


Und dann kam der erste Weltkrieg.


Sohn Gerhard war 4 Jahre alt, Tšchterchen Ingeborg 1 Jahr und Ruth wurde im Dezember 1914, zwei Tage vor Weihnachten, geboren, wŠhrend Georg im Krieg war und mehrmals verwundet wurde.

Dieses Bild (RŸckseite) wurde dem Vati ins Lazarett geschickt. Mutti Boerner sieht man an, da§ es nicht leicht war, tŠglich um das Leben des Vaters ihrer drei Kinder zu bangen. Ein Lungenschu§ war lebensbedrohend und fŸhrte zur Stillegung einer Lunge.

The TWO-FIRST-LADIES

Auch wenn Fotos schmeicheln, so ist die ungeschminkte Wahrheit, da§


Ida Wirth, geboren am 3.5.1885 in Merseburg - Tochter des Fabrikanten Franz Paul Wirth und seiner bildschšnen Ehefrau Anna, geb. Otto, -


ebenfalls eine sehr schšne Frau war.


'So verheiratete sie sich mit 20 Jahren, gegen den Willen ihrer Eltern, mit dem Ingenieur Alexander Gruber aus Offenburg/Baden, im Jahre 1905.


Die Tochter Ruth erbte die Schšnheit ihrer Mutter und Gro§mutter.

Der Sohn Hans, - nun ja, das kommt spŠter.

- .-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.

Wenn auch nicht ganz so schšn, so doch Ÿberaus niedlich und schlagfertig war


Bertha Wolf, geb. am 5. Februar 1885 in Meiningen, Tochter des Hotelbesitzers Hermann Wolf und seiner resoluten, tŸchtigen Ehefrau Minna geb. Lamm.

(Bšse Zungen behaupteten damals, als die beiden Urahnen heirateten,

die Natur habe hier einen ihrer Witze vom Stapel gelassen:

nicht der Wolf habe das Lamm geholt, sondern umgekehrt.)


Bertha Wolf, flinkes Hotelierstšchterchen, suchte sich mangels eigener makelloser Schšnheit einen umwerfend schšnen Hotelgast, umgarnte ihn und heiratete den 2, 02 Meter gro§en Georg Boerner aus Rudolstadt, geb. am 28.2.1881 in Greu§en/ThŸringen.


Die 'Hochzeit des Jahres' fand im elterlichen Hotel 'Meininger Hof' in Bad Salzungen/ThŸr. statt, und zwar am 10.April 1910.


Gerhad Boerner kam am 13.12.191o zur Welt, aber seine Geburtsanzeige trŠgt das Geburtsdatum 13.Januar 1911, -aus rechnerischen GrŸnden. (Hochzeitstag bis Dezember enthielt nur eine Zeitspanne von 8 statt 9 Monaten).


Bei den spŠteren Kindern Ingeborg Boerner, geb. am 28.10.1913, und Ruth Boerner, geb. am 22.12.1914, gab es derartige Probleme nicht. (Stammbaum bisher)


Nun ja, das kommt spŠter.

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Konfirmationsbild der Bertha Wolf

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Das Hotelierstšchterchen hatte zwei Šltere BrŸder: Heinrich Wolf, - der hauseigene KŸchenchef des Hotels, und

Bernhard Wolf, -mathematisch sehr begabt, fŸr's Hotelfach jedoch mehr als ungeeignet, weil er alles verschenkte, was ihm entbehrlich schien.


So hatten seine Eltern nichts dagegen, als er nach seinem Schulabschlu§ zur Kaiserlichen Marine ging, um seinen 'Hei§hunger nach Welt' zu stillen.


Einen schweren Schicksalsschlag erlebte aber die Familie Wolf, als Heinrich seine kleine Welt sprengte, um ''Hšheres zu erreichen'. Bei Nacht und Nebel stahl er sich davon, lie§ jahrelang nichts von sich hšren, und tauchte eines Tages als 'KAISERLICHER K†CHENCHEF' im kaiserlichen Hauptquartier wieder auf.

Seine Eltern haben Heinrich recht gut verstanden. Da aber der hochbegabte KŸchenchef, der selbst aussah wie ein Aristokrat, die Seele des Hotels war, war er nicht zu ersetzen. Seine Eltern verkauften den Meininger Hof in Bad Salzungen. Kurz danach starb seine Mutter - sein Bruder, Bernhard Wolf, siedelte vor dem Weltkrieg ins Rheinland Ÿber und nahm seine inzwischen mit Georg Boerner verheiratete Schwester (Bertha) mit ins Kohlegebiet rund um Knapsack. Er wohnte in TŸrnich, sie in BrŸhl.


Nun ja, das kommt spŠter.

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Georg Boerner war kriegsuntauglich geworden. Er wurde als Verwalter im Proviantamt Erfurt eingesetzt. Von BrŸhl war die Familie inzwischen nach Erfurt umgesiedelt. Die Menschen hungerten, - und Georg verwaltete das Proviantamt.


Muttis BŠckchen wurden wieder rund. Kein Wunder, da§ es deshalb Neider gab, die Anzeige erstatteten, "man bringe sich bei Boerners Lebensmittel beiseite."


Georg bot sofort seinem Dienstobersten an, irgendwann Ÿberraschenderweise, -bei Tag oder Nacht, - seine Wohnung zu durchsuchen, denn er als vaterlandstreuer Soldat hatte ein blŸtenreines Gewissen.


Nicht so Bertha. Wenn sie ihren Mann vom Dienst abholte, -was sie sehr oft tat-, kam sie jedesmal mit kleiner Beute nach Hause, von der Georg nichts merken durfte. Deshalb war sie ja auch klein, die Beute.


Der Dienstoberste lehnte natŸrlich lŠchelnd Georgs Angebot ab, Haussuchung zu halten, auf der Georg jedoch energisch bestand, damit dieses 'entsetzlich entehrende Gerede ein Ende finde.' Mutti Boerner spitzte die Ohren und hielt Umschau. Da war eine Truhe, eine Intarsientruhe, wie die vierjŠhrige Ruth sogar schon wu§te, und auf der Truhe lag ein Fell, 'Leopard', verkŸndete Ruth jedermann, der sich auf die Truhe setzen durfte. Und der Dienstoberste sa§ auch darauf, Ruthchen auf dem Scho§, die nicht runterging, wŠhrend seine Mannen die Wohnung auf Wunsch des Hausherrn durchsuchten und, natŸrlich, nichts fanden. Unter Entschuldigungen, Verbeugungen und HŠndeschŸtteln verlie§en die Kontrolleure die Wohnung. Mutti strich die Decke glatt und schaute ihren Ehemann treuherzig in die ehrlichen Augen. "Der konnte garnichts finden," meinte sie. "Weil nichts da ist," ergŠnzte Georg. "Nš, das nicht gerade," bekannte Mutti, "er fand nichts, weil er mit seinem Hintern drauf sa§." Sprachs, šffnete die Truhe und zeigte ihre 'kleine Beute', Egebnisse ihrer Besuche in Georgs Dienststelle, die ihr ab nun striktement untersagt wurden. "Macht nichts, -noch ist ja 'was da," meinte Bertha. Kommt Zeit, kommt Rat (oder Bertha in Vatis 'Proviantamt')


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Mit diesem Bild nach Kriegsende kehrte bittere Not in Deutschland, so auch bei Boerners, ein:


Die Inflation, eine totale Geldentwertung, zerstšrte die Lebensgrundlage des gesamten Mittelstandes: alle Ersparnisse, so auch die der Familie Boerner, waren nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt waren.


Georg Boerner wurde nie mehr ganz gesund, nachdem eine Lunge stillgelegt war. Jahr fŸr Jahr wurden Kuren notwendig, die es zu finanzieren galt. Ruth erinnert sich daran, da§ Kartoffelsalat zum Abendbrot, -ohne Beilage,- ein Festessen war. Zimmer der gro§en Wohnung in Erfurt wurden vermietet, durch Nachhilfe-Unterricht wurden Tag fŸr Tag KŠmpfe gegen všllige Mittellosigkeit ausgefochten, und doch gelang es, die fŸnfkšpfige Familie jahrelang Ÿber Wasser zu halten.


Da holte das Schicksal 1926, drei Jahre nach der Inflation, zum schwersten Schlag aus, der vorstellbar war. Bertha Boerner hatte Krebs und nur noch zwei Jahre zu leben.


Sie erfuhr nicht, da§ ihr Mann vom Tode gezeichnet war und sie nur um fŸnf Monate Ÿberlebte.


Die drei Kinder Gerhard, Inge, Ruth waren Vollwaisen, als im Januar 1929 ihr Vater starb. Gerhard stand vor dem Abitur, Inge kam als 'Haustšchterchen' in ein Kinderheim, Ruth in ein Internat der Neudietendorfer BrŸdergemeine in Neudietendorf. Die Wohnung wurde aufgelšst.


Nach dem Abitur im April 1929 studierte Gerhard Theologie und altsemitische Srachen an der UniversitŠt Halle. Dort geriet er sehr schnell in den Sog politischer Auseinandersetzungen. Als angehender Theologe, der die Not seiner Mitmenschen sehr gut aus eigener Erfahrung kannte, brachte er genau das Engagement mit, das ihn zum krassen Gegner des aufkommenden Nationalsozialismus werden lie§. Ihm war klar, da§ die Ursache der Not seiner Familie, wie auch die von Millionen anderer, der erste Weltkrieg war. Ihm war auch klar, da§ Hitler zur Arbeitsbeschaffung aufrŸsten mu§te, und da§ er kriegerische Expansionspolitik betreiben werde.


Als Vikar erhob er bereits seine Stimme gegen Hitler, und das bedeutete, da§ er in Deutschland nicht mehr studieren konnte, sobald die Nazis an die Macht kamen. Er gehšrte zur Gruppe des Theologen Prof. Barth, und durch ihn bekam er einen Stipendienplatz in Holland.


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Er wohnte und arbeitete ab Januar 1933 in Utrecht. Seine Ferien aber verbrachte er leichtsinnigerweise in Deutschland, um sich um seine beiden Schwestern kiimmern zu kšnnen.


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Am 13.September 1935 erhielt er wieder, wie schon mehrmals zuvor, einen Warnbrief eines 'alten Schulkameraden'. "Kehre noch in dieser Stunde nach Utrecht zurŸck, du bist in Lebensgefahr", hie§ es.

Gleichzeitig aber wurde ihm eine Reise angeboten, Ÿber die er in der Erfurter TAZ berichten sollte, eine Kraft-Durch-Freude-Fahrt nach Assmannshausen. Sein RŸckfahrgeld nach Utrecht konnte

er sich auf diese Weise verdienen.


Er verabschiedete sich von seinen Schwestern Inge und Ruth und erzŠhlte vom Warnbrief, den er als Schu§ vor den Bug deutete mit dem Ziel, ihn zum Schweigen aus Angst zu veranlassen. Gerhard kam von dieser Reise nach Assmannshausen im Zinksarg zurŸck. Er, der als Theologe und mittelloser Student niemals Alkohol trank, soll in Volltrunkenheit unter einen Zug gekommen und auf der Stelle tot gewesen sein. Das ergaben die polizeilichen Ermittlungen, die niemand glaubte.


Erstaunlicherweise wurde, wie spŠter ein BahnwŠrter bekundete, etwa 100 Meter vom UnglŸcksort entfernt, Gerhards Taschenkalender gefunden, blutbefleckt. In verzerrter Schrift stand der Name und eine Adresse darin: Joe Oboven, -eines SS-Mannes aus RŸdesheim.


Inge fuhr nach Assmannshausen, mehrmals, -zuletzt am 4.Dezember 1935. Ruth hat nie erfahren, was Inge bei diesem letzten Besuch festgestellt hat, denn am 5.Dezember 1935 war auch Inge tot, gestorben an Magenbluten, das sich niemand erklŠren konnte. Von fŸnf glŸcklichen Menschen blieb die JŸngste, die Ruth, Ÿbrig, Sie wurde in dem Winter, in dem sie beide Geschwister verlor, gerade 21 Jahre alt.


Sie hatte nur noch den Wunsch, Deutschland fŸr immer zu verlassen. Mit ihrem Wissen um den Tod der Geschwister war Angst ihr tŠglicher Begleiter.


In Abendkursen vervollkommnete sie ihre Sprachkenntnisse in Englisch. Italienisch und Spanisch nahm sie hinzu. Als es ihr gelang, in Berlin eine Anstellung als Auslandskorrespondentin zu bekommen, nahm sie an, um dort im Fascio Italienisch intensiv zu betreiben.

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Im Dezember 1936 lernte Ruth in der ThŸringischen Landesregierung in Berlin, - an ihrem Arbeitsplatz, -den PrŠsidenten der Levantemesse von Bari kennen, bei dessen offiziellem Besuch sie ihm dolmetschte. PrŠsident Larocca war einer der neun 'Getreuen', Nazi-Jargon genannt 'alte KŠmpfer', die neben Mussolini den Marsch auf Rom Ÿberlebt hatten. Er war Privilegierter des Fascio. Als ihr Larocca anbot, als Angestellte der Levante-Messe Bari ihr italienisch zu vervollkommnen, erkannte Ruth blitzartig, da§ sie in der Hšhle des Lšwen wohl am sichersten sei, da§ ihr die Ausreise aus Deutschland, die sie beantragen mu§te, eher gelingen werde als eine Flucht, die sie immer noch plante.

Laroccas Machtwort Ÿberzeugte die GESTAPO, Ruth bekam die Ausreise- genehmigung und sogar, was fast unŸblich war, die notwendigen Devisen, um bis zur ersten Gehaltszahlung in Bari leben zu kšnnen Auf der Fahrt nach Italien kam sie mit jedem Kilometer in Situationen, die gespenstisch wirkten. Im Abteil sa§ ein junger Student, Jude, wie sich herausstellte. Er verlie§ Deutschland anscheinend illegal. Ruth entging nicht, da§ das Abteil, in dem sie lt.Platzkarte sa§, stŠndig kontrolliert wurde, mal offiziell, mal nur im Vorbeigehen.

Ein italienischer Mšnch stieg hinzu. Er versorgte Ruth und den Juden mit Reisebroten, Wein und Obst. Er erfuhr, da§ der Jude Angst habe, da§ Ruth sich auf Bari freue. Er erfuhr auch das Schicksal ihrer Geschwister, -er schwieg und dachte nach. Kurz vor der Grenze …sterreich/Italien stand der Mšnch auf, ging zum Korridor des Zuges und beobachtete dort sehr wachsam, was man im Abteil nicht sehen konnte. Mehrere Personen wurden aufgefordert, ihre Abteile zu rŠumen und in einem besonderen zu warten. Alle wehrten sich verzweifelt, wurden jedoch rasch zum Schweigen gebracht.

Er kam ins Abteil zurŸck, und als sei es das NatŸrlichste der Welt, nahm er zunŠchst Ruths Koffer aus dem GepŠcknetz, dann den des jŸdischen Studenten. "Aussteigen", flŸsterte er, "sicher ist sicher". Als keine Fragen mehr beantwortet werden konnten, weil der Zug bereits in Sterzing bremste, nahm der Mšnch, indem er darauf bestand, selbst die Koffer von Ruth und dem Studenten. Er trug sie zur TŸre, als der Zug hielt. Ruth und den Studenten, die ihm folgten, schien er nicht zu kennen.

Sie Ÿbernachteten in einem katholischen Heim und setzten erst eine Woche spŠter ihre Reise von einem italienischen Bahnhof aus fort. Ruth in die Hšhle des Lšwen.

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Die Zeit in Bari wurde die glŸcklichste in Ruths Leben.

Dreihundert Tage im Jahr strahlender Sonnenschein! Das Adriatische Meer, blau wie der Himmel, war schon im MŠrz so warm, da§ man darin baden konnte, Tag fŸr Tag bis Anfang November.

In Bari gab es keine Angst. Es gab keine Judenverfolgung im italienischen Mussolini-Staat, es gab keine Kriegsgefahr, obwohl der Angriffskrieg auf Abessinien beweisen sollte, da§ Mussolinis Truppen eine Macht verkšrperten. Aber Abessinien war weit, im Ÿbrigen war man ja siegreich.

Politische GesprŠche wŠren absurd erschienen. Dieses sŸditalienische Volk war so arm, da§ da fŸr einen Arbeitsplatz jegliche politische Meinung geopfert wurde. Welttheater, das war etwa die Version, die man der Politik beima§.

Im Sommer war die Arbeitszeit ideal: von morgens sechs bis neun, dann von abends sechs bis neun.

Zwar gab es auch in Bari eine SA-Uniform und den dazugehšrigen SA-Mann namens SchŸtzinger. Er hatte eine kugelrunde italienische Fau und fŸnf Kinder.

In ihrer Freizeit betreute Ruth diese fŸnf, -nicht aus Liebe zu diesen rotzfrechen Rangen, sondern aus Berechnung. Sie machte sich bei SchŸtzingers unentbehrlich und beliebt. So bemerkte der SA-Mann SchŸtzinger nicht, was er hŠtte nach Deutschland melden mŸssen, da§ nŠmlich Ruth eine aus …sterreich geflohene JŸdin solange beherbergte, bis diese auf vielen, vielen Umwegen eine Ausreisemšglichkeit fŸr die USA bekommen hatte. Dieses erst 18-jŠhrige MŠdchen hatte zugesehen, wie man Eltern und Geschwister in Wien abtransportierte, wŠhrend sie von mitleidigen Nachbarn versteckt wurde.

Ruth lernte in Bari ein MŠdchen kennen, das ihr aufopfernd half, den Anforderungen gerecht zu werden, die beruflich an sie gestellt wurden. Marion Negri, genau gesagt: Dr.Marion Negri. Ruth und Marion wohnten zusammen in einem mšblierten Zimmer, sie teilten alles, was sie hatten, ein wenig Schokolade, die man sich am Wochenende leisten konnte, man teilte die Kleidung, -man teilte vor allem aber die Sorgen und vielen Freuden. Man teilte sogar zwei Verehrer: Ruth bekam den Doktor, der immer zahlte, Marion den Bruno, fŸr den sie zahlte.

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Und dann kam Hans Gruber nach Italien. Doch davon spŠter.

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1900-1915
Familie Gruber

Die Familie Gruber wechselte hŠufig ihr Domizil (vŠterlicherseits tŠtigkeitsbedingt). Von Kšthen (Anhalt), dem Geburtsort von Tochter Ruth (3.6.1906) Ÿber Bonn, wo Sohn Hans am 20.2.1908 das Licht in dieser Stad erblickte, ohne da§ man ihm die Schuld zuschieben konnte, da§ diese Stadt spŠter einmal die Bundeshauptstadt werden sollte. Das Schicksal hatte sich auch deshalb keineswegs verpflichtet, einen solchen Aufstieg ebenfalls dem neuen Sohn ihrer Stadt zu garantieren !

Dann ging die Reise weiter nach Nossen ins Kšnigreich Sachsen. Dort fuhren Ruth und Hans im eigenen roten "Kasten-Schlitten", der von einer Ziege gezogen wurde, durch die verschneiten Stra§en. Es entzieht sich heute den Nachforschungen des Geschichtsschreibers, inwieweit das Ziel der Kinder mit dem der Ziege in †bereinstimmung gebracht werden konnte. Schlie§lich in Leipzig gelandet, erwartete die Familie dort den Ausbruch des 1.Weltkrieges.

Davor aber noch zwei wichtige Ereignisse: Wahrscheinlich 1912 beobachtete die Familie mit ru§geschwŠrzten GlŠsern von ihrem Balkon aus eine totale Sonnenfinsternis, die dem damals erst vierjŠhrigen Hans heute noch in Erinnerung ist. Das Gleiche gilt fŸr das Erscheinen des ersten Zeppelins "Schwaben" Ÿber dem Wohnhaus und die Besichtigung des Luftschiffes auf dem Flughafen.

Die Leipziger Wohnung lag in der NŠhe des Všlkerschlachts-Denkmals inmitten vieler GrŸnanlagen in einer historischen Gegend. Dort wurde bekanntlich im Oktober 1813 in den Befreiungskriegen Napoleon entscheidend geschlagen. Von der Wichtigkeit dieser "Sternenstunde" abgesehen, gab es s.Zt. ein Spottvers mit dem Text: "Wer schleicht denn da im Busch herum? Ich glaub', es ist "Napoleum" "Dieses Verschen gab dazu Anla§, da§ die Kinder beim Rascheln unter den BŸschen der Griinanlagen jetzt noch Napoleum" vermuteten!

Ostern 1914 kam Hans in Leipzig-Stštteritz in die Volksschule, wŠhrend Ruth bereits das 3.Jahr die Schulbank drŸckte. Da Ruth ja schon so gro§ war, wurde sie durch FŸrsprache der Gro§mutter Anna auch von Gro§vater Paul in Merseburg akzeptiert und ab 1912 (s. Bilder auf ŸbernŠchsten Seiten) auf den Ostseeurlaub nach Bad Niendorf mitgenommen, ein damals gro§es Erlebnis !

Der Ausbruch des 1. Weltkrieges am 1.8.1914 machte diesem Leipziger "Idyll" ein jŠhes Ende. Der Vater wurde sofort eingezogen und wurde in den Vogesen gegen die Franzosen eingesetzt. Wegen finanzieller Schwierigkeiten erfolgte fŸr den Rest der Familie der Umzug nach Merseburg in die Wirth' sche Wohnung. Da Vater Alex "das Vaterland verteidigte", wurde keine "Sippenhaft" geŸbt, sondern die Familie gnŠdigst in 2 Zimmern vorŸbergehend aufgenommen. Mutter Ida fand auf dem Landratsamt (Kreisbehšrde) eine TŠtigkeit als Leiterin der Lebensmittelkarten-Ausgabe und wurde dadurch zu einem kleinen Teil finanziell von den Gro§eltern unabhŠngig. Schon aus diesem Grund wurde das alljŠhrlich stattfindende "Kinderfest" 1915 mit viel Trara und in halber "Kriegsbemalung" (s. Bild: "Mit Gott fŸr Kšnig und Vaterland"!) gefeiert.

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Ein gemeinsamens Bild von Ruth und Hans entstand noch einmal im Sommer 1915 mit "Ansteck-Schleifchen", die die Nationalfarben von Deutschland und seinen damaligen Kriegs-VerbŸndeten trugen. Dann aber schlug das Schicksal unerbittlich zu: Tochter Ruth wurde krank (Mittelohr-EntzŸndung). Durch FalscheinschŠtzung des Hausarztes wurde daraus eine Hirnhaut-EntzŸndung, die schlie§lich im November 1915 zum Tode von Ruth fŸhrte. Der Schmerz war gro§, auch wenn Hans in seinem Alter die Tragik dieses Geschehens noch nicht ganz begriff. Aus der 4-kšpfigen Familie war nur noch Mutter und Sohn Ÿbrig geblieben.

Die Kriegsjahre waren nicht nur in persšnlicher Beziehung schwer , sondern auch hinsichtlich der tŠglichen Verpflegung. KohlrŸben-Gemtise und -Suppen, mit Gries auf das Vielfache vergrš§erte zugeteilte Margarine-Mengen, Anstehen an den Lebensmittel-GeschŠften usw. waren an der Tagesordnung. Hans ging jeden Abend zu einem "Stadt-Bauern" in den Kuhstall und wartete dort mit vielen anderen bis 2 Stunden, ob er eventuell 1/4 Liter verdŸnnte Milch bekam. Seine Mutter fuhr einmal 1916 mit dem 8-jŠhrigen Hans zu einer der vielen "Hamsterfahrten" weit auf's Land, um fŸr Tauschobjekte (soweit Ÿberhaupt noch vorhanden) und erniedrigendes Betteln ein paar Pfund Kartoffeln, Brot oder Milch zu erhalten. In Corbetha (einer Bahnstation zwischen Wei§enfels und Merseburg) erfuhren sie auf der RŸckfahrt, da§ kein Anschlu§zug mehr an diesem Abend fŸhre. Es blieb ihnen und einer gro§en Zahl anderer "Hamsterer" nichts anderes Ÿbrig, als ca. 20 km nachts mit den so begehrten, glŸcklich erhaltenen Lebensmitteln nach Hause zu laufen. WŠhrend dieses Fu§marsches, der an dem im Bau befindlichen und erleuchteten Leuna-Werk vorbeifŸhrte, wurden die RucksŠcke und Taschen immer schwerer, ja sie wurden "untragbar". So wurde 1 Liter der hei§- begehrten Milch nach dem anderen als erstes in die Gegend ausgegossen. Dann kam ein Teil der Kartoffeln dran usw. Všllig erschšpft kamen Mutter und Sohn gegen 4 Uhr morgens mit einem nur noch geringen Rest der Lebensmittel zuhause an. Man hŠtte damals verzweifeln kšnnen, weil man fŸr noch so viel MŸhen keinen entsprechenden Lohn erhielt. Aber wie immer in schweren Zeiten: man Ÿberwand solche Krisen in der unbeugsamen Hoffnung, da§ es doch bald wieder besser werden mŸ§te.

Hans war 1918 auf das humanistische Gymnasium gekommen, eine gro§e Belastung fŸr die Mutter. Denn es gab damals weder Schulgeld- noch Lehrmittel-Freiheit. Aber die von Klasse zu Klasse in der Farbe unterschiedlichen SchŸlermŸtzen machten die Familie stolz (StandesdŸnkel bei schwersten finanziellen Opfern ohne Elternhilfe ?), zumal die jeden Ostern fŠllige neue MŸtze den erfolgreichen Abschlu§ einer Klasse auch in der …ffentlichkeit anzeigte.

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Ein gro§es Gruppenbild zeigt die SchŸler des Gymnasiums von Sexta bis Oberprima im Jahre 1918 beim obligatorischen "Laubheu-Sammeln". Das Abstreifen der BlŠtter von den StrŠuchern und Sammeln in gro§en SŠcken war in den letzten Kriegsjahren notwendig geworden, um den Pferden an der Front (es waren noch viele im Einsatz) anstelle von fehlendem Heu Ersatznahnung zu geben. Diese Aktion wurde vormittags durchgefŸhrt, soda§ an solch einem Tag schulfrei war. (Hans steht in der 2. Reihe in der Mitte mit Matrosenbluse in schrŠger Haltung hinter einem knieenden SchŸler).

Da§ Hans ein "Kriegkind" war, d.h. da§ sein Geist sich ab seinem 6. bis 10.Lebensjahr in diesen schweren Zeiten erst entwickelte, geht aus einer Frage hervor, die er eines Tages seinen Gro§eltern stellte: "Jetzt stehen immer gro§e †berschriften Ÿber den Zeitungs-Artikeln: z.B... "deutscher Kreuzer versenkt engl. Kriegsschiff" oder "Deutsche Truppen weisen starke franzšsische Angriffe ab" usw. Wenn nun einmal Frieden wird, gibt es dann gar keine †berschriften mehr?"

Wenn es auch noch keine Luftangriffe gab, merkte man doch schon in der Heimat, da§ wir an der Front dem durch die Amerikaner gewaltig gesteigerten Kriegspotential nicht mehr gewachsen waren. Dazu kam die Not im Lande selbst infolge des Mangels an Lebensmitteln und allen notwendigen BedarfsgŸtern. Man gewann langsam die †berzeugung, da§ der Krieg, vom Volke nicht mehr als "notwendig" erachtet (falsche Politik der herrschenden Klassen einschl.des Kaisers), verloren war. So kam es zur November-Revolution (1918) und zur Abdankung des Kaisers. Nach dem Waffenstillstand am 11.11.18 versuchten Spartakisten die Diktatur des Proleletariats nach russischem Vorbild bei uns zu errichten.

Hier setzt nun wieder die RŸckerinnerung von Hans ein. In der NŠhe der Wohnung lag eine Kaserne, um die hŠufig KŠmpfe entbrannten und die schlie§lich unter Gefangennahme der Soldaten von den "Roten" genommen wurde. Da Merseburg im Industrie-Zentrum lag ("Mammutwerk" Leuna, mitteldeutsche Braunkohlengruben und deren Verwaltungen in Halle usw.) hatte die Bevšlkerung sehr unter den rivalisierenden sich stŠndig mit Gewehren, Handgranaten, ja sogar Kanonen beschie§enden Gegnern zu leiden. Der Hšhepunkt dieser blutigen und verlustreichen KŠmpfe war die Besetzung der Leunawerke durch den sŠchsischen KommunistenfŸhrer Hšlz und die "Schlacht" bei Ammendorf (zwischen Halle und Merseburg gelegen) im Jahre 1921.

Gott sei Dank gingen diese Unruhen zugunsten der regulŠren Truppen aus, und es kehrte nun einigerma§en Ruhe ein. DafŸr wurde trotz aller BemŸhungen der Regierung (Ebert) die Reichsmark immer wertloser, soda§ man 1923 bei LebensmitteleinkŠufen nur noch in Millionen und schlie§lich in Milliarden rechnen mu§te. Da das normal vorhandene Geld auch bei den Kommunen nicht mehr reichte, druckte jede grš§ere Stadt ihr eigenes "Notgeld". Jede Woche fuhr am gro§elterlichen Hause in Richtung Leunawerke eine gro§e Autodroschke vorbei, die die hunderte von Milliarden Reichsmark zur Entlšhnung der in Leuna BeschŠftigten enthielt.

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In dieser Zeit gab Hans Gymnasiasten Nachhilfe-Unterricht, den er sich anfangs erst mit Geld bezahlen lie§. Als er aber einen Sohn eines Seifenladen-Besitzers als Nachhilfe-SchŸler bekam, lie§ er sich in Waren, d.h. in Seife auszahlen. Er hatte schlie§lich auf Jahre hinaus keine Seifen-Beschaffungssorgen mehr! Da die Lebensmittelkartenstelle einige Zeit nach dem Kriege aufgelšst wurde, bekam Mutter Ida andere BŸroarbeit.

Im Jahre 1923 starb Gro§vater Paul an einem Herzleiden. Er hatte nicht, wie andere kleine Fabriken sich auf Heereslieferungen eingestellt, die damit ihr "GeschŠft" machten. Dazu hatte er einen zu gro§en Kaufmannsstolz. Die Folge war, da§ seine Peitschen-, Spazierstock- und Lederartikel-Fabrik immer mehr in die "roten Zahlen" kam. Aber wahrscheinlich hatte er nach den Kriegswirren, und der rapiden Inflation keinen rechten †berblick mehr Ÿber seine wirtschaftlichen VerhŠltnisse. Er vererbte die Fabrik seinem Enkel Hans, die nun die Mutter weiterzufŸhren versuchte. Da es aber zwecklos war (es gab ja auch keine Kutschen oder Bauernwagen mehr, wozu Pferde mit Peitschen benštigt wurden), wurden die FabrikgebŠude in ca. 20 Einzelwohnungen umgebaut.

In dieser, in finanzieller Hinsicht schlechten Zeit wurde erwogen, Hans nach der mittleren Reife in die Kaufmanns-Lehre zu geben. Ein Lehrherr war in Magdeburg auch schon gefunden. Schlie§lich gaben aber die Urteilee der Gymnasiums-Lehrer den Ausschlag, Hans unbedingt das Abitur machen zu lassen. Die €nderung im Entschlu§, die ja wieder mit Geldausgaben verbunden war (Schulgeld, Geld fŸr BŸcher u. entspr. Kleidung) brachten fŸr Hans die moralische Verpflichtung mit sich, die in ihn gesetzten Hoffnungen auch flei§mŠ§ig zu erfŸllen, auch auf die Gefahr hin, als Streber zu gelten.

1927 bestand Hans das Abitur, das auch in einer Mittelstadt wie Merseburg mit 35.000 Einwohnern einen entsprechenden Ausdruck fand. Man zog, vorneweg der gymnasialeigene Spielmannzug, in langer Front mit Eichenkranz-geschmŸckten Oberprimaner-MŸtzen vom Gymnasium durch die Hauptstra§en.

Inzwischen (1925) hatte die Mutter das 2.Mal geheiratet und zwar den Chemiker Dr. Leonhard Schmitz, den BetriebsfŸhrer der "Gasfabrik" in den Leunawerken. Die TŠtigkeit des Stiefvaters sowie Ÿberhaupt die neuen und imponierenden Verfahrens-AblŠufe der in Leuna bzw. in der gesamten IG-Farbenindustrie erzeugten Produkte bestimmten nun die Studienrichtung von Hans: Chemie-Ingenieurwesen. 1927 gab es diese aus den USA kommende Ausbildung nur in der TH Karlsruhe, die nach der Masch.Ing.-Ausbildung bis zum Vorexamen dann die Weiterbildung in chemischen und physikalischen FŠchern betrieb. Sie war ganz auf die technische Seite mit chem. Erkenntnissen fŸr die chemische Gro§industrie ausgerichtet (u.a. Gasfabrikation in Generatoren, Apparatebau fŸr die AblŠufe chem. Reaktionen sowie Destillieranlagen, Apparaturen zur Herstellung von Ammoniak, Methanol, Benzin aus Kohle und šl usw.)

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Dieser Einsatz erbrachte 3,- RM/Tag ! 1934

1935 erhielt Hans seine erste bezahlte Stellung (wohl als Folge des Hitler'schen Arbeitsbeschaffungsprogramms) als Betriebsassistent im stŠdtischen Gaswerk in Halle/Saale. 1936 jedoch wechselte er, da er die "Beamten-TŠtigkeit" nicht sonderlich mochte und auch keine Aussicht auf eine Aufstiegmšglichkeit bestand, zu der Apparatebau-Firma Bamag-Meguin AG in Berlin als Projektingenieur und schlie§ich besonders auf Grund seiner inzwischen gesammelten betriebliche Erfahrungen als Ingenieur zur Inbetriebnahme der von ihm projektierten und gebauten Anlagen (z. B. eine in Deutschland, wenn nicht auch in Europa erstmals errichtete Stadtgas-Entgiftungsanlage in Norhausen/Harz, Niederdruckteile in Hydrieranlagen in Leuna, Zeitz, Bari/SŸditalien usw.

Was neben der hauptamtlichen TŠtigkeit des Hans bei der ANIC in Bari geschah, kann man ein paar Seiten den Schilderungen von Ruth entnehmen. Die Arbeit dort war interessant aber auch mit Schwierigkeiten verbunden. Die leitenden Ingenieure und das FŸhrungspersonal kam zum grš§ten Teil aus Mailand, die Arbeiter hingegen waren Einheimische, die zur damaligen Zeit plštzlich aus dem Tomatengarten oder aus dem Fischerboot in Werkshallen gesetzt wurden und sich der modernen Technik všllig hilflos gegenŸbersahen. Aber bei den schlechten wirtschaftlichen VerhŠltnissen nahmen die Leute das auf sich, wenn sie auch auf die von ihnen zu betŠtigenden Armaturen (Schieber, Ventile) Marienbilder aus Pappe stellten und sich. vor jeder Armaturen-BetŠtigung bekreuzigten. Im ganzen gesehen, waren es doch arme Menschen, die fŸr eine Handvoll Lire ihre eigenen ArbeitsanzŸge an ihren ArbeitsplŠtzen verschlissen, ohne dafŸr Ersatz zu bekommen. Es gelang trotz dieser "unbedarften" Menschen nach Fertigstellung diese Hydrieranlage mit albanischem …l nach und nach mit englischem, amerikanischem, hollŠndischen und deutschem Einarbeitungs-Personal in Betrieb zu nehmen. Die Sicherheitsvorkehrungen fŸr die Belegschaft war unvorstell-ar primitiv und unzureichend fŸr unsere VerhŠltnisse und von Umweltschutz hielt man garnichts. Das war 1938/39.

Als man 1960 Bari wiedersah, hatte sich daran nichts geŠndert. Mit vielem Gestank flo§ das Werksabwasser mit …l und anderen Giftstoffen einfach in die schšne Adria. Der "Lido" von Bari war ja einige Kilometer sŸdlich davon, da wird also schon nichts hinkommen! †berdies erhielten die auslŠndischen Ingenieure "Auslšsungen" (das Gehalt lief ungekŸrzt in der Heimat weiter!) von fŸr dortige VerhŠltnisse schwindelnder Hšhe. Dazu kam der unwahrscheinlich fŸr Reichsmark gegenŸber dem Lira gute Wechselkurs, denn die Auslšsungen basierten auf der heimischen WŠhrung. So lebte man anfangs dort wie der "Herrgott in Frankreich".

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(geschrieben am 30.11.1981/)
HANS, das Kind aus einer geschiedenen Ehe und Ruth, elternlos, -beide ohne Geschwister-, trafen sich an Ruths Arbeitsplatz. in der Levante-Messe zum ersten Mal. Hans wollte italienisch lernen, Ruth gab Privatstunden. Was dabei herauskam, war eine Verlobung, -feucht war sie, nicht vom Alkohol, sondern vom adriatischen Meer. Hans und Ruth waren mit einem Fischer hinausgefahren, -eng umschlungen, denn es war im Morgengrauen sehr kalt fŸr zwei, die nur hauchdŸinne Sommersachen (vom fršhlichen Abend zuvor) anhatten.

Der Fischer holte aus der Tiefe des Meeres einen Tintenfisch mit glitschigen, grauen, durchsichtigen Armen und bot ihn als besonderen Leckerbissen an,-zappelnd werde der gegessen, meinte er.

So begann's. FŸr beide war's zum Kotzen, der Fischer sah es. "Was s o anfŠngt, endet immer gut," meinte er, und er hatte recht.

Am Horizont ging die Sonne auf, das Meer, zunŠchst tiefblau, schimmerte in allen Regenbogenfarben, bis es zuletzt Gold auszuspucken schien. "Reich werden Sie sein," meinte der Fischer, indem er auf das Meeresgold wies. Reich sind Hans und Ruth nie geworden, aber es reichte halt immer zum Durchhalten.

Heute wissen beide, da§ sie immer und immer vom GlŸck umgeben waren, wenn Gefahren sich zusammenbrauten. ZunŠchst drohte bereits 1938, als sie sich kennenlernten (und zur Verlobung partout keinen rohen zappelnden Tintenfisch essen wollten) der zweite Weltkrieg. In MŸnchen wurde im letzten Augenblick mit Hitler eine friedliche Lšsung vereinbart, Europa atmete auf, die Vernunft schien Gewalt und Machtstreben besiegt zu haben. Da§ dieser Frieden nur wenig lŠnger als ein Jahr dauern wŸrde, ahnte damals kaum jemand.

FŸr Hans und Ruth gab es Gefahren dieser Art nicht, - aber es gab natŸrlich Sorgen: Nur zu gut kannten beide finanzielle Probleme, -beide wu§ten, da§ mit der Stellung von Hans gesellschaftliche Verpflichtungen verbunden waren, denen man nicht ausweichen konnte. Das hie§, irgendwoher mu§ten standesgemŠ§e Mšbel, das ganze Drum und Dran eines Hausstandes hervorgezaubert werden. Es war ganz anders Œls bei Ehen der Nachfolgegeneration: Ein 'ordentliches MŠdchen' brachte einen kompletten Hausstand mit in die Ehe, andernfalls war es eben nicht 'ordentlich'.

Es half.nichts, ohne Mšbel und Hausstand keine Eheschlie§ung, man wartete. Ruth kehrte zunŠchst ihrem geliebten Bari den RŸcken, weil sie in Deutschland mehr verdienen konnte. Hans blieb in Bari, bis dort seine Arbeit beendet war. Es wurde eisern gespart, -ein ganzes Jahr lang. Dann endlich, am 30.11.1939 -heute vor genau 42 Jahren- traten beide den Marsch zum Standesamt in Berlin an.

Wohnungssuche, Kriegsausbruch, Mšbelbeschaffung, -das alles lag hinter ihnen. Da§ aber am Tage des Einzugs, nŠmlich am 29.11.39, die von ihnen gemietete Wohnung noch nicht ausgerŠumt war, weil nach dem Tod der

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Vormieterin die Erben noch nicht aktiv geworden waren, entdeckten sie wenige Stunden bevor der Mšbelwagen kommen sollte.

Im Hau-Ruck-Verfahren wurden alle Mšbel in einen Raum verfrachtet. Die erste, aber bei weitem nicht die letzte Muskelkraft-Anstrengung in dieser Ehe, die am kommenden Morgen um 9 Uhr staatlich abgesegnet werden sollte. Gegen Mitternacht gab es den ersten Lichtblick im Durcheinander zwischen fremden und eigenen Mšbeln. Hans ging in seine Wohnung, -zum letzten Mal, Ruth wollte noch ein wenig Ordnung schaffen und versprach, dann noch ein paar S+unden zu schlafen. Wenigstens das Schlafzimmer incl. Betten und BettwŠsche mu§te wohnbar sein. Solange wollte sie weiterarbeiten. Hans ging, Ruth schob nach Mitternacht weiter Mšbel, Schutt und Kisten. Es klingelte. Ein wŸtender Hausbewohner erbat sich Ruhe.

Als er den Zustand der Wohnung sah, und erfuhr, da§ morgen per Standesamt geheiratet werden sollte, packte er zu und schuftete bis 8:30 Uhr frŸh. Als er ging, lie§ er eine blitzsaubere Wohnung, voll eingerichtete drei RŠume und gut funktionierende KŸche zurŸck. "Mein Hochzeitsgeschenk", meinte er und bemerkte nebenbei: "Irgendwozu kann man sogar einen ollen Juden brauchen. Sprach's und verschwand.

Ruth war SO verdutzt, da§ sie nicht bemerkte, da§ der Strom ausgefallen war.

Hans stand ab 8:30 Uhr unten auf der Stra§e und versuchte, Steine gegen die im dritten" Stock gelegenen Fenster seiner neuen Wohnung zu werfen, um sich bemerkbar zu machen, da mangels Stroms die Klingel nicht ging. Ruth stand unter der Dusche und zog sich in Windeseile ihr konventionelles schwarzes KostŸm mit wei§er Bluse an, - da fiel ihr ein, da§ Hans ja um 8 Uhr kommen wollte.

Wo er nur bleibt? - Automatisch fŸhrt so eine Frage zum Fenster, und da sah sie ihren Hans, blaugefroren mit Maiglšckchen in der Hand, die alle die Kšpfchen hŠngen lie§en.

Mantel an, TŸre zugeknallt, Treppe heruntergesaust, im Gallopp zum Standesamt. Da endlich gab es Ruhe, und es gab bei Ruths Unterschrift unter dem Heiratsdokument einen Klecks. Kein Wunder, wenn man die Nacht mit einem Juden durchgearbeitet und die eheliche Wohnung eingerichtet hat,. "Schwein werden Sie immer haben", meinte der Sandesbeamte mit einem Blick auf den Klecks.

Dann gab's fŸr die Trauzeugen einen kleinen Imbi§'. Es war ja seit drei Monaten Krieg, Lebensmittel waren rationiert, -vor allem aber stand die kirchliche Trauung mit einer Bombenfeier vor der TŸr, - am 9.Dezember 39!

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FŸr Hans, besonders aber fŸr Ruth begann ein neues Leben, das Anpassung zur Grundlage hatte: Ruth mu§te mit ihrer Umwelt, die sie sich nicht mehr selbst aussuchen konnte, zurechtkommen, und das war schwer. Von Anfang an wurde nicht nur fŸr die nahe, sondern vor allem fŸr die ferne Zukunft geplant. Hans Arbeitsplatz, ideal fŸr einen Junggesellen, bot nicht die Mšglichkeiten, die man bei gro§en Idustrie-Unternehmen fand, vor allem ging es darum, uk-gestellt zu werden, zu deutsch: im Heimatland unabkšmmlich. Als Chemie-Ingenieur waren fŸr Hans die Voraussetzungen dafŸr vorhanden, nun galt es, bei einem Gro§konzern unterzukommen, und das war das Hydrierwerk Pšlitz = HWP.

Der Abschied von Berlin fiel schwer. ZunŠchst gab es in Pšlitz, das neu erbaut wurde, fŸr die ArbeitskrŠfte zwar Unterschlupf, aber noch keine Wohnungen. Das hie§: Hans begann seine neue Arbeit in Pšlitz bei Stettin, Ruth blieb in Berlin. Sie wurde zunŠchst nicht von ihrer TŠtigkeit als Fremdsprachen-Lektorin im Arbeitswissenschaftlichen Institut, Berlin, Mohrenstra§e, gegenŸber vom Kaiserhof, freigestellt. Aber sie erhielt die Erlaubnis, zu Hause zu arbeiten und wšchentlich ihr Pensum abzugeben.

Was lag fŸr eine jung verheiratete Frau nŠher als der Gedanke: das kann ich auch von Pšlitz aus erledigen! Ihr war es egal, welche Wohnmšglichkeiten dort anzutreffen waren, Hauptsache sie war bei Hans. Bei aller Liebe zu ihm schlug sie dabei etliche Haken. Man mu§te mit dem Geld rechnen, -was lag nŠher als Vermietung der Wohnung in Berlin? Hans hŠtte das nie erlaubt, das wu§te Ruth genau. Nur mal so rumhšren wollte sie, und aufeinmal war die Wohnung vermietet, -fŸr einen Mordspreis. Ein Diplomatenehepaar aus RumŠnien hatte gerade Nachwuchs bekommen und wohnte im damals schon von der Wohnungsnot geplagten Berlin recht provisorisch. Die herrlichen Mšbel, die schšne Lage, die gro§en fŸnf RŠume waren genau das, was sich diese Familie wŸnschte. Der Rest ging sehr schnell. Es wurde gepackt, ab ging's nach Stettin-Pšlitz, -die Amzars, das rumŠnische Ehepaar, zogen in die Werftstra§e 8. ohne da§ Hans es erfuhr.

Er fand in einem Dorf bei Pšlitz eine Unterkunft fŸr sich und Ruth, unterm Dachjuchheh in zwei fŸrchterlichen RŠumen und noch fŸrchterlicheren Betten. Man war wieder zusammen! RegelmŠ§ig am Wochenende schickte Ruth ihre Arbeit ins AWI nach Berlin, regelmŠ§ig ging dafŸr das Gehalt ein, regelmŠ§ig die honorable Miete von Amzars, -und ab und zu kamen LebensmittelpŠckchen von ihnen, Diplomatenverpflegungs-†berschŸsse. - Da Jochen bereits unterwegs war, konnten alle zweieinhalb Grubers diese Zusatznahrung guf gebrauchen.

Und noch immer wu§te Hans nichts von der Wohnungsvermietung, bis nach einigen Monaten die ersten Bomben auf Berlin niedergingen. "Wir mŸssen unbedingt nach unserer Wohnung sehen," verlangte Hans. Widerspruch blieb erfolglos. Die Amzars wurden angerufen und bereiteten ein Diplomaten-Essen (Kohlrouladen) vor, und sie waren gespannt, wie Ruth nun mit Hans zurechtkommen werde.

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Als der Zug aus Stettin in Berlin einlief, gab es, wie Ruth aufatmend und hocherfreut feststellte, Fliegeralarm. Das hie§: ab ins nŠchste Hotel und dort in den Luftschutzkeller, Zeit zur Heimfahrt in die Werftstra§e war nicht. Bomben fielen keine, aber es gab auch keine Entwarnung. So verlie§ man zwar den Luftschutzkeller, nicht aber das Hotel, sondern Hans und Ruth feierten bei einem FlŠschchen Wein ihre 'Heimkehr nach Berlin'.

"Was wŸrdest du sagen", meinte Ruth, "wenn plštzlich auf deinem Konto zweitausend Mark wŠren, die wir jetzt versaufen kšnnten?" Hans schwieg und wartete, und so fuhr Ruth fort: "Und was wŸrdest du sagen, wenn ein heimatloses Diplomatenehepaar mit einem niedlichen kleinen Jungen nur ganz vorŸbergehend in unsere Wohnung einquartiert wŠre, und was wŸrdest du sagen, wenn wir von ihnen morgen zum Mittagessen in unsere Wohnung eingeladen wŸrden, und was wŸrdest du sagen, wenn wir diese Nacht in diesem wunderschšnen Hotel mit dem gro§artigen Luftschutzkeller bleiben wŸrden, weil nŠmlich das rumŠnische Diplomatenehepaar in unseren Betten schlŠft und dafŸr bisher mehr als zweitausend Mark auf dein Konto Ÿberwiesen haben, guck mal, hier steht es schwarz auf wei§!" Im Ÿbrigen mu§te Ruth plštzlich ganz schnell auf's Clo,-wenn man ein Baby erwartet, dann wird einem eben manchmal schlecht, besonders, wenn es Aufregungen gibt. Weg war sie.

Am nŠchsten Tag lernte Hans die Amzars kennen. Man konnte ihnen getrost die Wohnung mit allem Drin und Dran anvertrauen, zumal in wenigen Monaten| in Pšlitz in der Werkssiedlung fŸr Hans eine Wohnung fertig sein wŸrde. Auch diese nur provisorisch, das Einfamilienhaus wŸrde etwa ein Jahr spŠter beziehbar sein.

Das Leben der Menschen war in den ersten Kriegsmonaten bis zum Rand ausgefŸllt. Man machte aus der Lage das Beste, im Ÿbrigen waren unsere Tuppen siegreich, ein schnelles Ende des Krieges war absehbar. Man hatte keine Angst. Von der Judenverfolgung wu§ten Hans und Ruth so gut wie nichts. Man siedle sie im polnischen Raum an, hie§ es, in den eroberten Gebieten, und warum sollte man das nicht glauben?

Im bombembedrohten Berlin herrschte Optimismus. Man vertraute 'dem FŸhrer', und die FŸhrerverehrung walzte jeden Zweifel nieder.

In Pšlitz begann fŸr Hans und Ruth das gefŸrchtete Siedlungsleben: Es gab da Abstufungen, die besonders die Ehefrauen hochnŠsig betonten. Wehe, wenn die Frau eines Diplom-Ingenieur bei einem Bauern der Umgebung Spargel kaufte, ehe Frau Oberingenieur, die zwar spŠter kam oder spŠter ihr DienstmŠdchen schickte, die dicksten und meisten weggenommen hatte. Traf man sich dort oder kurz danach anderswo, dann war man schei§freundlich. Das nenne man Demut, -wurde Ruth von Frau Kiehn belehrt, der Ehefrau eines Chemikers, der wiederum etwas mehr war als ein Diplom-Ingenieur und auch ein schon fertiges gro§es Haus bewohnte. Frau Kiehn, Tochter eines stinkreichen Kaufmanns, nahm das gelassen hin, Ruth nicht.

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FŸr werdende MŸtter, und Ruth war eine, gab es eine Kriegszuteilung von Apfelsinen, eine enorme Seltenheit. Wer aber fra§ sie? die Ehefrau des Oberingenieur, keine werdende Mutter, dafŸr aber Schwester des Werksdirektors. Die FrŸchte seien erfroren, hie§ es in dem betreffenden GeschŠft, das die Frau des Oberingenieur so flott bediente. Eine Mutter, die ihr fŸnftes Kind erwartete, brachte die Apfelsinenschweinerei zur Sprache. Prompt wurde ihr Ehemann zum MilitŠr eingezogen, kam an die Front und fiel.

Wer nicht lernte, das Maul zu halten, riskierte sehr viel fŸr sich und seine Angehšrigen. Nur der Zufall hatte es gewollt, da§ Ruth nicht diejenige war, die ihr Recht (und das der anderen MŸtter) geltend machte. Dann wŠre ihr Mann an die Front gekommen, und Ruth hŠtte sich die Schuld gegeben.

In sehr jungen Jahren lernte man zu schweigen, kampflos zuzusehen, wenn Unrecht geschah. Man war kein Einzelwesen, und man fragte sich, ob es sich wirklich lohnte, -Ruth fragte sich, ob es sich gelohnt hatte, da§ ihre Geschwister bis zum bitteren Ende fŸr das Recht eingetreten waren.

Es ist Ÿbrigens eine Frage, die man sich immer und immer wieder stellt, solange man lebt. Man kommt sogar zum Schlu§, da§ nur ganz, ganz wenige Menschen es wert sind, wenn sich jemand fŸr sie einsetzt oder sogar opfert. FŸr abstraktes Recht zu kŠmpfen -wobei man das ja dann bis zum Ende tun mu§, widersrpicht dem Selbsterhaltungstrieb fast jeden Menschen.

Hans und Ruth reduzierten ihren ganzen persšnlichen Einsatz auf ein einziges Ziel: die GrŸndung einer Familie, die Schaffung eines gesunden, stabilen Lebensfundaments fŸr die Kinder, die man sich wŸnschte.

Ruths Lebensbedingungen in ihrer Kindheit und Jugend waren so schwer, da§ die gesamte Planung und ihr Einsatz fŸr das fernere Leben mit Hans davon geprŠgt waren. Und so trug sie, wie ohne Ausnahme alle anderen, eben den Maulkorb. Mit einigen Freunden, der Familie Kiehn und dem Arzt-Ehepaar Ravens, konnte man Ehrlichkeit riskieren. Man traf sich oft in der wunderschšnen Wohnung, -d.h. im Einfamilienhaus,- das Hans und Ruth bezogen, als Jochen geboren und neun Monate alt geworden war.

Das Herrenzimmer war fast pompšs zu nennen: Der Stollenschrank, reich und wuchtig geschnitzt, wurde von Kennern bewundert. Schreibtisch und -stuhl lockten zur Bemerkung: Hans mŸsse aber wesentlich dicker werden, wenn er diesen Platz ausfŸllen wolle. Der Kronleuchter wŸrde heute mehhr kosten als unsere gesamte Wohnungseinrichtung. Er wog mehrere Zentner und mu§te infolgedessen stets SpezialaufhŠngungen haben. Der achteckige Tisch wog fast genauso viel. Und das wei§e Sofa mit den Sesseln hatte seine eigene Geschichte: Ruth, die damals im dritten Monat werdende Mutter war, mu§te sehr frŸhzeitig dafŸr sorgen, einen Kinderwagen zu bekommen. Sie waren mehr als rar, und man brauchte Monate, einen zu finden. Als sie endlich GlŸck hatte, stand im Schaufenster des Nebenhauses diese herrliche Couchgarnitur, gerade neu hereingekommen. Ruth lie§ den Kinderwagen sausen und kaufte (fŸr das gleiche Geld) Sofa unsd Sessel. Sie war nur werdende und beileibe nicht richtige Mutter.

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Es war damals keineswegs Ÿblich, da§ MŸtter berufstŠtig waren, im Gegenteil: fŸr die Nachkommenschaft, -die Garanten der Zukunft-, wie Hitler sie nannte, wurde sehr viel getan. Ruth wurde von ihrer TŠtigkeit vom AWI Berlin 'beurlaubt'. Das Geld war sowieso nichts mehr wert, weil man nur auf Lebensmittelkarten das Nštigste kaufen konnte. Die Sparkonten wuchsen plštzlich. Ein nie gekanntes GefŸhl fŸr Ruth.

Im Garten baute man sich GemŸse und Kartoffeln an, Obst brauchte zumeist drei Jahre, bis es geerntet werden konnte. Das Haus in Pšlitz, 2 Etagen mit insgesamt 6 Zimmern, zwei Fluren und Bad, wollte mit knappen Putzmitteln (es gab weder Seife noch Bohnerwachs), sauber gehalten werden. Im Ÿbrigen fuhr man, sooft es eben ging, in Nachbardšrfer, um Lebensmittel, die nicht kartenpflichtig waren, zu bekommen, -Kartoffeln, jede GemŸsesorte, die man nicht im Garten hatte. Pommerscher Spargel ist eine SpezialitŠt gewesen, und gern nahm man lange Fahrten und noch lŠngeres Warten auf sich.

Es verging kein einziger Tag, an dem Ruth nicht dankbar aufwachte, weil Hans nicht einberufen war. Der Krieg mit Ru§land hatte noch nicht begonnen. Abends, wenn die Arbeit getan war, las Hans aus sehr guten BŸchern, die es lŸckenlos gab, vor und Ruth strickte fŸr Jochen, was er grad brauchte. Dann bummelte man durch die Siedlung, schaute hier oder dort mal rein und tauschte neue Erfahrungen Ÿber den Nachwuchs aus.

Ruth erinnerte sich: Ein Durchschnittsleben, -mehr stand uns ja auch nicht zu. Bis auf Lebensmittelrationierung waren wir vom Krieg verschont, bis, ja bis auch auf Stettin und Pšlitz die Bomben fielen. Das Hydrierwerk wurde zerstšrt, es wurde wieder zusammengeflickt, und genau am ersten Tag der neuen Inbetriebnahme kamen die Bomber und zerstšrten es wieder. Das erste Haus in der Siedlung, das dem Erdboden gleich gemacht wurde, nachdem es einen Bombenvolltreffer erhielt, was das von Kiehns. Der Krieg mit Ru§land begann, ein grausamer Krieg, wie man von Urlaubern hšrte. Und wieder war man dankbar dafŸr, da§ dieses Grauen an uns vorŸberging, -eine egoistische Einstellung, aber eine andere gab es nicht fŸr Eltern, die fŸr ihre Kinder zu sorgen hatten.

Im Garten hatten wir BŠumchen gepflanzt, die wir selbst aus dem angrenzenden Wald ausgebuddelt hatten, zwei Birken. Und wir hatten irgendwo einen Steckling gefunden und eingepflanzt, der sich als Quittenbaum entpuppte. Als wir Jahre spŠter auf Nimmerwiedersehen Pšlitz auf dem Fluchtweg verlie§en, trauerte ich diesen BŠumchen nach, -komischerweise nicht unseren herrlichen Mšbeln.

Wenn ich mich heute an das wei§e Schleiflack-Schlafzimmer erinnere, mit winzigen Holzperlen und Ornamenten verziert, dann kann ich selbst nicht verstehen, warum mir der Abschied von solchen WertgegenstŠnden nicht schwer fiel.

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Im linken Bett schlief ich, im rechten Hans unter friedensmŠ§igen Daunendecken, dem Hochzeitsgeschenk von Hans' Mutter.

Eines Morgens, es war Sonntag im Mai, wachte ich auf, und mir kam vor, als werde ich sogleich umfallen, wenn ich aufstehen wŸrde. Und das stimmte. Ich kippte um. Als Hans mir zu Hilfe kommen wollte, lag auch er bewu§tlos am Boden.

Also ist nicht das neue Baby schuld, das ich erwarte, dachte ich, schleppte mich zum Telefon, wŠhlte irgendeine Nummer und bat den GesprŠchspartner, uns zu helfen, irgendetwas sei passiert, wahrscheinlich ein Gift-Luftangriff. Wir kšnnten nicht stehen, mein Mann liege bewu§tlos am Boden. Ehe Hilfe kam, kroch ich ins Kinderzimmer, in dem Jochen zusammen mit unserem KindermŠdchen Erika schlief, bei meinem Anblick, auf allen Vieren vor seinem Bett, lachte er so laut, da§ Erika erwachte und sofort aus dem Bett sprang. Gottseidank, hier war kein Giftgas. Erika ging zur TŸr, als die Polizei mit SanitŠtern lŠuteten. Wir wurden abtransportiert, bekamen komische Spritzen und erfuhren, da§ wir eine Kohlenoxydvergiftung hŠtten.

Vom Herrenzimmer aus, das unter dem Schlafzimmer lag, war Kohlenoxyd via Schlafzimmerofen nach oben gekommen. In der Ecke, -neben dem Toilettentisch, sieht man den Kachelofen, durch den das Gas ins Schlafzimmer kam.

"Nun braucht Hans, weil wir alle GlŸckspilze sind, nicht an die Front,- und was passiert? Er kriegt eine Giftgasladung im Bett, die lt.Haager Bestimmungen bei KriegsfŸhrung verboten ist,"erboste ich mich.

Es wurde eigentlich von da an fast zur Gewohnheit, sich als GlŸckspilz zu fŸhlen, -ein herrliches GefŸhl: Im Wald wurden Walderdbeeren reif, ganze Ladungen, die man an einem Vormittag pflŸckte, -Jochen wuchs prŠchtig heran. - Da die Bildchen von ihm erst spŠter kommen, Ÿberspringe ich hier 16 Monate, und zwar die Zeit vom Dezember 1941, als er laufen und sehr hŸbsch sprechen lernte, bis zum Mai 1943, als wir uns auf die Geburt von Hansi freuten, unseren zweiten Sohn, der eigentlich ein MŠdchen werden sollte.

Jochen stand oft im Flur der ersten Etage auf der gepolsterten Holzbank und schaute zum Fenster hinaus. Er war fasziniert vom Anblick zweier Schornsteine des HWP. Mit dem Mund machte er die Dampfstš§e nach, die herauskamen.

Und eines Tages kam er zu mir gerannt, fa§te mich bei der Hand, fŸhrte mich zum Flurfenster und sagte: "Der eine hat, der andere hat nicht, warum?" "Mu§t Papi fragen," wich ich aus, um nicht von 'Bomben' zu sprechen.

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Es war damals schon ein Luxus, einen kombinierten Kohle- und Gasherd zu haben, und er kam uns immer dann zugute, wenn durch Luftangriffe das Gas ausfiel. Dann kochten wir eben mit Kohle. Vor zwei Fenstern war ein langer Arbeitstisch mit eingebauten SchrŠnken, gegenŸber ein Besenschrank. Und das war auch schon alles. Zu mehr hatte das Geld nicht gereicht, und daran waren wir selbst schuld. Anstatt eine 'standesgemŠ§e' KŸche zu kaufen, leisteten wir beide uns den Luxus, fŸr einen enormen Preis ein Kofferradio zu kaufen. Das war damals das Neueste auf dem Markt. Mit sehr verlangenden Augen hatten wir es viele Tage lang, immer im Vorbeigehen, angeschaut, und plštzlich hatten wir, die seit Monaten so eisern sparten, das BedŸrfnis, vollkommen aus der Rolle zu fallen, so richtig leichtsinnig zu sein. Immerhin war es ja unser Geld, und es war auch unsere Entscheidung: standesgemŠ§e KiŸche oder popelige, die den Kauf des Kofferradio ermšglichte. Und dieser Seitensprung ist uns in Erinnerung geblieben, weniger das eiserne Sparen und was damit zusammenhing.

Hans hatte zu jener Zeit, d.h. vor Ausbruch des Krieges, noch einen PKW, einen Adler, mit dem man offen fahren konnte. Wir brausten damals los und lie§en unsere Errungenschaft so laut spielen, da§ auch alle, die hinter, vor und neben uns fuhren, etwas davon hatten. NatŸrlich gab es Kritik der Schwiegereltern, das ist ja klar. Sie wurde geschluckt. Sah ich dann Tag fŸr Tag in Pšlitz bis zur Flucht 1945 meine popelige KŸche mit dem Luxusherd, dann kam mir immer wieder unser so herrlich leichtsimjger Radiokauf in Erinnerung, und ich geno§ ihn immer und immer von neuem.

An das Kinderzimmer, in dem auf Eikas Wunsch ihr Bett stand, weil sie so sehr am Jochen hing, knŸpft sich ebenfalls eine kuriose Kriegserinnerung:

Wie uns schon fast zur Gewohnheit geworden war, mu§ten wir mal wieder nachts bei Fliegeralarm raus und in die Bunker rasen. Jeder Handgriff sa§: Jochen wecken und anziehen, Gas der Durchlauferhitzer abdrehen, Fenster aufklappen, damit bei Luftdruck nicht alle Scheiben zu Bruch gingen, schnell noch mal zum Clo in feststehender Reihenfolge, MŠntel und immer fertig gepackte Koffer nehmen, in denen alle Dokumente u. Wertsachen waren, -und ab gings in die Bunker. Komischerweise geschah in jener Nacht garnichts, trotz Feindeinfluges, der gemeldet war. Es blieb still bis auf beruhigendes MotorengerŠusch, -also kein Angriff. Dann kam die Entwarnung, wir gingan schlaftrunken nach Hause und, im Kinderzimmer und rund ums Haus (trauten wir unseren Augen nicht), lagen Geldscheine en masse. Wir sammelten sie ein, - Lebensmittelkarten wŠren uns lieber gewesen, denn fŸr Geld konnte man kaum noch etwas kaufen,- es wurde getauscht. Wie wenig kannte der Feind, der es abgeworfen hatte, unsere Lage.

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Und weil es die Reihenfolge der Fotos so will, gehen wir um 16 Monate zurŸck, zurŸck zu Jochens Taufe, die wir in Leuna, dem Wohnort von Hans' Eltern, feierten.

Hans' Gro§mutter war schon 80 Jahre alt, -eine in diesem hohen Alter noch immer schšne, sehr schlanke Frau. Aber dafŸr hatte das Wickelkind Jochen, soeben getauft, Ÿberhaupt kein VerstŠndnis. Urgro§mutter- Instinkt gab es nicht, und so wurde eben gebrŸllt. Es klang stets wie Hn-Ga! Zu deutsch: Hunger! Er konnte ununterbrochen saufen, mal Milch, mal Tee.

Abends gegen 20 Uhr hatte er seine Schreistunde, die er fast auf die Minute pŸnktlich beendete. Und diese Stunde benutzten wir zum Saziergang rund ums Haus, wo wir unseren Sprš§ling hšren konnten, ohne da§ unser Trommelfell strapaziert wurde.

Viel zu schnell wurde er grš§er. Man mšchte als Mutter eines Baby schrecklich gern die Zeit anhalten, gleichzeitig ist man aber neugierig auf Fortschritte.

Es ist auch zu niedlich, wenn man frŸhmorgens mit einem quiekenden Lachen begrŸ§t wird. Mit sechs Monaten hangelte sich Jochen schon am Bettchen hoch, purzelte um, kam wieder hoch, und das ging tatsŠchlich manchmal eine ganze Stunde lang.

Mit etwa 8 Monaten begann er zu quasseln, sobald er aufwachte, -mit nur zwei Buchstaben, d und e. De-de-de wurde zig-mal anders betont, mal hoch gequietscht, mal ganz tief gebrummt, dann zŠrtlich geflŸstert, wir konnten ihm stundenlang zuhšren. So klein war seine Welt mit Monaten nŠmlich garnicht, es gab sehr, sehr viel zu sehen und zu erzŠhlen. Und dann kam der 22.Dezember 1941. Genau an diesem Tag, an Muttis Geburtstag, wurde Jochen gegen Abend so krank, da§ er sofort ins Krankenhaus in Stettin gebracht werden mu§te, wo eine Notoperation vorgenommen wurde. Ein eingeklemmter Bruch, der sich nicht lšsen lie§, wurde operativ beseitigt. Jochen weinte ununterbrochen und litt unbeschreiblich unter dem Schock, aus seiner schŸtzenden Welt herausgekommen zu sein. Er sei ein'scheu§lich' verwšhntes Kind, hie§ es im Krankenhaus nach ein paar Tagen. Das war er nicht, und auch der Schock war eigentlich ein wenig abgeklungen, denn seine Umgebung nahm er neugierig wahr, sobald wir ihn besuchten."Irgendetwas hat er au§er dem operierten Bruch," meinten wir, aber wir wurden abgeschmettert: "Nichts hat er, er ist ma§los verwšhnt". Krank, ohne Liebe und ganz sicher gefŠhrdet, so war Jochen damals, und wir setzten es durch, ihn sogleich mitnehmen zu kšnnen mit dem Hinweis bester Pflege durch unseren Freund Dr. Ravens. Zu Hause angekommen, stellte Ravens eine vernachlŠssigte MittelohrentzŸndung fest, deren Entwicklung lebensbedrohend gewesen wŠre, hŠtten wir dieses "verwšhnte Kind, das immer schrie", nicht auf eigene Verantwortung mit nach Hause genommen. Hans hatte genau durch solch ein Šrztliches Versehen seine Schwester Ruth verloren, und sicherlich deshalb handelten wir unbewu§t richtig.

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Nicht bei der Eheschlie§ung, auch nicht bei Jochens Geburt, sondern als dieser kleine Kerl plštzlich schwer krank und bei sehr mangelhafter Pflege ins Krankenhaus eingeliefert wurde, trat bei mir eine Wandlung schlagartig ein: es war die Wandlung vom Ich zum Du. Zuvor ging es mehr als zwei Jahrzehnte ja immer um's liebe Ich: wie komme ich vorwŠrts welche Pflichten, welche Rechte habe ich, welche Rolle spiele ich in diesem Leben, wo ist mein Platz, wo mein Engagement, wo ist mein GlŸck, Wo mein Pech oder echtes UnglŸck. HŠtte ich zu jener Zeit unter dem Einflu§ Freud'scher Psychoanalysen-Weisheit gestanden, hŠtte ich mich von innen bespiegelt und analysiert, du lieber Gott, was wŠre aus mir geworden! Das Seelenleben eines jungen MŠdchens, das mit 14 Jahren Vollwaise und sowohl mittel- als auch rechtlos war, das mit allen Fasern des Herzens an einer mšglichst umfassenden Schulbildung hing und trotzdem "aufgrund sehr hoher Begabung ausnahmsweise" vom Jugendamt Erfurt die mittlere Reife finanziert bekam, nicht aber das Abitur, ein solches Seelenleben hŠtte mehr als dŸster ausgesehen. Als ich dann, -wiederum aufgrund 'hervorragender' Leistungen in der hšheren Handelsschule 'vorzugsweise' -Anstellung in einem Rechtsanwaltsbiiro fand, wŠhrend Jugendarbeitslosigkeit selbstverstŠndlich war, hŠtte mich die helle Verzweiflung gepackt, denn dieser Anwalt war Spezialist in Ehescheidungen, -so dreckig, so hundsgemein ordinŠr, so geil-verrucht, da§ ich vom GlŸck sagen konnte, mich als seeelenlos zu empfinden, -nur als Kšrper, der durchhalten mu§te, bis ich auf eigenen FŸ§en stehen konnte. Meinen Geschwistern ging es auch miserabel: Inge, kŸnstlerisch begabt und fast ein Wunderkind auf dem Klavier, -aber všllig untauglich in praktischen Dingen, kam als 'Haustšchterchen' zu einer Pfarrersfamilie mit fŸnf Kindern und der Frau Pfarrer, die wohl an die drei Zentner wog. Inges HŠnde sahen nach ein paar Wochen fŸrchterlich aus, und sie selbst war weniger als ein DienstmŠdchen, denn die bekamen 30-50 RM pro Monat, Inge, als Haustšchterchen, nur ein familiŠres Taschengeld von 10 RM. Und Gerhard hatte sein Abitur in dem Jahr gemacht, in dem beide Eltern starben. Er studierte Theologie, notgedrungen, denn dafŸr gab's Stipendien, -fŸr andere FŠcher nicht. Chemie hŠtte er gern studiert u. Fremdsprachen, - was soll's. In einer solchen Lage kommt es zwangslŠufig zum Ich-Denken, sobald man sich herausgewurstelt hat. Unter schwersten UmstŠnden, als ich sozusagen mein Seelenleben zum Schweigen bringen mu§te, gab es weder GlŸck noch UnglŸck, -weder Freude noch Trauer, es gab nur den Befehl: VorwŠrts. Kaum aber war dieser Zustand Ÿberwunden, kaum ging es wirklich vorwŠrts,

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verglich ich mich mit anderen, denen das Schicksal unvergleichlich viel gewogener gewesen war: Wieso gab es frŸhere Schulkameradinnen von Neudietendorf, die viel, viel dŸmmer waren als ich, die ihr Abi gemacht und studiert hatten, deren Eltern lebten, -und wie sie lebten: angesehen, gesellschaftlich anerkannt, ohne finanzielle Sorgen. Sie schickten ihre Tochter nach Borkum an die See, ganz allein, und zurŸck kam dieses schšne MŠdchen froh, braungebrannt und verlobt mit einem stinkreichen Apotheker. Und Agnes hatte in der Handelsschule, die wir gemeinsam besuchten, ihren Verlobten gefunden: den Sohn eines Zigarrenfabrik-Besitzers, und sie heiraten sehr jung, wŠhrend ich den ganzen Schmutz gescheiterten Ehelebens im AnwaltsbŸro kennenlernte? Mich packte damals die helle Verzweiflung. Gottes Tretschemel nannte ich mich Damals wu§te ich nicht, was mir spŠter bewu§t wurde, da§ man, sobald es einem dreckig geht, niemals nach innen schauen darf, niemals die Seele mit Selbstbetrachtung oder Selbstanalyse verwunden soll, denn diese zerrissene Seele, die man durch Selbstbetrachtung ja weiter zerrei§t, kann dann nicht heilen. LŠ§t man sie aber všllig in Ruhe, so wie ich es unbewu§t wŠhrend der gro§en Elends- und DemŸtigungsjahre tat, dann heilt sie. Und sie entwickelt eine StŠrke, die Ÿberrascht. Aber das dauert lange. Konkret angewandt bedeutet diese Erkenntnis: ein Mensch, der seelisch am Boden iegt, setzt sich nicht-seelische Ziele. Das ist Schritt Nummer eins; Engagements innerhalb einer (wie damals vorhanden) nationalen Situation, eigene Appelle an moralische Verpflichtungen, an Eintreten fŸr Recht, am BekŠmpfen von Unrecht, -kurz gesagt, moralische Verpflichtungen au§erhalb des eigenen Kšrpers, belasten eine verwundete Seele so sehr, da§ sie nicht heilen kann, wo man doch heilen mŸ§te.

Meine Geschwister taten das Gegenteil: Sie ŸbertŸnchten ihre rein Šu§erliche verzweifelte Lage (Gerhard als Student und Inge als DienstmŠdchen) mit seelisch-moralischem Engagement. NatŸrlich verloren sie dabei das Augenma§, und sie schlugen um sich, da§ die Fetzen flogen, und sie vernichteten sich selbst, ohne irgendjemandem geholfen zu haben. - Nix da: Engagements kann sich nur eine gesunde, niemals aber eine kranke SŽele leisten, niemals eine verwundete. Sie braucht Pflege, und sie bekommt sie, wenn man sich durch Arbeit bis zum Gehtnichtmehr ablenkt, um nur nicht nachzudenken eben Ÿber diese Seele. Daran hat Freud nŠmlich nicht gedacht, als er seine Theorien Ÿber Psychoanalyse aufstellte. Ich meine, sie ist nur bei anderen, nicht aber bei der eigenen Seele anwendbar. Ich kann mich irren, was macht's?

In diesem weiten Spannbogen bewegte sich mein damaliges Denken und mein Innenleben. Und aufeinmal war das alles weggeblasen. Ich dachte garnicht mehr Ÿber mich nach, ich hatte ein reizendes, allerliebstes, sonniges Kind, das mir gehšrte, vor allem aber, dem ich ganz gehšrte. Das schwor ich mir, als Jochen wieder gesund wurde. Und von da an wurde es wirklich ein 'ganz und gar verwšhntes Kind" Und einen ganz und gar verwšhnten Papi gab es auch. Ich nahm ihm alles ab, was beastete, Ich hŠtte fŸr ihn geklaut u. geprŸgelt, wenn's nštig war.

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Mit den Augen von heute, nach 42 Ehejahren, begreift man den Optimismus nicht mehr, der damals fŸr uns selbstverstŠndlich war: Deutschland hatte ein Kriegsrisiko auf sich genommen, das nur mit einer Katastrophe enden konnte: Ru§land war nicht zu besiegen! Den Soldaten, (die nicht dafŸr ausgerŸstet waren,) russische Winter zuzumuten, war heller Wahnsinn! Deutschland konnte doch einen solchen Krieg nicht gewinnen! Die Erfahrungen nach dem verlorenen ersten Weltkrieg waren nicht vergessen: všllige Verarmung eines ganzen Volkes, Arbeitslosigkeit jedes dritten Deutschen, - wie also wŸrde die Zukunft aussehen? Wer konnte verantworten, noch Kinder in die Welt zu setzen? Jeder Deutsche war fŸr die Sieger ein Kriegsverbrecher! Wer glaubte da an Kinder-S e g e n? Wir! Auch Hansi war ein Wunschkind.

Die GedankengŠnge von damals rufen heute sogar bei uns KopfschŸtteln hervor: Wir meinten, nach einem solch mšrderischen Krieg sei 'unser deutsches Volk' ausgeblutet, die mŠnnliche Jugend zu Millionen gefallen, auch in der Heimat gab es schwere Verluste, wie sollte denn ein solches Volk weiterbestehen und sich von den KriegsschŠden erholen, wenn der Mut verloren ging, Kinder zur Welt zu bringen? Da§ unser zweites Kind gute Lebensbedingungen vorfinden wŸrde, bezweifelten wir nicht, weil Hans' Arbeitskraft ja hoch im Kurs stand, weil die 'Erbmasse', -diesen Begriff verherrlichte man damals,- ja bei uns ''vielversprechend' war, um nicht zu sagen 'bestens': Hans der Realist und ich die phantasiebegabte Frau mit Liebe zur Kunst.

ˆ propos Kunst: von au§en gab's nichts mehr. Was man nicht im Herzen trug, war verloren. Es gab keine Schallplatten, Theaterbesuche waren, weil stŠndig Fliegeralarm drohte, unmšglich, gute BŸcher wurden immer rarer, und was das Radio bot, das waren ganz und gar falsche Tšne im Sinne eines Heroismus, der wie eine Seifenblase aus einem Strohhalm quoll, sich aufblŠhte oder aufblŠhen lie§, um zu zerplatzen.

Ich glaube, damals, im ZwiegesprŠch Ÿber Kunst mit Hans und einigen Freunden, entdeckte ich, wie viel Schšnes doch ins Unterbewu§tsein abgesunken war und abrufbereit war: Wir hatten in den paar Monaten, die wir gemeinsam in Berlin lebten, gute AuffŸhrungen gesehen, zum Beispiel den Falstaff mit Heinrich George. -Unverge§lich war der mŠrchenhafte Zauber langer Musikpassagen im Lohengrin. Heute grinst man Ÿber den Schwan, der fahrplanmŠ§ig lt.Wagner verkehrt. Aber damals lie§ man sich verzaubern von "Im fernen Land, unnahbar euren Schritten, liegt eine Burg, die Montserat genannt. Ein lichter Tempel stehet dort inmitten, so prŠchtig als auf Erden nicht gekannt. ..."

Als wir diesen 'lichten Tempel' dann spŠter in Montserat b. Barcelona (zusammen mit allen drei Kindern) sahen, war er durch diese herrliche mŠrchengeladene Musik ein alter Bekannter fŸr mich, vor allem verkšrperte er fŸr mich die Gewi§heit, da§ sogar manchmal MŠrchen in ErfŸllung gehen, obwohl dieses MŠrchenhafte wei§ Gott unerreichbar schien, jahrzehntelang. Man ahnt einfach nicht, welchen Zauber, welche †berraschungen das Leben, das oft, sehr oft so dŸster und teuflisch erscheint, bereithŠlt und mit einem Tritt in den Hintern (weil man sich mal unterkriegen lie§) serviert wird.

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Es wŠre gelogen, wenn wir beide behaupten wollten, wir seien immer stark und guten Mutes gewesen. In einer Diktatur blŸht das Intrigantentum, die Speichelleckerei, krasser Egoismus, LŸge und Verrat. Wie verzweifelt kam Hans oft von seiner Arbeit nach Hause. Standhaft widersetzte er sich dem ParteigŠngertum, wŠhrend alle seine Vorgesetzten Hitlerleute waren, sei es in der SA oder in der SS, -und die Frauen waren selbstverstŠndlich in der 'Frauenschaft'.

'Frauenschaft'. Ich war als Auslandsdeutsche in Bari automatisch in die AuslŠnder-Frauenschaft eingruppiert worden, war aber, da ich diese Mitgliedschaft in Deutschland nicht umschreiben lie§, automatisch drau§en. NatŸrlich merkten wir das, besonders bei den dŸmmlichen Alleswissern von FŸhrers' Gnaden. Der Himmel auf Erden war dieses Dahinleben zwischen Alarm, Lebensmittelbeschaffung und Kinderversorgung nicht.

Kam aber Hans ernst nach Hause, dann spŸrte ich kšrperlich sogar die Pflicht, fršhlich zu sein. Wie viele deutsche Ehepaare unseres Alters gab es, die zusammenbleiben durften? Wie viele MŠnner in Hans' Alter hatten das GlŸck, in der Heimat zu bleiben, nicht tšten zu mŸssen und nicht dem Tod preisgegeben zu werden?

Ganz wenige, aber: Das waren Kriegsma§stŠbe, -zugegeben. Aber Šndert der Begriff Krieg denn etwas daran, da§ unsere heutige Jugend, -genau wie damals Hans, von GlŸck sagen kann, nicht tšten zu mŸssen und nicht lebensbedroht zu sein durch den Wahnwitz einer Politik?

Vor allen nachfolgenden †berlegungen mŸ§te auch bei unseren heutigen jungen und mittelalterlichen Menschen erst mal die Dankbarkeit dafŸr stehen, da§ wir Frieden haben. Und da wir Frieden haben, besteht doch die Pflicht zur Fršhlichkeit. Wenn ich sie damals, angesichts tŠglich drohender Gefahren fŸr mich, meinen Mann und mein Kind, als striktes Gebot erkannte, so mŸ§ten doch unsere Kinder und ihre Kameraden, wo auch immer, die gleiche Pflicht erkennen.

Da§ gerade zur Erhaltung des Friedens, zur Ehaltung des Lebens auf dieser Erde Ÿberhaupt, Ursache zu aufwŸhlender Besorgnis besteht, da§ unsere Nachfolgegeneration hier die Fackel in die Hand nimmt und in die dreckigsten Ecken leuchtet, und da§ dieser Dreck so viele junge Menschen in die Verzweiflung treibt, spricht fŸr die hohe Verantwortungsbereitschaft dieser jungen Menschen. Sie sind wertvoller als wir Jasager von damals, viel wertvoller!

Aber aus einem verzagten Arsch kommt selten ein frischer Furz,- das sagte schon Luther, und in seinem Sinn m u § sich ganz einfach der junge und mittelalterliche Mensch, trotz fŸrchterlichster SchlŠge, zur Fršhlichkeit durchringen. Nur daraus schšpft die Seele ihre Kraft, die sie zum Kampf braucht.

Und ist diese Erde nicht schšn? Was hŠlt Musik und Literatur, und Malerei und Bildhauerei, Philosophie, Technik und Religion nicht alles fŸr uns bereit, -ganz profan ausgedrŸckt: selbst wenn man nur ein Všgelchen im KŠfig, oder sogar einen Hund sein Eigen nennt, hat man fršhlich zu sein. FŸr die junge Generation gilt doch, was uns als Belohnung 4 Jahrzehnte vorschwebte: das Berufsleben, das oft so gemeine geht mal zu Ende, und dann kommt ein unglaublich herrliches Alter, sprich Freiheit in Reinkultur.

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Solange das Kind, -Mittelpunkt der Familie,- noch brav im Bettchen steht und quasselt, ist die Seelennahrung fŸr die Eltern komplett. Aber ein kleines Wesen will raus, und sei es auf allen Vieren. Wenn man diesen menschlichen Drang oder Zwang fŸr Jahre ins Unterbewu§tsein abrutschen lŠ§t, jedoch bedacht ist, ihn abrufbereit zu halten, wird sowas wie ein Eckstein ins Fundament gebaut, das man ja, -sozusagen als Lebensinhalt,- fŸr den Nachwuchs schafft.

Was immer wir falsch gemacht haben mšgen, wir haben unsere drei Kinder nie fŸr uns eingespannt, sondern sie laufen lassen. NatŸrlich achteten wir darauf, da§ sie nicht mal gezwungen sein wŸrden, auf allen Vieren zurŸckzukommen.

Die Schuhchen, die ich Jochen gerade zuknšpfe, hat Hans schon als Kleinkind getragen, und wir beide fanden es wunderschšn, da§ Jochen seine ersten Schrittchen in Vatis Schuhen machte.

Wenn man mal eine Seite zurŸckblŠttert, dann sieht man, wie Jochen die Backen aufblŠst, um auf seinen zwei wackeligen Beinchen zu bleiben, und das mit neun Monaten! Es war wirklich eine Leistung und eine beachtliche Mutprobe. So ein kleiner Kerl wei§ ja ganz genau, da§ man mit Krabbeln schneller und viel gefahrloser vorwŠrtskommt, und doch entschlie§t sich so ein Wonneproppen zum Aufrechtgang.

Ich finde, diesen Augenblick im Leben kann man ruhig mit Fantasie und Philosophie ausfŸllen: Angekrochen kam Jochen eben nicht, er ging spŠter immer, und wenn es ihm noch so schwer fiel, aufrecht. NatŸrlich erreichen die Kriecher schneller ein Ziel, sie kommen von unten, hinten oder gar aus dem Hinterhalt, und sie bieten sehr viel weniger AngriffsflŠchen als ein aufrechter Mensch, der von vorn dem Ziel zustrebt. Der Kriecher hat sein Herz zwischen den Vorderpfoten, der aufrechte Mensch riskiert ungeschŸtzt den Frontalangriff auf's Herz.

Es wŠre nun aber falsch, an den Edelmut der Mitmenschen in dem Sinne zu appellieren: Sieh her, ich bin edel, ich komme aufrecht mit Herz, aber das hast du zu respektieren und jeglichen Agriff zu unterlassen. Es gŠbe dann den Mut zum Edelmut nicht mehr.

Man mu§ wissen, wenn man aufrecht vorwŠrts zu kommen versucht, da§ man dabei schwere Wunden davontragen wird. Das ist eben der Preis fŸr die Anwartschaft auf's Paradies, oder Paradeis, ganz wie's gefŠllt.

Ich war immer fuchsteufelswild, wenn mein Edelmut, mein aufrechter Gang dadurch sein Ende fand, da§ mir jemand ein Bein stellte, und dann robbte ich diesen Schurken an und bekŠmpfte ihn mit seinen eigenen Waffen, allermeistens mit Erfolg. HŠtte ich den Schuft frontal, und so herrlich aufrecht angegriffen, er wŠre mir Ÿberlegen gewesen, -da von Kindheit an darauf trainiert. Aber Mutterns Schlenker in diesem Sinn fehlen dem Jochen ganz, -klar, sowas gehšrte nicht in unser Erziehungsprogramm, schade.

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Jochens Geburtstag: Aus zwei StŸck wei§wollenen KniestrŸmpfen vom Papi, (sie gehšrten zum Anzug im Bayernlook) hat er einen schšnen, warmen Pullover bekommen, denn in Stettin-Pšlitz ist es bitterkalt im Winter, und im Mai schneit es sogar noch manchmal. Erst dann kommt ein kurzer, sehr hei§er Sommer. Also: an Jochens Geburtstag war es kalt, deshalb der Strumpf-Pulli. Die Sonne schien hell und klar. Beim Bild links oben sieht man Jochens Schatten. Er steht an der Wohnzimmertiir, die zum Garten fŸhrt und schaut- všllig verdutzt auf etwas, was er noch nie gesehen hat, und das wei§, rot und grŸn ist. Das ist doch kein Stuhl? Aber eine Lehne hat das Ding. Du lieber Gott, jetzt schaukelt es im Wind?

EIN SCHAUKELPFERD!

Es gehšrte von nun an zum Jochen wie sein Bettchen oder sein Kinderwagen, der sich inzwischen via Tausch zum Sportwagen entwickelt hatte. Au§erdem bekam Jochen eine Stoffpuppe, -den Peter. HŠ§licher ging nimmer, nur Peters Anzug war hŸbsch, sonst konnte man Angst vor ihm kriegen. Das kommt dabei eben raus, wenn Menschen auf anderem Weg als dem natŸrlichen, biologischen, des Menschen Ebenbild schaffen wollen.

Diese Gedanken hatte Jochen nicht, er liebte seinen Peter von Anfang an. So wie ein einsames Kind ein KŠtzchen oder einen Mini- oder Maxi-Hund ins Herz schlie§t, so zockelte Jochen von nun an immer mit Peter herum. Ging er abends zu Bett, dann wurde zuerst Pater zugedeckt, dann Jochen.

Ich kann Ÿberhaupt nicht beschreiben, wie glŸcklich uns das VerhŠltnis Peter-Jochen machte. Es zeigte uns, da§ in einem nur 24 Monate alten Menschlein eine gro§e LiebesfŠhigkeit steckt, gepaart mit hoher Verantwortung, wie auch mit der Bereitschaft auf Verzicht (eines Teiles der Bettdecke).

Mir kommt immer mal der ketzerische Gedanke, da§ nŠmlich Menschen, die einen Partner ja nicht als Kleinkind kennenlernen konnten, sich gegenseitig nie ganz erkennen kšnnen. Wir waren als zwei Elternteile ja selbst Ÿberrascht, wenn immer mal wieder schon beim Baby und Kleinkind Eigenschaften zum Vorschein kamen, die ganz klar als GerŸst des spŠteren Lebens angesehen werden konnten. Das VerhŠltnis Jochens zu seiner ersten Puppe lie§ recht gut erkennen, da§ Jochen mal ein idealer Ehemann und ein noch idealerer Vater werden kšnnte, sofern ... ja es mu§ nun doch mal raus: sofern seine Partnerin oder Ehefrau mit der gleichen Hochachtung seine Eigenarten erkennt und liebt und glŸcklich drŸber ist, wie wir Eltern es damals, und ungeschmŠlert alle Jahre danach bis heute waren und sind. Diese Liebeserfahrung des Elternhauses, beginnend beim Kleinkind, bringt der Erwachsene, wenn er heiratet, ja mit, und sei es im Unterbewusstsein, und er gibt sie weiter, abgewandelt natŸrlich, im Kern aber gleichbleibend. Mšge ein solcher Mensch niemals die Erfahrung machen, da§, wie Christa in ihrem Musical-Libretto 'Rausch' mal schrieb, Menschenblut gefrieren kann, um dann in anderer Form wieder aufzutauen, -in ungeahnter Form.

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Da bin ich beim Einkleben der Fotos doch durcheinandergekommen. Ich gehe also vom 7.4.43 zurŸck zum Sommer 42, als wir an der Ostsee, und zwar in Bauerhufen, vom 1.6. bis 24.6. Urlaub machten. Wir hatten in einem Bauernhaus den 'Altenteil' gemietet und genug Platz, um unser MŠdchen Erika mitzunehmen, -nicht zur Arbeit, sondern auch sie sollte Urlaub haben und tun und lassen, was ihr grad gefiel. Und was machte sie? Sie hamsterte, schleppte es herbei und begann, friedensmŠ§ig zu backen: eine Quarktorte mit sechs Eiern, ein Ei wŠre schon Luxus gewesen. Aber Erika, das PommernmŠdel, verstand sich auf Behandlung der Bauern, und sie sprach platt, wie diese. Es wurde ein regelrechter Fre§urlaub mit fast exaktem Stundenplan: morgens wurde bis mittags gehamstert, das vorbereitete Essen gewŠrmt, und dann ging es an den Strand.

Meine Urlaubskleidung, u.a. zwei reinseidene sportliche Kleider, die ich mir noch in Bari hatte nŠhen lassen, wechselten den Besitzer: von nun an ging die Tochter des Bauern Schreiber 'reinseiden', und wir trugen, was noch zu retten war. Auch Marions Hochzeitsgeschenk, ein sehr kostbares, reinseidenes Nachthemd, das aussah wie ein Abendkleid der Greta Garbo, landete bei Schreibers. Aber dafŸr waren unsere Koffer, Taschen und Netze zum †berquellen voll mit Lebensmitteln, die einen wahren Schatz bedeuteten und sehr lange reichten: Speckseiten, viele, viele Eier, die wir 'einlegten', um sie haltbar zu machen, WŸrste, ebenfalls haltbar, und Butter. So hatten wir uns unseren Urlaub nicht vorgestellt, ich glaube, wir hatten jeder etliche Kilo zugenommen, die wir auch behalten wŸrden. Wir kamen in Hochstimmung wieder nach Pšlitz. Und mit dem Bauern Schreiber sowie seiner Familie entspann sich ein netter Kontakt.

Bomben fielen auf Pšlitz, und eines Tages wurde das Jungen-Internat všllig zerstšrt, -zum GlŸck wŠhrend der Sommerferien. Die Bewohner wurden aufgefordert, sich dieser SchŸler anzunehmen und ihnen Wohnraum sowie Familienanschlu§ zu geben. Wir nahmen drei Freunde auf, die die Dach-Etage bewohnten und einrichten konnten, wie sie wollten. So hatten wir aufeinmal vier Kinder, -nette Jungen, von denen kein einziger den Krieg Ÿberlebte. Sie wurden im letzten Kriegsjahr im Alter von 17 Jahren eingezogen, kŠmpften an der russischen Front in Mecklenburg, fielen oder waren vermi§t. Wenn wir heute im Fernsehen 'den unvergessenen (wšrtlich hei§t es: unbekannten) Krieg' sehen, mŸssen wir immer an unsere Einquartierung denken und mit ihnen das Grauen in Verbindung bringen, das unserer heutigen Generation erspart bleibt.

Jochen spielte fast ausschlie§lich mit dem Nachbarkind. Der Sommer 1942 wurde so hei§, da§ beide Buben als Nackedeis herumliefen. Und da manchmal beide 'einen Bogen' machen mu§ten, zeigte sich u.a., wie verschieden sie waren. Jochen spŸlte jedesmal am Wasserhahn das Tršpfchen

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Als Hansi ein Jahr alt wurde, kehrten wir zurŸck nach Pšlitz. Es wurde zu schwierig, mit der FŠhre von Ÿirstenflagge nach Pšlitz Ÿberzusetzen. Die wunderschšne Zeit zusammen mit Familie Ravens, die vielen, schšnen Gartenmahlzeiten, die gemŸtlichen Abende im Park, wenn die Kinder schliefen, gingen zu Ende,

Jochen freute sich, denn von Anfang an lehnte er es ab, in einem Zimmer mit den Ravens-Kindern zu schlafen. Monatelang kam er Abend fŸr Abend herausgewatschelt und beklagte sich: "stinkt". Damit meinte er, irgendjemand hŠtte wiedermal gebrummt, und das fand er mehr als absto§end. Lachen durften wir damals nicht darŸber.

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Und dann kam das Jahr 1943. Unser Vormarsch in Ru§land blieb stecken, Amerika war in den Krieg eingetreten, England hatt e seine Luftwaffe aufgebaut, und diese gewaltige Walze griff Deutschland gemeinsam an, der eine im Osten, die anderen aus der Luft.

Im November 1943 wurde Hansi geboren, Erika wurde zum Arbeitsdienst einberufen, und wir bekamen ein russisches MŠdchen, die Dunja, -ein liebes Ding, aber sie hatte LŠuse. Hatten wir sie mit Erfolg bekŠmpft, diese LŠuse, dann besuchte Dunja an ihren freien Tagen ihre Freundinnen im Russenlager in Pšlitz, und prompt brachte sie wieder solch Ungeziefer nach Hause. Wir hatten nicht das Herz, sie wegzuschicken, und wir wollten ihr auch nicht die Besuche bei ihren Freundinnen verbieten. Immerhin hatten Deutsche diese MŠdchen einfach von der Stra§e weg auf Lastwagen verladen und zur Arbeit in deutschen Fabriken (oder Familien) abtransportiert, -eine Grausamkeit ohne gleichen! Und doch rettete diese Verschleppung fast allen MŠdchen das Leben, denn beim Vormarsch der Deutschen, beim RŸckmarsch und beim Vordringen der Russen blieb keine Stadt und kein Dorf unversehrt, und es gab hohe Verluste unter der russischen Zivilbevšlkerung. Dunja blieb also bei uns, auch als Hansi geboren wurde und schon mit acht Wochen LŠuse bekam. Dunja blieb ein Jahr, dann kam Erika, die ihren Arbeitsdienst absolviert hatte, wieder zu uns. Dunja wurde, nachdem sie bei uns Kochen gelernt hatte, in der Kantine des Russenlagers als KŸchenmŠdchen beschŠftigt, also ging es ihr nicht schlecht. LŠuse gab es dann nie mehr.

Die Fotos hier sind seitenvertauscht: Rechts mu§ nach links und umgekehrt. Wir konnten nicht mehr in Pšlitz bleiben, die Bombenangriffe wurden zu gefŠhrlich, besonders die Luftminen, und die Bunker waren nicht mehr sicher. So gingen wir, zusammen mit Frau Ravens, auf Quartiersuche, setzten per FŠhre Ÿber die Oder und klapperten die Gegend ab. "Irgendwo mu§ hier so 'ne Art Schlo§ sein," erinnerte sich Frau Ravens, "das wŠre doch genau richtig fŸr uns," grinste sie. Also weiter mit dem Fahrrad, und siehe da, in FŸrstenflagge kam ein herrliches Wasserschlš§chen hinter uralten BŠumen in Sicht. Frau Ravens hat enormes Verhandlungsgeschick. Es gelang ihr tatsŠchlich, bis zur Baronin von Troschke vorzudringen und auf den Putz zu hauen, von wegen Offizierstochter, die sie war, Bravour der Offiziere damals, KriegsgeflŸster Ÿber Hitler, und schon hatten wir fŸr uns und unsere Kinder die oberste Etage und unten im Keller eine KŸche. Unsere EhemŠnner besuchten uns regelmŠ§ig am Wochenende und freuten sich auf selbstgebackenes Brot, das Frau Ravens und ich abwechselnd unter Anleitung der Mamsell backen konnten. Wir hatten unsere eigenen Mšbel mitgebracht, und es war dort eine herrliche Zeit. Wir sammelten 'Schappeljungs' wie Jochen sagte, er meinte Champignons, und vom fŸrstlichen Tisch fielen immer Leckerbissen fŸr unsere fŸnf Kinder ab, die drei Ravens u.2 Grubers. Baronin von Troschke war ganz vernarrt in Hansi, einem stillen, immer lŠchelnden Kind, 'Musterkinder mag man', dachte Hansi-Baby u. erreichte alles.

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Im Februar 1945, unmittelbar von Papis Geburtstag, flohen wir, fast als Letzte, aus der HWP-Siedlung. Es war klirrend kalt. Hans blieb zurŸck. So gut es ging, hatte ich ihm fŸr etliche Wochen ein Mittagessen eingeweckt. Nur das Notwendigste konnte mitgenommen werden, ein Koffer, ein Rucksack und Jochens Dreirad. Nicht vergessen wurde das Nachttšpfchen fŸr Hansi. Er war zu klein, um irgendwo auf einer Anhaltestation das Clo zu benutzen. FŸr die 'Letzten', die die Siedlung verlie§en, gab es nochmal so etwas wie GlŸck: Ein Lastaut mit BenzinfŠssern, Ÿberdacht, fuhr von Pšlitz nach Leuna, um 'krieswichtiges Material' zu transportieren, und auf diesen FŠssern sa§e wir. Uns blieb also der wochenlange Marsch Ÿber vereiste Landstra§ erspart. Das war wohl auch der Grund, weshalb wir uns innerhalb weniger Stunden zum Verlassen unseres Hauses, -auf Nimmerwiedersehen- entschlossen.

Es begannen die sechs schrecklichsten Monate dieses Krieges, das FlŸchtlingsdasein im Anfangsstadium, als noch garnichts organisier war, um diese Millionen von Menschen, die aus dem Osten nach Mittel- und Westdeutschland flohen, zu versorgen. Auf die Lebensmittelkarten -die das Existenzminimum sowieso darstellten-, gab es fŸr 'Nichteintragene', d.h. fŸr Fremde, die keinen Stammladen hatten, kaum etwas zu kaufen. Es gab nur den Tausch. Das bi§chen Schmuck verwandelte sich in Brot, Kartoffeln, Syrup.

WŠhrend der ersten Tage lebten wir in Leuna bei den Schwiegereltern, -wir waren keineswegs willkommen und verlie§en das Haus nach sehr kurzer Zeit, um in einem Nachbardorf unterzukommen, dem Ort Herrengosserstedt. Clo auf dem Flur nie sauber, der Ofen war nicht heizbar, da der damals 16 Monate alte Hansi keine Luft bekam, weil er so sehr rauchte, -aber irgendwo mu§te man kochen. So mu§te halt ein kleines goldenes ArmbŠndchen heralten als Bezahlung fŸr den Ofensetzer. Wir waren am Ende, als Mitte April 45 amerikanische Truppen auch dieses Gebiet kampflos eroberten. Sie, nicht etwa die Deutschen, zwangen die Ladeninhaber, die FlŸchtlinge korrekt zu beliefern, und ihre Sprache, mit vorgehaltenem Maschinengewehr, war deutlich. Und siehe da, die Versorgung kam in Gang. Leider zogen die Amis weiter. Als wir das erfuhren, konnten wir uns ausmalen, wie sich die Bauern dieses Herrengosserstedt von da an uns FlŸchtlingen gegenŸber verhalten wŸrden, denn wir waren es ja gewesen, mit unseren Englischkenntnissen, die auf diese Mi§stŠnde hingewiesen hatten, allen voran, ich.

So schnappt ich mir einen Bauernwagen, der uns fŸr unser letztes SchmuckstŸck nach Apolda brachte, wo meine Patentante Emmy, eine Freundin meine Mutter, wohnte. Wir wurden in der Speisekammer, die natŸrlich sowieso leer war, zunŠchst untergebracht, bis die Einquartierung, die Tante Emmy hatte, anderswo etwas fand. Schon am zweiten Abend, nachdem Jochen und Hansi im Bettchen waren, fuhr ich per Fahrrad, das ich lieh, nach Erfurt, um eine Schulfreundin aufzusuchen, eine 'Einheimische'

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Apolda ist seit ewigen Zeiten bekannt fŸr Woll-Verarbeitung. Ich hatte mit Tante Emmys Hilfe -fast kšnnte man sagen-, haufenweise Wollreste organisiert, es waren hauchdŸnne FŠden, die ich zur StŠrke von lo StŸck mit Hilfe eines Wickelrades zu einem brauchbaren Faden zusammengewickelt hatte. Das war von nun an meine HauptbeschŠftigung, bei der Jochen fršhlich half. Ilse Schršpfer, verheiratet mit einem dicken Nazi, der irgendwo im Gefangenenlager war, Ÿbernahm von da an das TauschgeschŠft: ZunŠchst Wolle gegen Schuhe aus Gotha. Dort hatten Verwandte der Schršpfers eine kleine Schuhfabrik, und da gab's Hamsterware. Dann nahm ich die Schuhe und fuhr, wiederum wenn die Kinder schliefen, per Rad auf die umliegenden Dšrfer, um Lebensmittel einzutauschen, und es gelang mir, auch fŸr Tante Emmy zu sorgen. Es gab aber die Sperre, d.h. nach sieben Uhr abends durfte kein Deutscher mehr auf den Stra§en sein. Oft kam ich in diese Sperrzeit, aber nie bin ich auf Kontrollen gesto§en, und wenn, so hŠtten die amerikanischen Soldaten hšchstwahrscheinlich bei einem FlŸchtling ein Auge zugedrŸckt. Wir erlebten es sehr oft, da§ sie deutschen Kindern von ihrem Wei§brot abgaben, das unsere Kriegskinder zuvor nie gesehen hatten.

Furchtbar war, da§ Ÿberhaupt keine Nachricht von Papi kam, der inzwischen Soldat geworden war. Eines Tages fuhr an mir in Apolda ein knallrotes Fahrrad vorbei mit der Aufschrift HWP, -ein Rad vom Hy- drierwerk Pšlitz. Ich raste hinterher und hielt es fest, als hinge unser Leben davon ab. Es war ein Worksangehšriger, den wir kannten, einer, der mit Lohn- und Gehaltsgeldern vom HWP geflohen war und nun fŸr Werksangehšrige sorgte, die zu ihm kamen. Wir bekamen Hans' Gehalt von 4 Monaten nachbezahlt, au§erdem wurden wir eingegliedert in eine Art Rund-Nachrichtendienst. Alle Nachrichten, die von Pšlitz Ÿber FlŸchtlinge eingingen, wurden an Adressen weitergegeben, die in der Gehaltszentrale vorlagen. Ich radelte viel herum, aber ich erfuhr, da§ Hans zwar bei den Soldaten war, da§ er aber nicht zum Kampfeinsatz gekommen, sondern sogleich mit dieser Gruppe geflohen und in Gefangenschaft der EnglŠnder gekommen war. Das waren fŸr uns die humansten Sieger. Da Hans ja nie Parteimitglied gewesen war, au§erdem nur ganze sechs Wochen Soldat, war mit seiner schnellen Freilassung zu rechnen. Im einzigen Koffer, den ich von Pšlitz mitgeschleppt hatte, war ein Anzug fŸr Hans, aber weder WŠsche noch Schuhe. So ging ich daran, durch Woll-Schuh-Speck-Kartoffel-Ringtausch alles zu beschaffen, was Hans fehlte, und es klappte.

Der Sommer kam, die Amis zogen ab, um den Russen Mitteldeutschland zu Ÿberlassen. Die amerikanische HumanitŠt war wie vom Boden weggefegt, als die Russen kamen. Ein Ami hatte mir -und vielen anderen FlŸchtlingen- angeboten, per Treck mitzukommen, um nicht den Russen in die HŠnde zu fallen. Aber dann hŠtte mich Hans nicht gefunden. Wir hatten ausgemacht: Leuna oder Apolda. Hier fand uns Hans dann Ende August 1945. Es folgt nun sein Bericht!

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Betrachtungen Ÿber die berufliche TŠtigkeit
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Solange man ledig war, war die TŠtigkeit bei der Fa. Bamg-Meguin sehr interessant. Es mu§ten die Abmessungen der Apparaturen aufgrund der Mengen und Zusammensetzungen der Gase berechnet und ihre Kosten kalkuliert werden. Mit diesen Ergebnissen wurden dann die Verkaufsverhandlungen gefŸhrt, wobei man die Konkurrenz mit ihrem Gegenangebot beachten mu§te. Wurde dann der Auftrag, dessen Wert damals schon von Hunderttausenden in die Millionen Reichsmark ging, erteilt, so erfolgte die Anfertigung von Werkszeichnungen von etwa einem Dutzend eigener Konstrukteure, die Fertigung in den werkseigenen WerkstŠtten, dann die Montage und schlie§lich die Inbetriebsetzung. Da man durch diese vielseitige TŠtigkeit Kontakt mit den verschiedensten Menschentypen bekam (au§er Deutschen noch EnglŠnder, HollŠnder, Italiener, Japaner usw.) und zwar mit Technikern und Handwerkern, waren die Erkenntnisse Ÿber die mannigfaltigen menschlichen Eigenschaften Šu§erst aufschlu§reich. Man mu§te die nationalen und persšnlichen Eigenarten beim Umgang mit ihnen berŸcktsichtigen und sich dann entsprechend verhalten.

Daraus mu§ man schlie§en, da§ man bei einer solchen TŠtigkeit nicht als "Herrenmensch" auftreten kann, sondern es wird ein Mensch geformt, der fŸr die anderen ein helfender Mitmensch ist. NatŸrlich mu§ man dazu Veranlagung haben, jeder ist dafŸr nicht geboren. Diese "Schulung" im Umgang mit den Menschen wirkt sich dann auch bei der AusŸbung anderer TŠtigkeiten aus. Da man somit den Wert eines Mitarbeiters au§er hinsichtlich einer fachlichen FŠhigkeiten auch im Hinblick auf seine charakterlichen Eigenschaften erkannte, konnte man ihn entsprechend einsetzen und ihn unbewu§t fŸr ihn lenken.

Diese Arbeitsweise bewŠhrte sich besonders bei der TŠtigkeit als Werktatt-Leiter und stellvertretender Oberingenieur im sog. "Niederdruckteil" der Hydrierwerke Pšlitz. Es galt dort, mit Pommern, Mitteldeutschen, Hessen und schlie§lich auch "zwangsverpflichteten" Polen zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit zu kommen. Und das bei den sehr erschwerten VerhŠltnissen im 2. Weltkrieg mit Anforderungen, die teilweise Ÿber die Kraft eines einzelnen - bedingt durch KriegsernŠhrung oder durch Improvisation infolge fehlender Ersatzteile - gingen oder durch sich immer mehr steigender Bombenangriffe.

Eine gute Familie mit einer verstŠndnisvollen Ehefrau war dabei die grš§te Hilfe. Da man ja von der "Geburtsstunde" des Werkes dabei war und die schrittweise Inbetriebnahme der einzelnen Anlager miterlebt hatte, wuchs einem jeder selbst aufgebaute Anlageteil, ja jede in Betrieb genommene Anlage ans Herz, und als dann Bomben dieses wahllos zerstŠrten, konnte man vor Niedergeschlagenheit, ja auch vor Zorn und €rger mit dem Geschick hadern. Und das umso mehr, als gerade nach der Wiederherstellung alles Zerstšrten der Betrieb wieder aufgenommen werden sollte, war ein neuer Bombenangriff sofort wieder da (wie man nach dem Krieg erfuhr, durch Verrat eines im Werk beschŠftigten Nazibonzen).

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Wenn auch die mit der Technik allgemein BeschŠftigten sehr sachlich und kŸhl denken, so geht doch eine Zerstšrung, ja sogar eine beabsichtigte an die Substanz dieser sonst so sachlichen Menschen. Die kŸhle Denkungsweise (bedingt durch die bei allen Dingen stets zu beachtende GesetzmŠ§igkeit in der Mathematik, Physik usw.) bringt einen Menschen hervor, der nicht bedenkenlos etwas ImaginŠrem zujubelt. Das wurde besonders im 3. Reich sichtbar, als noch die Techniker Šu§erst skeptisch sich den neuen Ideen gegenŸber verhielten. Es gab kaum einen Techniker (wenige Ausnahmen wie Dipl. Ing. Todt) an fŸhrenden Positionen im NS-Regime. Das wurde ihnen ja auch sehr hŠufig vorgeworfen, da§ sie sich so wenig fŸr die "vaterlŠndische Sache" begeisterten. Sie erkannten jedoch die Wichtigkeit mancher berechtigten Forderungen, die Deutschland von auslŠndischen Lieferungen unabhŠngig machen sollten, und setzten sich dann fŸr die Verwirklichung solcher Forderungen durch die Entwicklung technischer und chemischer Verfahren ganz ein.

Die seit 1944 sich stŠndig hŠufenden Bombenangriffe verlangten eine Evakuierung der Zivilbevšlkerung aus der Werkssiedlung z. B. nach FŸrstenflagge, einem gro§en Rittergut (Besitzerin war die Fam. Freiherr von Troschke). Dorthin wurden auch die meisten Mšbel transportiert (ostwŠrts der Oder dem Russen entgegen!) Aber an ein Vordringen der Russen glaubte man damals nicht, auch wenn der Krieg verloren gehen sollte. Von dort (ca. 10 km von Pšlitz entfernt) erfolgten die wšchentlichen Besuche der Ehefrauen bei ihren im Gefahrenbereich arbeitenden MŠnnern. Als schlie§lich der Russe Anfang 1945 Ÿber Ostpreu§en auf die Oder zu vorrŸckte, wurden sŠmtliche Familien, nur mit dem Notwendigsten versehen, auf Lastwagen nach Mitteldeutschland gebracht, wo sie dann irgendwo - meist sehr ungern von den Einheimischen begrŸ§t - einquartiert werden mu§ten. Da Wochen nach Kriegsschlu§ noch keine Post funktionierte, war es jedem einzelnen Ÿberlassen, wie er seine Familie wiederfand. In besonderen FŠllen half dann spŠter das Rote Kreuz mit seinem "Suchdienst". Als der Russe Ende MŠrz/Anfang April 1945 vom Ostufer der Oder (ca. 3 km vom Werk entfernt) die Anlagen durch GeschŸtzfeuer zerstšrte, mu§te das Werk bzw. was davon noch Ÿbrig war, verlassen werden. Die jŸngeren bisher vom Kriegsdienst Freigestellten wurden nun als "Retter des Vaterlandes" in HeeresverbŠnde aufgenommen. Es gab aber fŸr sie keine komplette AusrŸstung mehr. Man lief in eigenen Zivilhosen ohne militŠrische Kopfbedeckung herum, gefŠhrlich, denn so sahen Partisanen aus, mit denen kurzer Proze§ gemacht wurde, wenn man sie erwischte. Da half auch das russische Beute-Gewehr ohne Munition nichts mehr!

Gott, das Geschick oder die "Vorsehung" (wie es Hitler stets nannte!) hat Hans davor bewahrt, erst Ÿberhaupt zum Kriegsdienst eingezogen zu werden, dann wŠhrend der Bombenangriffe zu Ÿberleben und schlie§lich den Russen zu entkommen. Er war beim Stab einer Grenadier-Division eingesetzt, und infolge deren Motorisierung wurde seine Gefangennahme durch die Amis in Schwerin erst mšglich, da der Russe immer "zu spŠt" kam. Auf dieser Flucht traf man mit einer Gruppe Polen zusammen, die als hervorragende Handwerker (gezwungenerma§en aus dem besetzten Polen dem Werk zugeteilt),

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in Hans Betrieb gearbeitet hatten. Man mu§te nun doch mit "Vergeltung" rechnen. aber das Gegenteil war der Fall! Sie baten instŠndig, sie doch mitzunehmen und sie so vor dem Russen zu retten.

Hans Kriegsteilnahme erstreckte sich also von den letzten MŠrz-Tagen bis zum 3.Mai 1945. Dann kam die Gefangenschaft bei den Amis und den Briten in Schleswig-Holstein, die bis Ende Juli 1945 dauerte. Als bekannt wurde, da§ die Gefangenen entlassen wŸrden, die als Bergleute gearbeitet hŠtten, war Hans dabei.

In diesem Falle nŸtzte ihm seine "NŸchternheit" jedoch gepaart mit Phantasie, um dem engl.PrŸf-Offizier klar zu machen, da§ er in der Kohle gearbeitet hŠtte! Das stimmte insofern, als man in Pšlitz schlesische Kohle zu …l hydrierte! Er wurde also entlassen und vom Briten per LKW selbst im DirektionsbŸro der Braunkohlengrube Louise bei Kšln abgegeben. Aber Arbeit konnte ihm dort nicht gegeben werden, da man noch auf ehemalige Belegschafter wartete, die noch Gefangene waren.

Er hatte aber erst einmal eine Unterkunft bei dem in der Grube Louise angestellten Onkel von Ruth (Bruder der Mutter Berta). Kilometerweite Fu§mŠrsche nach Knapsack, Frechen, BrŸhl usw. brachten endlich bei der Roddergrube Erfolg. Dort mu§te die Hauptwerkstatt-Leitung neu besetzt werden, die Hans sofort nahm. Nachdem eine Anstellung, ein leeres Zimmer mit 4 eisernen Luftschutzbetten ohne Matratzen!) vorhanden waren, mu§te als nŠchstes die Familie (Ruth, Joachim und Hans) in ThŸringen (russisch besetzt) gesucht werden. Nach zwei vergeblichen Versuchen Ÿber die "amerikanisch/russische" Grenze im eigenen Vaterland zu kommen, gelang es doch, und die Familie war nach mehreren Hinweisen auf ihren vermutlichen Aufenthaltsort wieder vereint. Die RŸckkehr Ÿber die "grŸne Grenze" mit den Kindern und GepŠck, soweit man es wagen konnte, war lebensgefŠhrlich, da der Russe auf jeden FlŸchtling schoss.

BewŠltigung der ...

Der Aufbau der Wohnung, die Verpflegungssorgen der nicht gern gesehenen FlŸchtlinge, die Kleidungs-Beschaffung usw. erfolgte stetig und benštigte 10 Jahre, bis man wieder in etwa den erforderlichen Lebensstandard erreicht hatte, den man ohne gro§e Sorgen haben zu mŸssen - brauchte.

Und kaum waren diese 10 Jahre herum, da wurde das Einfamilienhaus in BrŸhl gebaut. Damit waren wieder neue Lasten gekommen, die zur Abtragung wieder Jahre benštigten Zu diesem Zeitpunkt ging dann Hans in Pension!!

Hans konnte sich aufgrund seiner bisherigen praktischen Erfahrungen bald in eine neue Materie einarbeiten. Er mu§te nur organisieren, wie er die im leyzten Kriegsjahr noch zerstšrten Werkstatt-RŠume und schlie§lich die im Braunkohlentagebau eingesetzten, nun defekten GerŠte und Maschinen mit Material vom Schrotthaufen (es gab ja noch keine Fabriken, die Ersatzteile herstellten!) wieder funktions- und produktionsfŠhig machte.

Es bestŠtigte sich wieder wie schon 1936-1945 beschrieben - seine praktschen Erfahrungen im Umgang mit seinen "Untergebenen". Wenn sich diese seine nun nicht aus Mitteldeutschen, Hessen, Pommern, Italienern, HollŠndern,

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usw. rekrutierten, so fand er sich einer neuen, ihm noch nicht bekannten species von Mensch gegenŸber. Es waren Handwerker vom Rhein und der Eifel. Er brauchte anfangs sogar noch einen Dolmetscher, die Dialekt-sprechenden Leute zu verstehen! Da sie sahen, da§ ihr Vorgesetzter ein Mann war, der eine blau gefŠrbte MilitŠrjacke trug und franzšsische Arbeitsdiensthosen (alles vom Roten Kreuz als "Kleider-fŸr-FlŸchtlinge" erhalten!), so war er in ihren Augen auch ein "Habe-Nichts" wie sie, die teilweise auch Ausgebombten. Von da an war ein gutes ArbeitsverhŠltnis zwischen "Chef" und Mitarbeitern gegeben. Schwierigkeiten ergaben sich eher mit den Kollegen vom Bergbau, die Hans zu gern aus Position "gekippt" hŠtten. Sie wollten den VorgŠnger wiederhaben, der wegen seines starken Engagements mit dem Nationalsozialismus und seines arroganten Verhaltens als "Herrenmensch" keine FŸrsprecher fŸr die Einstellung bezw. Entlassung in ma§gebenden Kreisen fand. Diese Haltung konnte aber nach und nach abgebaut werden. Sie wurden mit den Tatsachen konfrontiert (trotz ihrer teilweise absichtlich Ÿberspitzten Ausssagen), und die Neutralen konnten hinsichtlich Reparatur-GŸte und Termin-Einhaltung zufrieden gestellt werden, und damit konnte die Produktion im Bergbau, in den Fabriken und den Kraftwerken voll aufgenommen und immer weiter gesteigert werden.

Ehe diese "Stabilisation" erfolgte, mu§te die Krisensituation vorrangig Ÿberwunden werden. Da die doch gedrŸckte Stimmung sich leider auch zu sehr bemerkbar machte, war es Ruth, die Hans wieder Mut machte und dazu wesentlich beitrug, da§ er nicht resignierte.

Die VielfŠltigkeit der Reparaturen erforderten bei der Grš§e des Bergwerk-Aufkommens auch eine entspr. Untergliederung des Werkstatt-Betriebes sowie eine ausreichende, qualifizierte Zahl von ca. 800 Handwerkern aller Sparten. Die anliegenden Arbeiten waren in ihrer Vielfalt so zahlreich, da§ man von "tŠglichem Einerlei" nicht sprechen konnte.

Es sei zu den Betrachtungen zur beruflichen TŠtigkeit abschlie§end gesagt: Man kann bei entsprechender WertschŠtzung seiner Mitarbeiter und Mitwirkung in einem Arbeitsteam gute Erfolge und selbst eine Zufriedenheit in seiner Arbeit finden. Man mu§ natŸrlich mit Vorgesetzten-Launen rechnen und dabei berŸcksichtigen, unter welchen UmstŠnden sie in die Positionen gekommen sind und welchen persšnlichen Preis sie dafŸr zahlen mu§ten.

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Fortsetzung folgt per 7.4.82

Dies war sozusagen nur das Skelett, eine Art Vorgeschichte bis 1945/46

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1956 (1955?): Jochen mit Dennis Johnson (dem Ehemann von Marion, Jochens Patentante) in London vor 10 Downing Street

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Unser Haus in BrŸhl, Kaiserstra§e 60

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1959

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1960, Pineda ? (in Katalonien, Spanien)

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1960, Pineda ? (in Katalonien, Spanien)

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1960, Pineda ? (in Katalonien, Spanien)

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Siegfried Eichhorn, Klaus Bach, Albert Lenz, Rom, MŠrz 1960

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Bari 1961 (?)

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Corps Starkenburgia, Giessen, FrŸhjahr 1960. Jochen: rechts auf oberster Reihe

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Christa mit Eltern Hans und Ruth auf der Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Ruth und Hans auf der Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Christa auf der Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

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oben: Ruth und Hans, unten: Christa und Ruth


Version: 17.5.2024
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Jochen Gruber