Der Einfluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler (Autoreferat)

Wolfgang Pauli

(Original)




Obwohl der Gegenstand der Vorlesung ein historischer ist, handelt es sich nicht um eine blosse AufzŠhlung wissenschaftshistorischer TatbestŠnde und auch nicht in erster Linie um die WŸrdigung eines grossen Naturforschers, sondern um die Illustration bestimmter Gesichtspunkte Ÿber das Entstehen und die Entwicklung naturwissenschaftlicher Begriffe und Theorien an Hand eines historischen Beispiels.


Im Gegensatz zur rein empiristischen Auffassung, wonach die Naturgesetze aus dem Erfahrungsmaterial allein praktisch mit Sicherheit entnommen werden kšnnen, ist von vielen Physikern neuerdings wieder die Rolle der Richtung der Aufmerksamkeit und der Intuition bei den im allgemeinen Ÿber die blosse Erfahrung weit hinausgehenden, zur Aufstellung eines Systems von Naturgesetzen, d.h. einer wissenschaftlichen Theorie nštigen Begriffe und Ideen, betont worden. Vom Standpunkt dieser nicht rein empiristischen Auffassung entsteht nun die Frage, welches denn die BrŸcke sei, die zwischen den Sinneswahrnehmungen auf der einen Seite und den Begriffen auf der anderen Seite eine Verbindung herstellte. Es scheint am meisten befriedigend, an dieser Stelle das Postulat einer unserer WillkŸr entzogenen Ordnung des Kosmos einzufŸhren, die von der Welt der Erscheinungen verschieden ist. Ob man vom ÇTeilhaben der Naturdinge an den IdeenÈ oder von einem ÇVerhalten der metaphysischen, d.h. an sich realen DingeÈ spricht, die Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Idee bleibt eine Folge der Tatsache, dass sowohl die Seele des Erkennenden als auch das in der Wahrnehmung Erkannte einer objektiv gedachten Ordnung unterworfen sind. Jede Teilerkenntnis dieser Ordnung in der Natur fŸhrt zu einer Formulierung von Aussagen, welche einerseits die Welt der PhŠnomene betreffen,  andererseits Ÿber diese hinausgehen, indem sie allgemeine logische Begriffe ÇidealisierendÈ verwenden. Der Vorgang des Verstehens der Natur sowie auch die BeglŸckung, die der Mensch beim Verstehen, d.h. beim Bewusstwerden einer neuen Erkenntnis empfindet, scheint demnach auf einem zur Deckung-Kommen von prŠexistenten inneren Bildern der menschlichen Psyche mit Šusseren Objekten und ihrem Verhalten zu beruhen. Diese Auffassung der Naturerkenntnis geht bekanntlich auf Plato zurŸck und wird auch von Kepler in sehr klarer Weise vertreten. Dieser spricht in der Tat von Ideen, die im Geist Gottes prŠexistent sind und die der Seele als dem Ebenbild Gottes miteinerschaffen wurden.


Diese Urbilder, welche die Seele mit Hilfe eines angeborenen Instinktes wahrnehmen kšnne, nennt Kepler archetypisch. Die †bereinstimmung mit den von Prof. Jung in die moderne Psychologie eingefŸhrten, als ÇInstinkte des VorstellensÈ funktionierenden ÇurtŸmlichen BildernÈ oder Archetypen ist eine sehr weitgehende. Indem die moderne Psychologie den Nachweis erbringt, dass jedes Verstehen ein langwieriger Prozess ist, der lange vor der rationalen Formulierbarkeit des Bewusstseinsinhaltes durch Prozesse im Unbewussten eingeleitet wird, hat sie die Aufmerksamkeit wieder auf die vorbewusste, archaische Stufe der Erkenntnis gelenkt. Auf dieser Stufe sind an Stelle von klaren Begriffen Bilder mit starkem emotionalen Gehalt vorhanden, die nicht gedacht, sondern gleichsam malend geschaut werden. Insofern diese Bilder ein ÇAusdruck fŸr einen geahnten, aber noch unbekannten SachverhaltÈ sind, kšnnen sie gemŠss der von Prof. Jung aufgestellten Definition des Symbols auch als symbolisch bezeichnet werden.


Als anordnende Operatoren und Bildner in dieser Welt der symbolischen Bilder funktionieren die Archetypen als die gesuchte BrŸcke zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Ideen und sind demnach eine notwendige Voraussetzung fŸr die Entstehung einer naturwissenschaftlichen Theorie. Jedoch muss  man sich davor hŸten, dieses apriori der Erkenntnis ins Bewusstsein zu verlegen und auf bestimmte rational formulierbare Ideen zu beziehen.


FŸr den Zweck der Illustration der Beziehung zwischen archetypischen Vorstellungen und naturwissenschaftlichen Theorien ist Johannes Kepler (1571 1630) besonders geeignet, da seine Ideen eine Zwischenstufe zwischen der frŸheren magisch-symbolischen und der modernen quantitativ-mathematischen Naturbeschreibung darstellen.

Seine wichtigsten Schriften (im Folgenden mit den beigefŸgten Nummern zitiert) sind:

1) Mysterium Cosmographicum, 1. Aufl. 1596,2. Aufl. 1621.

2) Ad Vittelionem Paralipomena, 1604.

3) De Stella nova in pede serpentarii, 1606.

4) De motibus stellae Martis, 1609.

5) Tertius interveniens, 1610.

6) Dioptrice, 1611.

7) Harmonices mundi (5 BŸcher), 1619.

8) Epitome astronomiae Copernicanae, 1618 1621.


Es wird kurz darauf hingewiesen, dass Keplers berŸhmte drei Gesetze der Planetenbewegung, auf die Newton bald darauf (1687) seine Theorie der Gravitation basierte,  nicht das waren, was Kepler ursprŸnglich gesucht hat. Er ist ein echter geistiger Nachkomme der PythagorŠer, der von der alten Idee der SphŠrenmusik fasziniert war und der Ÿberall harmonische Proportionen suchte, in denen fŸr ihn alle Schšnheit gelegen war. Zu den hšchsten Werten gehšrt fŸr ihn die Geometrie, deren SŠtze "von Ewigkeit her im Geiste Gottes sind". Sein Grundsatz ist "Geometria est archetypus pulchritudinis mundi" (die Geometrie ist das Urbild der Schšnheit der Welt).


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Nach einer kurzen biographischen Skizze wird die hierarchische Anordnung von Keplers archetypischen Vorstellungen ausfŸhrlich besprochen. An hšchster Stelle steht die unanschauliche trinitarische christliche Gottheit. Das schšnste Bild, welches Gottes eigene Seinsform darstellt, ist fŸr Kepler die dreidimensionale Kugel. Bereits in seinem Jugendwerk (1) sagt er:


"Das Abbild des dreieinigen Gottes ist in der Kugel, nŠmlich des Vaters im Zentrum, des Sohnes in der OberflŠche und des Heiligen Geistes im Gleichrnass der Bezogenheit zwischen Punkt und Zwischenraum (oder Umkreis)."


Hierdurch ist ein Zusammenhang der TrinitŠt mit der DreidimensionalitŠt des Raumes hergestellt. Die vom Mittelpunkt zur OberflŠche verlaufende Bewegung oder Emanation ein Bild, das bei ihm im engen Anschluss an die Neuplatoniker (besonders Plotin) immer wiederkehrt, ist ihm das Sinnbild der Schšpfung, wŠhrend die gekrŸmmte OberflŠche das ewige Sein Gottes darstellen soll.


Es liegt nahe, ersteres mit der Extraversion, letztere mit der Introversion in Verbindung zu bringen. Aus spŠteren Schriften Keplers wird nachgewiesen, dass Kepler nach den Ideen im gšttlichen Geist als das nŠchst niedrigere Abbild Gottes in der Kšrperwelt die Himmelskšrper mit der Sonne als Mittelpunkt betrachtet, die wiederum das sphŠrische Bild der TrinitŠt verwirklichen, wenn auch weniger vollkommen als dieses. Die Sonne im Zentrum als Quelle des Lichtes und der WŠrme und damit des Lebens ist ihm besonders geeignet, Gottvater darzustellen. Die Idee dieser Entsprechung ist bei Kepler als primŠr vorhanden anzunehmen. Weil er Sonne und Planeten mit diesem archetypischen Bild im Hintergrund anschaut, glaubt er mit religišser Leidenschaft an das heliozentrische System. Dieser heliozentrische Glaube veranlasst ihn sodann, nach den wahren Gesetzen der Proportion der Planetenbewegung als dem wahren Ausdruck der Schšnheit der Schšpfung zu suchen.


Im Hinblick auf den spŠter eršrterten Zusammenstoss Keplers mit Fludd als dem Vertreter der traditionellen Alchemie ist es von Wichtigkeit, dass Keplers Symbol, das mit dem von Prof. Jung als Mandala bezeichneten Typus die sphŠrische Form gemeinsam hat, keinerlei Hinweis auf eine Vierzahl oder QuaternitŠt enthŠlt. Vielleicht hŠngt dies mit dem Fehlen einer Zeitsymbolik in Keplers sphŠrischem Bild zusammen. Die geradlinige, vom Zentrum fort gerichtete Bewegung ist die einzige, die in Keplers Symbol enthalten ist; insofern diese von der KugeloberflŠche aufgefangen wird, kann man das Symbol als statisch bezeichnen. Da die TrinitŠt vor Kepler nie in dieser besonderen Weise bildlich dargestellt worden ist und Kepler am Beginn des naturwissenschaftlichen Zeitalters steht, liegt es nahe anzunehmen, dass Keplers Mandala eine Einstellung oder seelische Haltung versinnbildlicht, die an Bedeutung weit Ÿber Keplers Person hinausgehend, diejenige Naturwissenschaft hervorbringt, die wir heute die klassische nennen. Von einem inneren Zentrum aus scheint sich die Psyche im Sinne einer Extraversion nach aussen zu bewegen in die Kšrperwelt, in der nach Voranschauung alles Geschehen ein automatisches ist, so dass der Geist diese Kšrperwelt mit seinen Ideen gleichsam ruhend umspannt.


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Die nŠchste Stufe in Keplers hierarchischer Ordnung des Kosmos sind die Einzelseelen. Eine solche Einzelseele schreibt er nicht nur dem Menschen zu, sondern, in Anlehnung an die Lehre vom Archeus des Paracelsus, auch den Planeten. Da die Erde fŸr den Kopernikaner ihre Sonderstellung verloren hat, muss Kepler auch dieser eine Seele, die anima terrae, zuschreiben. Sie soll sich auch als formgestaltendes Vermšgen (facultas formatrix) im Erinnern Šussern und ist fŸr die meteorischen Erscheinungen verantwortlich gedacht. FŸr Kepler ist die Einzelseele, als Abbild Gottes, teils ein Punkt, teils ein Kreis: anima est punctum qualitativum. Welche Funktionen der Seele dem zentralen Punkt und welche andere dem peripheren Kreis zugeschrieben werden, wird an Zitaten (7) erlŠutert. Mit diesem Bild der Seele als Punkt und auch als Kreis hŠngen Keplers besondere Ansichten Ÿber Astrologie zusammen (vgl. besonders 5). Die BegrŸndung der Astrologie liegt fŸr Kepler in der FŠhigkeit der Einzelseele, mit Hilfe des ÇinstinctusÈ auf gewisse harmonische Proportionen, die speziellen rationalen Einteilungen des Kreises entsprechen, zu reagieren. Analog zur Empfindung des Wohlklanges in der Musik soll die Seele eine spezifische ReaktionsfŠhigkeit haben fŸr die Proportionen der Winkel, welche die von den Sternen, insbesondere den Planeten, auf die Erde eintreffenden Lichtstrahlen miteinander bilden. Kepler will also die Astrologie auf optische Resonanzeffekte im Sinne der naturwissenschaftlichen KausalitŠt zurŸckfŸhren. Diese Resonanz wiederum beruht nach ihm darauf, dass die Seele um die harmonischen Proportionen weiss, weil sie durch die Kreisform ein Ebenbild Gottes ist. Nicht die Gestirne sind nach Kepler die Ursache der astrologischen Wirkungen, sondern die Einzelseelen mit ihrem auf gewisse Proportionen spezifisch selektiven Reaktionsvermšgen. Indem dieses einerseits die EinflŸsse der Kšrperwelt auffŠngt, andererseits auf einer Abbildung Gottes beruht, werden diese Einzelseelen, die anima terrae und die anima hominis, bei Kepler zu wesentlichen TrŠgem der Weltharmonie (harmonia mundi).


Keplers Anschauungen Ÿber die Weltharmonie haben den Widerspruch des angesehenen Arztes und Rosenkreuzers Robert Fludd in Oxford erregt, der als Vertreter der traditionellen hermetischen (alchemistischen) Philosophie gegen Keplers ÇHarmonia mundiÈ eine heftige Polemik publizierte1. Die geistige ÇGegenweltÈ, mit der Kepler hier zusarnmenstiess, ist eine archaischmagische Naturbeschreibung, gipfelnd in einem Wandlungsmysterium. Fludd 2 geht aus von zwei polaren Grundprinzipien, dem von oben kommenden lichten Prinzip der Form und dem von unten aufsteigenden dunklen Prinzip der Materie. GemŠss der exakten Symmetrie von oben und unten ist die Welt das Spiegelbild des unsichtbaren, trinitarischen Gottes, der sich in ihr offenbart.



1 Die hier in Betracht kommenden Schriften Fludds Discursus analyticus und replicatio, die Fludd auf Keplers Apologia folgen liess, waren dem Autor leider nicht im Original zugŠnglich. Doch hat der Herausgeber von Keplers gesammelten Werken dessen Apologia mit mehreren Zitaten von Fludd als Anhang ergŠnzt.


2 Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica atque Technica Historia, 1. Ausgabe Oppenheim, 1621



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Zwischen diesen polaren GegensŠtzen findet ein bestŠndiger Kampf statt: von unten aus der Erde wŠchst wie ein Baum die materielle Pyramide empor, wobei die Materie nach oben feiner wird; zugleich wŠchst von oben nach unten mit der Spitze auf der Erde die formale Pyramide genau spiegelbildlich zur materiellen. In der Mitte, der SphŠre der Sonne, wo diese polaren Prinzipien sich gerade die Waage halten, wird im Mysterium der chymischen Hochzeit das infans solaris erzeugt, das zugleich die aus dem Stoff befreite Weltseele darstellt. In Anlehnung an die alten pythagorŠischen Ideen ergeben bei Fludd die Proportionen der Teile dieser Pyramiden die Weltmusik, wobei folgende einfache musikalische Intervalle die Hauptrolle spielen:

Disdiapason = Doppeloktav, Proportio quadrupla 4 :1

Diapason = Oktav, dupla 2 :1

Diapente = Quint, sesquialtera 3 :2

Diatessaron = Quart, sesquitertia 4:3


Es wird dies durch mehrere Figuren illustriert.


Offenbar hat Fludd Kepler so heftig angegriffen, weil er fŸhlte, dass Kepler trotz des gemeinsamen Ausgangspunktes Šhnlicher archetypischer Vorstellungen das Kind eines Geistes war, der eine ernste Bedrohung fŸr Fludds archaische Mysterienwelt darstellte. WŠhrend fŸr Kepler der objektiven Wissenschaft das angehšrt, was quantitativ mathematisch bewiesen ist, hat fŸr Fludd nur das eine objektive Bedeutung, was direkt mit den alchemistischen oder rosenkreuzerischen Mysterien zusammenhŠngt. Deshalb verwirft er die durch Keplers ÇDiagrammataÈ dargestellten QuantitŠten als Çschmutzige SubstanzÈ und anerkennt nur seine hyroglyphischen Figuren (<<picturaeÈ, ÇaenigmataÈ) als wahren symbolischen Ausdruck der Çinneren NaturÈ der Weltharmonie. Er wirft Kepler auch vor, dieser habe die Weltharmonie zu stark ins Subjekt verlegt, somit aus der Kšrperwelt herausgenommen, statt sie in der im Stoff schlafenden anima mundi zu belassen. DemgegenŸber vertritt Kepler klar den modernen Standpunkt, dass die Seele des erkennenden Menschen in der Natur sei.


Allgemein hat man den Eindruck, dass Fludd stets im Unrecht ist, wo er sich auf eine astronomische oder physikalische Diskussion einlŠsst. Dennoch scheint die Polemik zwischen Fludd und Kepler auch fŸr den Modernen von Bedeutung zu sein. Einen wichtigen Fingerzeig enthŠlt nŠmlich Fludds gegen Kepler erhobener Vorwurf "du zwingst mich, die WŸrde des Quaternariums zu verteidigen (cogis me ad defendam dignitatem quaternarii)." Dieses ist fŸr den Modernen ein Symbol fŸr eine VollstŠndigkeit des Erlebens, die innerhalb der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht mšglich ist, und die der archaische Standpunkt, der auch die Emotionen und gefŸhlsmŠssigen Wertungen der Seele mit seinen symbolischen Bildern auszudrŸcken versucht, vor dem wissenschaftlichen Standpunkt voraus hat.


Zum Schluss wird versucht, diese im 17. Jahrhundert aufgetretene Problematik mit dem heute allgemein vorhandenen Wunsch nach einer gršsseren Einheitlichkeit unseres Weltbildes in Verbindung zu bringen.


Die zum religišsen Wandlungserlebnis fŸhrende RŸckwirkung der Erkenntnis auf den Erkennenden,  fŸr welche ausser der Alchemie auch die heliozentrische Idee lehrreiche Beispiele gibt, reicht jedoch Ÿber die Naturwissenschaften hinaus und lŠsst sich nur erfassen durch Symbole,


Eben weil unserer Zeit die Mšglichkeit einer solchen Symbolik fremd geworden ist, dŸrfte es von besonderem Interesse sein, auf eine andere Zeit zurŸckzugreifen,


Danksagung

Dieses Autoreferat eines Vortrags von Wolfgang Pauli ist im Jahresbericht 1947/48 des Psychologischen Clubs ZŸrich (S.3744) erschienen, dessen Vorstand die Genehmigung zum Nachdruck erteilte.



Mehr:
Gebhard Greiter: Archetypen (Urbilder) und SynchronizitŠt (im Cache)


Version: 1.4.2023

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