Interview mit einem Stern

Eine Betrachtung

Wer mag wohl der Autor aein?


Hörspiel (1951)

Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4.




Interview mit einem Stern,Ê1951 im NWDR erstausgestrahlt und parallel im Claassen Verlag Hamburg als Buch herausgegeben (eine wunderschšne Ausgabe Ÿbrigens, versehen mit vielen zeitgeistsatten Zeichnungen von Gerhard C. Schulz), ist die Dokumentation einer Weltumrundung mit dem Flugzeug. Und ein Seelenbericht. Eine TextcollageÉ Wie soll manÕs benennen? Noch einmal Alfred Andersch: ãOb der Funk schon begriffen hat, was ihm an jenem Abend im NWDR widerfahren ist? Er hatte eine Reportage bestellt und bekam eine Dichtung.ÒÊ


Schnabels Idee zu diesem, ja, Feature ging zurŸck auf eine Erfahrung aus seiner Zeit auf See, die ihn ungebrochen umtrieb: Er hatte auf seinen Schiffsreisen, wie man so schšn sagt, die ganze Welt gesehen Ð nur eben nicht als ein Ganzes, nicht an einem StŸck. Die unzŠhligen Bilder, die er mit den Jahren sammelte und die, sollte man meinen, zusammengesetzt doch ein ungemein rundes Weltbild ergeben mŸssten, bewirkten aus Schnabels Sicht vielmehr ein GefŸhl von Weltzersplitterung. Nun aber, da der technische und logistische Stand der Dinge eine Reise um die Welt in deutlich weniger als 80 Tagen mšglich machten, reizte es Schnabel, eine solche Flugreise zu unternehmen, um die Welt doch einmal als ein Ganzes erfahren und begreifen zu kšnnen.
Der Marathon nštiger Vorbereitungen zu jener Reise gestaltete sich freilich aufwŠndiger und langwieriger als am Ende die Reise selbstÉ
Bedenken Sie, wir befinden uns im Jahr 1951. Nicht etwa der Terminplan, sondern die Meteorologie bestimmt in dieser Zeit die FlugverlŠufe, und so sitzt unser Weltenbummler, nach Anreise aus Hamburg mit Zwischenstopp in Berlin, zunŠchst einmal in einem MŸnchener Hotel fest, weil seine Maschine wegen des Wetters noch nicht ins Abenteuer aufbrechen kann. (Anhand solcher Schilderungen begreift man, wie tief der internationale Passagierflugverkehr hier in den Kinderschuhen steckt.)

Dort sa§ er mit gesenktem Kopf. GrŸn vor €rger wegen des Nebels. Wei§ vor Erschšpfung, denn er hatte zweieinhalb Monate lang mit verschiedenen Konsulaten verhandelt. Die Brust durchbohrt von vielen Injektionen, denn man hatte ihn gegen neunundneunzig Krankheiten geimpft, einschlie§lich der Pest, von der er eigentlich angenommen hatte, sie sei nur eine Erfindung franzšsischer Schriftsteller. Kurz: Er sa§ im Bett und lie§ den Kopf hŠngen. Aber dann raffte er sich auf (É) und notierte: ãNoch immer in MŸnchen. Der Start wurde auf morgen verschoben. (É) Aber ich habe das Flugzeug schon gesehen. Eine gro§e viermotorige Constellation. Sie stand silbern im Schnee und Nebel, von allen Scheinwerfern des Flugplatzes angestrahlt, und ihre FlŸgel warfen gro§e schwarze Schatten in die Nacht. Am Bug steht ihr Name: Clipper GOLDENES VLIES; darŸber, den ganzen Rumpf entlang: PAN AMERICAN AIRWAYS. (É) Das ganze Ungeheuer ist dreimal so hoch wie ein Elefant und lŠnger als ein Walfisch, es ist schwerer als fŸnfzig Autos und so stark wie ein Zehntausendtonnendampfer Ð und stand dennoch im schwebenden Nebel: grazišs, makellos und geheimnisvoll wie ein Einhorn.Ò

Auch das zeichnet die Pionierzeit jenes Verkehrssektors aus: Man begegnet dem Flugzeug mit einer gehšrigen Portion Romantik (die man sich in der Epoche der Billigflieger natŸrlich lŠngst abgewšhnt hat).
Es ist nicht allein meine SchwŠche fŸr Antiquiertes, die mir das Hšrspiel (wie auch das Buch) auf Anhieb sympathisch machte. Als Dokument seiner Zeit konserviert Schnabels Interview mit einem Stern, unserem Stern, eine Ansicht dieser Welt, die heute so vollkommen verschwunden ist Ð die ja schon verschwunden war, wŠhrend ich noch auf dem falschen Orientteppich unterm Stubentisch lag und in Magazinen blŠtterte, in Zeitschriften voller Namen wie Kohl, Gorbatschow, Mitterrand, Honnecker, Reagan.

Von welcher Welt ist hier eigentlich immer die Rede?
ÉMittwoch, 17.05. Uhr Ð Anschlu§ nach Kairo, Mekka und Bagdad. An Kalkutta: Donnerstag, 20.15Uhr. Ð Anschlu§ nach Colombo und Mandalay. An Honkong: Freitag, 11.10Uhr. Ð Anschlu§ nach Manila, Sidney und Hawai. An Tokio: Sonntag, 5.00Uhr. Ð Anschlu§ nachÉ
Das ist die WeltÉ Nein, es ist nur der Fahrplan in der linken Rocktasche unseres Reisenden.

Von welcher Welt reden wir also?
Es ist Ð ja, genau: 1951. Der Zweite Weltkrieg steckt dieser Welt noch spŸrbar in den Knochen. Das Berlin, welches von Schnabel Ÿberflogen wird, sieht mit seinen noch immer zahllosen Ruinen von oben aus wie GestrŸpp aus Stein und Schrott, und es ist voll und ganz MilitŠrzone. An so vielen Orten sichtet der Reisende Zeichen von Krieg: Zwei Tage spŠter zieht unter dem Clipper der PAN AM ein Gebiet dahin, das Indochina hei§t, und dort kŠmpfen franzšsische Truppen und FremdenlegionŠre gegen Viet Minh, seit fŸnf Jahren schon, und es wird noch ein paar Jahre so weitergehen, und danach wird der Indochinakrieg Vietnamkrieg hei§en und erst in etwa 24 Jahren nach diesem Flug des Clippers allmŠhlich enden, und was sich daran anschlie§en wird, ist die Zeit der Roten KhmerÉ Am sechsten Tag: Tokio. Noch so eine Hauptstadt, die Schnabel als Nachkriegsschauplatz erlebt:

In den Parks wurde der Schutt zusammengefahren. Die Lšcher in den Stra§en sind nur notdŸrftig wieder aufgefŸllt.

Im Nachbarland Korea hat erst im vorigen Jahr ein internationaler Krieg begonnen.

Ich hatte eine Blutplasma-Spende deutscher Angestellter der PAN AMERICAN AIRWAYS fŸr die Truppen der Vereinten Nationen mitgebracht und rief das Hauptquartier an. General MacArthur war nicht in der Stadt, und ich Ÿbergab die beiden BehŠlter am Abend einem amerikanischen Piloten. Ich habe vom Koreakrieg in Tokio nichts gespŸrt. (É) Aber wie ich den Telefonhšrer in der Hand hatte und zuhšrte, wie ich von einer Stelle zur anderen verbunden wurde im Hauptquartier und das Gesumm hšrte, halb ElektrizitŠt, halb Stimmen im Hintergrund, da war es, als horchte ich in einem gro§en, prŠzisen, schnurrenden Roboter hinein.

Auch das ist Krieg: eine schnurrende MaschinerieÉ
Es ist 1951. San Franzisko schreibt der Reisende noch selbstverstŠndlich mit k.
Oft verschrŠnkt Schnabel den Blick aus dem Flugzeugfenster mit den Schlagzeilen der (jeweils beim letzten Stopp eingeholten) regionalen Zeitungen, die von der Stewardess gereicht werden Ð soweit er diese lesen kann. Er erzŠhlt von GesprŠchen mit Reisebegleitern und Einheimischen.
Mal stellt er Unterschiede zwischen Flug- und Schiffsreise heraus. Andermals findet er die eigentŸmliche AtmosphŠre, die an Bord eines Schiffes herrscht, an Bord des Flugzeugs sehr genau wieder:

Ich bin im Morgengrauen im Cockpit gewesen. Es war, wie alle meine Morgenwachen auf See gewesen sind: Ein halbes Licht in der Kanzel. Vor dem gro§en, halbrunden Bugfenster der bleigraue Himmel, darin die Silhouetten der beiden Piloten, die Kšpfe, die Schultern, die HŠnde auf den RŠdern der SteuerknŸppel. An der Wand eine MŸtze, die sich sacht hin und her bewegt. Alles andere dunkel. Ein blauer Lichtkegel Ÿber dem Tisch des Funkers. Eine zweite Lichtinsel auf dem Tisch des Ingenieurs. Und Ÿberall im Finstern das vibrierende Phosphorlicht der Kontrollršhren und Skalen ohne Zahl. Und die selbe Ÿberwache Vor-dem-Morgen-Stille wie auf den Schiffen. Jeder hat einen eigenen Punkt, auf den er starrt, und alle fŸrchten in sich, da§ einer etwas sagen kšnnte. NatŸrlich sagt dann einer etwas.

Die Zeiten von vibrierendem Phosphorlicht im Cockpit sind heutzutage ebenso lange vergangen, wie es viele der Landesnamen und die meisten der Zahlen sind, mit denen Schnabel hantiert, beispielsweise zur Grš§enordnung von StŠdten. Oder zum Stand der Weltbevšlkerung:

(É) wenn man uns alle auf einem Feld versammelte, alle zwei Milliarden, die es gibt Ð ein Feld von fŸnfundzwanzig Kilometern im Quadrat wŠre gro§ genug fŸr uns, und das Flugzeug hŠtte uns in vier Minuten Ÿberquert!

1951. Diese Welt verbindet noch unmittelbar etwas mit dem Wort Weltkrieg, aber noch lange, lange nichts mit dem Begriff Globalisierung. Die erste Weltumrundung per Flugzeug liegt gar nicht so undenkbar weit zurŸck; sie wurde 1924 von amerikanischen Piloten durchgefŸhrt, die dafŸr 157 Tage benštigten. Der erste weltumrundende Nonstopflug wurde 1949 Ð vor zwei Jahren erst Ð von einem US-Piloten absolviert und dauerte knapp vier Tage.
Die verschiedenen Clipper der PAN AMERICAN AIRWAYS, mit denen Schnabel unterwegs ist, fŸhren ihn in neun Tagen um die Welt, inklusive Zwischenaufenthalten. Nicht einfach, die diversen notwendigen behšrdlichen Papiere fŸr eine Weltumrundung als Flugpassagier zu beschaffen. Zumal als BŸrger der Bundesrepublik Deutschland: Der Weltkrieg ist kaum sechs Jahre her, die diplomatischen VerhŠltnisse gestalten sich im Allgemeinen kompliziert, und noch komplizierter steht es um den Status der jungen Bundesrepublik Ð erst im Juli werden die Westalliierten die formelle Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland beschlie§en, und das Besatzungsstatut wird noch solange bestehen bleiben, bis die Pariser VertrŠge 1955 die Westintegration der BRD fixieren und ihre TeilsouverŠnitŠt herstellen werden, was 1951 alles noch einigerma§en in den Sternen steht.
An den Sputnik ist noch nicht zu denken. Und die ersten Fotoaufnahmen, die unseren Stern aus dem All zeigen und ihn uns als ein Ganzes erkennen und begreifen lassen Ð blau und wolkenmarmoriert, inmitten von ŸberwŠltigendem Schwarz ÐÊ wird erst die Raumfahrtmission Apollo 8 liefern. In siebzehn Jahren.

Himmel.

†ber den Wolken ist es still. Hier herrscht eine Ruhe, die vor den Fliegern nur die Gestirne kannten. StŸrme, Kriege, FabriklŠrm, gro§e Feste Ð die Welt von 1951 trŠgt ihren LŠrm nicht heran an die Clipper, die entlang der Tropopause, in 5000, 6000 Metern Hšhe fliegen. Aber ihr Licht schon. Und diese winzigen Punkte auf der OberflŠche, die Menschen sind, verraten durch all die Lichter, die sie nachts entzŸnden, wieviel Unruhe unterhalb jener stillen Zone herrscht, bei den Menschen, in den Menschen.

Ich sah die Lichter aufflammen und ausgehen, in Athen, wieÕs Abend wurde, in Damaskus, am Euphrat, in den verlorenen Dšrfern von Bengalen und die unheimliche Glut von New York um Mitternacht. Ich wei§ keinen guten Rat fŸr uns. Wir verbreiten viel Unruhe. Aber manchmal ist es, als mache sie den kleinen, ausgeglŸhten Stern, auf dem wir wohnen, wieder leuchten.

Schnabel macht spŠter selbst den Pilotenschein. Wird Hobby-Flieger und betŠtigt sich bei Gelegenheit auch fŸrs Fernsehen als Pilot. 1955 veršffentlicht er Die Erde hat viele Namen (ein Titel, mit dem Schnabel einen recht direkten Anschluss zum Interview mit einem Stern herstellt, das mit ebendiesem Satz endet), eine Sammlung von Texten Ÿbers Fliegen.
Vermisst man aber, so hoch droben, nicht vielleicht doch frŸher oder spŠter einmal die BerŸhrung mit der Unruhezone? Als Seemann war Schnabel freilich nŠher dran am Brausen der HafenstŠdte, am Brausen der StŸrmeÉ



†ber lange Zeit war Schnabel von der Idee bewegt, einen Roman zu schreiben, worin es um einen Tropensturm von September 1861 gehen sollte Ð einen richtigen, einen ambitionierten Roman; womšglich einen von der Sorte, die man so im Sinn hat, wenn man sich ausgiebig mit Joseph Conrad beschŠftigt. Nebenher, im Privaten, verfasste er allerhand Material, das einmal Roman werden sollte. Sieben Opfer jenes Hurrikans, die an Land gespŸlt und dort nebeneinander liegend aufgefunden werden, sollen zur Geschichte ihres Ertrinkens ãbefragtÒ werden, ihr ãErzŠhlenÒ soll zugleich den Verlauf des Unwetters rekonstruieren; Schnabel schrieb da gewisserma§en an seinem ãInterview mit einem SturmÒ.
Sie wird wohl ungebrochen gewesen sein, die Sehnsucht nach dem Rauschen, ach was: dem Rausch des Meeres. Und vielleicht war sie vor allem dies: eine Sehnsucht nach dem gro§en Sturm.
Was von diesem Romanprojekt blieb, ist ein Textkšrper, der unter dem TitelÊHurricane, oder Die Nachrichten aus der GesellschaftÊirgendwo, irgendwann in den 70ern gedruckt wurde. (Mir liegt er in einer kleinen dtv-Ausgabe von 1984 vor, die mitÊAuf der Hšhe der Messingstadt noch einen weiteren Prosa-Anlauf Schnabels beinhaltet.)

Es ist schnell gesagt, was in dieser Stunde mit dem Meer geschah: es wurde aufgerollt. Die blendend wellende Seidenbahn, die seine OberflŠche Ÿberspannt, wurde zerfetzt und von fauchenden Bšen nach Norden getrieben, und drunter kam das blo§e Meer zum Vorschein, wie es ist, wenn keiner es sieht.Ê (É) man konnte kaum atmen. Es gab jetzt keine Luft mehr, nur Gischt, der zog. Ich hatte das noch nie gesehen. Der Gischt zog, wie Schnee, wenn Sturm ist, ziehen kann, oder wie ein wei§es Feld. Wir lagen alle acht im Boot. Ich wei§ nicht, wer noch lebte. Ich habe doch gesagt, dass es vollgeschlagen war. Der Harpunier lag neben mir. Ich hielt mich an ihm und an der Ducht fest. Da hat er noch gelebt. Wir brauchten jetzt kein Wunder. Es war eins, da§ das Boot nicht umgeschlagen war.

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Hurricane,Êdiese Sturmgeschichte, lšst sich zum Ende hin in sich selbst auf Ð nicht anders also, als auch StŸrme zu enden pflegen. Vielleicht reichte blo§ Schnabels Zeit nicht aus, um neben Rundfunk und Familie auch noch dieses Projekt zu pflegen. Vielleicht war das mit der Prosa aber auch einfach nicht sein Ding, kšnnte man meinen, und dieser Gedanke liegt umso nŠher, als es Schnabel fŸr geboten hielt, seine Prosabeschreibung eines Sturms zur See um den ausfŸhrlichen Erlebnisbericht eines Sturmfluges zu erweitern, den er 1965 unternommen hatte: Im Auftrag des NDR war Schnabel ãnach Karibien gereist, um an AufklŠrungsflŸgen der Hurricane Hunters der 53rd US Weather Reconnaissance Squadron teilzunehmen, die an der NordwestkŸste von Puerto Rico stationiertÒ waren. Sein Bericht erfolgte in Form von Briefen, die Schnabel im August und September Õ65 alle paar Tage verfasste. Er nimmt darin zu Anfang Bezug auf seinen begonnenen und doch verworfenen Roman, auf den Tropensturm von 1861, auch auf einen Jungen namens Hamilton, der 1772 in Briefen an seinen Vater beschrieb, wie er einen Hurricane auf der Insel St.Croix erlebt hatte. Und dann ist es soweit, und es kommt ein Wirbelsturm heran, den die AufklŠrungsflieger durchmessen wollen.

Als ich ins Hotel zurŸckkam, lag da eine Nachricht fŸr mich beim Portier: Die Hurricane-JŠger hatten angerufen, ich solle um drei in der Nacht auf dem Flugplatz sein. Um drei also. Jetzt.

Das wird ein anderer Flug, als das neun Tage wŠhrende, besinnlich-stille Gleiten Ÿberm Planeten, was Schnabel im Interview mit einem Stern beschrieb.

Der Colonel sitzt im linken Pilotensitz. Ich stehe halb hinter ihm, an der seitlichen Verglasung der Kanzel. Wir haben ausgemacht, da§ ich mich nicht anzuschnallen brauche Ð ich wŸrde sonst nichts sehen kšnnen -, aber wenn mir der Colonel ein Zeichen gibt, werde ich mich auf den Boden des Cockpits setzen, den RŸcken gegen den Batterien-Kasten stemmen, die FŸ§e gegen die Verstrebung des Armaturenbretts und gegen den Pilotensitz.

Man nŠhert sich dem Gebiet des Hurrikans:

Zwischen dem Schleier in der Hšhe und den Passatwolken unter uns steht jetzt eine blau-rosa Wolkenbank Ÿber der Kimm. Ein Blick auf die Sonne: sie sieht aus wie Ÿberfroren von ganz dŸnnem Eis, das man mit der Fingerspitze eindrŸcken kšnnte, und sie hat zwei riesenhafte Hšfe.

Gegen 7.30 Uhr erreicht die Maschine die Sturmspirale und begegnet augenblicklich der Sintflut. Massen von Wasser umflie§en das Flugzeug, dessen Rotoren nun zu Schiffsschrauben werden; die Sichtweite liegt bei Null. Gegen jeden der geschwungenen Arme des Wirbelsturms wŸtet die Maschine an wie gegen massive WŠnde.

Trotz des Gedonners von 20.000 PS ist das Krachen zu hšren.

Als der Colonel das vereinbarte Zeichen gibt, hat sich Schnabel schon selbst in der Schutzposition verkeilt. Das Tosen wird allumfassend, das Flugzeug ãrennt sich den Kopf einÒ, bis es gegen 7.45 Uhr in das Auge des Sturms eintritt.

Ein zitronengelbes Licht fetzt durchs Cockpit. Die Verglasungen fŠrben sich rosa Ð gelb Ð silbern Ð reiner Glanz. Der letzte Schlag trifft uns, und ich taumle gegen die Wand. Dann liegen wir still und wie ein Brett in der Luft. †ber uns Sonne. Vor uns eine Halle, ein ungeheurer Dom aus schwellenden MarmorwŠnden. (É) Es ist nicht ausdenkbar, dass sie uns mit dreihundert Stundenkilometern Geschwindigkeit umkreisen, guter GottÉ

Am Folgetag ordnet Schnabel seine wŠhrend des Fluges gekritzelten Notizen. Und stellt fest, was das grundlegende Problem ist, welches verhindert, dass sich das Erlebte und dessen dokumentarische Beschreibung in genauen Einklang bringen lie§en: Je intensiver es wird, desto weniger lŠsst sich das Geschehen, worin man selbst bis Ÿber beide Ohren steckt, Ÿberhaupt noch erfassen.

Wir merkten zu wenig von alldem. Wir merkten zuviel von uns selber.

Schnabel schlie§t seinen letzten Hurrikan-Brief und im selben Augenblick auch seinen alten Romanversuch mit einer Momentaufnahme vom RŸckflug aus dem Wirbelsturm. Und die enthŠlt einen Satz, den Schlusssatz, der alles Hadern erklŠrt und verteidigt, das nur je ein Mensch kannte, der etwas viel zu Gro§es erlebte und davon hŠtte erzŠhlen sollen.

Um diese Zeit sa§en wir schwei§Ÿberstršmt und mit vagen, ŸbernŠchtigen Gesichtern in der Kanzel des Flugzeugs und tranken Kaffee aus dem Thermostank. Wir hatten alle dasselbe halbe Grinsen im Gesicht, der Colonel vielleicht ausgenommen, der nicht mehr wei§, in wie vielen Hurricanes er schon gewesen ist, und seine Maschine die ganze Zeit Ÿber geflogen hatte, als sŠ§e er im FŸhrersitz einer Stra§enbahn. Wir anderen aber hatten dieses genierte LŠcheln. Es war eine verlegene Miene, die wir aufgesetzt hatten, und ein Fremder hŠtte uns vielleicht die Erschšpfung angesehen, das Staunen und das Nichtglaubenkšnnen, das nicht vorŸber war, im Gegenteil: jetzt fing es an. Vielleicht hŠtte er auch unsere Hilflosigkeit durchschaut, diese UnfŠhigkeit, jemals ganz genau sagen zu kšnnen, was wir mitangesehen hatten. Wir fŸhlten sie kommen. Es war die Niederlage. Wir wu§ten, da§ man uns fragen wŸrde und da§ wir es nie ganz wŸrden sagen kšnnen.


Version: 30.9.2023
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