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Heimat, ja bitte!

9.3.2006

Wie Integration gelingen kann: EIn Plädoyer für klare Regeln - und für eine gemeinsame Zukunft von Deutschen und Einwandern

von Necla Kelek


Die deutsche Gesellschaft hat mit dem Zuwanderungsgesetz - wenn auch spät - den Migranten ein Angebot zur Aufnahme in diese Gesellschaft gemacht. Seit Anfang des vorigen Jahres kann jeder Einwanderer bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen deutscher Staatsbürger werden. Aber wer Bürger dieses Landes werden will, sollte


Es gibt keinen Automatismus, Deutscher zu werden, das Angebot ist vielmehr an die Zustimmung zu der Grundordnung gebunden, die sich dieses Land selbst gegeben hat.


Man kann die Migranten in Orientierungskursen auf ihre Staatsbürgerschaft vorbereiten; aber die Bundesrepublik ist mehr als die Summe ihrer Gesetze, Verordnungen und Institutionen. Sie ist ein Stück von Europa und seiner Geschichte. Und Europa ist eine durch die Erfahrungen

zusammengewachsene Gemeinschaft. Mit einem islamischen Welt- und Menschenbild, das, über Jahrhunderte hinweg "versiegelt", wie Dan Diner es formuliert, von Generation zu Generation weitergereicht wird, hat diese nicht viel gemein - in den grundlegenden Prinzipien sind beide unvereinbar.


Viele der traditionell gläubigen Muslime gehen davon aus, dass die im Koran niedergelegten Offenbarungen des Propheten Gottes Wort sind, Gesetzeskraft haben und gegenüber den von Menschen gemachten Gesetzen eine "überlegene Wahrheit" darstellen. Viele glauben, sie könnten auch in Europa nach dem Gesetz des Islams, nach der Scharia, leben. Die Scharia aber kollidiert mit säkularen Rechtsnormen. Sie ist ein Vergeltungsrecht, das körperliche Schmerzen für ein Vergehen verlangt. Wer Ehebruch begeht, ein so genanntes Hadd-Vergehen, verletzt Gottes Recht. Mit den Schuldigen gibt es laut Sure 24, Vers 2, kein Mitleid, hundert Peitschenhiebe oder Steinigung als Vergeltung gibt der Koran vor. Die Tötung eines Menschen hingegen - auch Mord - gehört nicht zu den Kapitalverbrechen, sondern zu den Qisas-Vergehen, den Verbrechen mit der Möglichkeit der Wiedervergeltung: "Ihr Gläubigen! Bei Totschlag ist euch die Wiedervergeltung vorgeschrieben: ein Freier für einen Freien..." (Sure 2, Vers 178). Und so reißt die Blutrache bis heute ganze Familien in den Abgrund.


Ohne die Ächtung der Scharia und des Prinzips der Vergeltung sind alle Bemühungen um Integration der Muslime zum Scheitern verurteilt.


Durch eine falsche Integrationspolitik, die ihre Herkunftsidentität stärkte, fühlen sich selbst türkische Migranten, die schon Jahrzehnte hier leben und einen deutschen Pass haben, immer noch als Türken. Sie gehören nirgendwo richtig dazu - für das Land, aus dem sie kommen, sind sie die "Deutschländer", und zu dem Land, in dem sie leben, wollen sie nicht gehören. Diese ungeklärte Identität trägt zum Rückzug in die eigene Community, in die "Parallelgesellschaft" bei. Wer seinen Kindern nach 30 Jahren Aufenthalt in Deutschland immer noch die Türkei als die wahre Heimat verkauft, wer ihnen die Maxime en büyük türk, "Der Türke ist der Größte", vorlebt, der diskreditiert seinen eigenen Lebensweg als Irrtum.


Wer als Migrant gekommen ist, muss Deutschland als seine "wahre Heimat" annehmen.



Es ist völlig in Ordnung, dass Muslime, dass alle Menschen in einer freien Gesellschaft Glaubensfreiheit genießen sollten", schreibt der Muslim Salman Rushdie. "Es ist völlig in Ordnung, dass sie gegen Diskriminierung protestieren, wann und wo immer sie ihr ausgesetzt sind. Absolut nicht in Ordnung ist dagegen ihre Forderung, ihr Glaubenssystem müsse vor Kritik, Respektlosigkeit, Spott und auch Verunglimpfung geschützt werden." Diesen selbstbewussten Umgang mit den Errungenschaften der Aufklärung wünschte ich den Muslimen, aber auch ihren selbst ernannten Verteidigern, die auf Kritik reagieren, als würde damit ein Dschinn, ein böser Geist, losgelassen.




Jedes Kind muss vor Gewalt geschützt werden.


Gewalt, Rassismus, diskriminierendes Verhalten werden nicht geduldet - weder gegen Migranten noch von ihnen.


Die Schule ist generell als deutscher Sprach- und Kulturraum zu begreifen;


Jede Frau, jeder Mann muss das Recht haben, selbst zu entscheiden, ob sie oder er heiraten will, wann und wen.


Der organisierte Islam hat eine besondere Verantwortung für die Integration.

Auch an ihn sind Forderungen zu richten:


Ich plädiere für diese klaren Regeln, statt die Integrationspolitik weiterhin dem Zufall zu überlassen - wohl wissend, dass die politischen Vertreter der Migrantenorganisationen und ihre Freunde diese Vorschläge mit Entrüstung zur Kenntnis nehmen werden und sich gegen jeden "Generalverdacht" und gegen jede "Gängelung" der Muslime und Migranten wehren werden. Aber ich bin davon überzeugt, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, wenn wir die Söhne und Töchter der Migranten nicht verlieren wollen. Wir brauchen ihre Talente und Tatkraft für unsere gemeinsame Zukunft.


Sich an die Arbeit der Integration zu machen bedeutet nicht, seine Muttersprache zu vergessen, seine Identität zu verraten oder seinen Glauben aufzugeben. Bis heute berührt mich nichts so sehr wie meine türk halkmüzigi, türkische Volksmusik, ich esse immer noch nur zu gern meinen Döner und tanze leidenschaftlich gern tscherkessische Tänze - so wie ich Latte Macchiato, Grünkohl, Bach und Jazzrock schätzen gelernt habe. Kultur ist ein ständiger Lernprozess, eine sinnliche Erfahrung, die anderes hören, anderes sehen, anderes schmecken, anderes fühlen lässt - eine Erweiterung für alle.



Verräterisch sind Formeln wie "wir Türken" oder "wir Muslime", sie erheben immer noch das "Türkentum" und das "Muslim-Sein" zur kollektiven Identität.


An dem "Sprachenstreit" auf deutschen Schulhöfen wird deutlich, dass die Auseinandersetzung um die Integration erst jetzt begonnen hat.


Viele Söhne haben sich verloren, weil sie den Gesetzen der Väter folgen.


Niemand hat den "verlorenen Söhnen" beigebracht,


Sie bleiben Fremde in einem fremden Land, eingeschlossen in eine versiegelte Welt.


Der türkisch-muslimische Mann in Deutschland wird, wenn er sich dem Leben, der Liebe und der Freiheit aussetzt, seinem eigenen Empfinden nach zunächst "verlieren".

Er wird die Welt künftig mit seiner Frau und seinen Kindern teilen müssen.

Mit Widerspruch und Kritik wird er leben müssen, denn seine Auffassung wird nur noch eine Meinung unter mehreren Meinungen sein, kein Gesetz.

Er wird sie begründen müssen und nicht mehr mit Gewalt durchsetzen können.

Glauben werden ihm nur die, die keine Angst vor ihm haben, sondern ihm vertrauen.

Geliebt wird er nur werden, wenn er selbst lieben kann.


Und das heißt auch,


Es ist ein ganz anderes Leben, als der türkisch-muslimische Mann es kennt. Vielleicht ist es nicht das Paradies, aber es ist ein Leben, das auch ihn selbst reicher und freier machen wird.


Necla Kelek steht seit einigen Wochen im Mittelpunkt einer scharfen Debatte über Immigranten in Deutschland. Nachdem sie in ihrem Bestseller "Die fremde Braut" die Zwangsehe angeprangert hatte, kritisierten Migrationsforscher in einem offenen Brief (ZEIT Nr. 6/06) Keleks Methoden als "unwissenschaftlich" und deren öffentliche Wirkung als "besorgniserregend". In diesen Tagen erscheint nun das neue Buch der 1957 in Istanbul geborenen Soziologin.


Unter dem Titel "Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes" (Kiepenheuer & Witsch, Köln 224 S., 18,90 Euro) porträtiert Kelek türkisch-deutsche Väter, Söhne und Brüder. Wir drucken hier einen Auszug mit den Schlussfolgerungen der Autorin.


Quelle: Die Zeit, 9.3.2006