Kassensturz für den Weltklimavertrag - Der Budgetansatz

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)
Sondergutachten 2009

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Auszüge
von Joachim Gruber

Kapitel 5.2: Der Budgetansatz des WBGU
5.2.1 Der Grundgedanke

Ausgehend von der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass für die Begrenzung der Klimaerwärmung auf 2 Grad Celsius die insgesamt durch die Menschen in die Atmosphäre eingetragene Menge an CO2 limitiert werden muss (Kap. 2 und 3), schlägt der WBGU vor, eine verbindliche Obergrenze für die bis 2050 (bzw. bis zu einem anderen sinnvollen Zeitpunkt) insgesamt zu emittierende Menge an CO2 aus fossilen Quellen zu vereinbaren. Diese Begrenzung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, die 2 Grad Celsius-Leitplanke mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit einzuhalten. Damit stünde der Menschheit eine festgelegte Emissionsmenge zur Verfügung, über deren Aufteilung verhandelt werden kann. Dieses Globalbudget kann anhand einer weltweit gleichen Zuteilung pro Kopf in nationale Emissionsbudgets aufgegliedert werden (Kap. 5.2.2). Nach 2050 stünde nur noch ein kleines globales Restbudget zur Verfügung.

Aufgrund der sozioökonomischen Gegebenheiten kann die Nutzung des globalen Budgets jedoch zeitlich nicht völlig frei erfolgen, denn die 2 Grad Celsius-Leitplanke lässt sich nur einhalten, wenn realistische Dekarbonisierungsdynamiken zu Grunde gelegt werden (Kap. 3):

  1. erfordert der Umbau emissionsintensiver Infrastrukturen und Produktionsbedingungen sowie die Änderung von Konsummustern Zeit, so dass die globalen Emissionen nicht beliebig schnell sinken können.
  2. ist ein möglichst früher Einstieg in die globale Dekarbonisierung erforderlich, da dessen Verschiebung in die Zukunft Emissionsminderungen mit nach heutigem Wissensstand unerreichbar hoher Geschwindigkeit erfordern würde.
  3. muss am Ende des Budgetzeitraums, etwa im Jahr 2050, global eine weitgehend emissionsfreie Wirtschaftsweise erreicht sein, da der geophysikalische Spielraum in den darauf folgenden Jahrzehnten äußerst gering sein dürfte und die gerade noch verträgliche Anreicherung des Systems Erde mit CO2 für lange Zeit bestehen bleibt.

Der Budgetansatz muss also durch spezifische Regeln ausgestaltet werden. Dafür macht der WBGU folgende Vorschläge:

1. Globale Zwischenziele: Als wichtiger Meilenstein sollte festgelegt werden, dass der Scheitelpunkt der weltweiten CO2-Emissionskurve im Zeitraum 2015-2020 erreicht sein muss. Ein weiterer Meilenstein ist, dass bis 2050 eine weitgehende Dekarbonisierung erreicht sein muss.

2. Nationale Dekarbonisierungsfahrpläne und Zwischenziele: Alle Staaten müssten sich verpflichten, nationale Strategien zur Bewirtschaftung ihrer jeweiligen Budgets ("Dekarbonisierungsfahrpläne") zu entwickeln und vorzulegen. Diese Fahrpläne sollten sich insbesondere an realistischen Einschätzungen der nationalen Emissionsminderungspotenziale als Funktion der Zeit orientieren und durch eine unabhängige internationale Institution auf Plausibilität und Umsetzbarkeit überprüft werden. Damit würde die Gefahr eingegrenzt werden, dass einzelne Regierungen die notwendigen Handlungsschritte in die ferne Zukunft und damit auf zukünftige Generationen verschieben (Kap. 5.4). Die Stärkung nationaler Eigenverantwortung durch die ansonsten große Flexibilität bei der Wahl der Transformationspfade und die Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltgemeinschaft werden so miteinander verknüpft. Die Dekarbonisierungsfahrpläne sollten Zwischenziele für die nationalen Emissionen u.a. bis 2020 enthalten, da zeitnahes Handeln notwendig ist, um die Weichen für den Umbau systemrelevanter Infrastrukturen (z.B. Stromoder Verkehrsnetze) in Richtung Klimaverträglichkeit zu stellen (Kap. 5.3).

3. Interregionale Flexibilität: Der WBGU empfiehlt dringend die möglichst uneingeschränkte und effiziente weltweite Bewirtschaftung der nationalen Budgets im Rahmen eines globalen CO2- Emissionshandelssystems. Dies setzt voraus, dass die nationalen Budgets zu handelbaren Rechten erklärt werden. Der zwischenstaatliche Emissionshandel lässt bi- und multilaterale Transaktionen verschiedensten Charakters zu, ja ermutigt sie sogar. Der Handel ermöglicht zum Beispiel Industrieländern, die ihre CO2-Budgets nahezu aufgebraucht haben, Zertifikate zu kaufen; gleichzeitig schafft er Anreize für eigene Emissionsminderungen. Der Emissionshandel generiert bedeutende Kapitalflüsse in die Entwicklungsländer und setzt auch dort Anreize für Emissionsbegrenzungen, da "überschüssige" CO2-Budgets gehandelt und monetarisiert werden können.

5.2.2 Berechnung nationaler Emissionsbudgets

Für den vorgeschlagenen Budgetansatz wird das innerhalb eines festgelegten Zeitraums global verfügbare Gesamtbudget an fossilen CO2-Emissionen ermittelt, das die Einhaltung der 2 Grad Celsius-Leitplanke erlaubt. Diese Menge wird unter den einzelnen Staaten aufgeteilt, wobei sich die Allokation an gleichen kumulierten Pro-Kopf-Emissionen über einen festgelegen Zeitraum orientieren sollte.

Die explizite Bestimmung der Nationalbudgets ist dann außerordentlich einfach, weil der Ansatz nur vier - klimapolitische, d.h. verhandelbare - Parameter enthält:

  1. Neben dem Zeitraum für das Gesamtbudget mit Anfangs- und Endjahr muss
  2. die Wahrscheinlichkeit festgelegt werden, mit der die 2 Grad Celsius-Grenze gehalten werden soll und schließlich
  3. ein demografisches Referenzjahr für die zu Grunde gelegte Bevölkerungszahl.

Der WBGU schlägt vor, als generellen Endpunkt für den Budgetzeitraum das Jahr 2050 zu wählen, da bis dahin zweifellos der Großteil der erforderlichen Emissionsreduktionen erfolgt sein muss (Kap. 3).

Die anderen drei Parameter bestimmen die Höhe des Gesamtbudgets bzw. dessen relative Aufteilung. Somit handelt es sich um Größen von herausragender politischer Relevanz.

DIE EMPFEHLUNGEN IM EINZELNEN

Der WBGU-Budgetansatz soll der internationalen Klimaschutzpolitik mittel- und langfristig als Kompass und Orientierungsrahmen dienen. Der WBGU schlussfolgert aus seinen Analysen, dass sich die UNFCCC-Vertragsstaaten in Kopenhagen auf folgende Richtungsentscheidungen einigen müssten:

Dieses Maßnahmenbündel impliziert klare und langfristig ausgerichtete Weichenstellungen, Anreize und institutionelle Rahmenbedingungen für eine klimaverträgliche Weltwirtschaft. Der internationale Wettbewerb um die innovativsten Dekarbonisierungsstrategien könnte beginnen.

Der vom WBGU durchgeführte klimawissenschaftliche und klimapolitische "Kassensturz" zeigt, dass der Wettlauf gegen die Zeit gewonnen werden muss: Klimafreundliche Innovationen, Investitionen und Institutionen in Wirtschaft und Gesellschaft, auf nationaler und internationaler Ebene müssen beschleunigt vorangetrieben werden, um eine nicht mehr beherrschbare Erderwärmung noch abzuwenden. Der dafür notwendige Wandel der Weltgesellschaft muss sich vor allem durch die Entkopplung des ökonomischen Wachstums von der fossilen Energienutzung vollziehen - auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Diese anstehende Transformation der modernen globalisierten Industriegesellschaft ist eine historisch beispiellose Herausforderung - technologisch, ökonomisch und sozial. Nun ist couragiertes politisches Handeln gefordert - oder aber eine ehrliche Kapitulationserklärung angesichts der Größe der Klimaherausforderung und der für den Klimaschutz seit dem Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992 verlorenen Jahre.

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5.2.2 Berechnung nationaler Emissionsbudgets
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Die explizite Bestimmung der Nationalbudgets ist dann außerordentlich einfach, weil der Ansatz nur vier - klimapolitische, d.h. verhandelbare - Parameter enthält: Neben dem Zeitraum für das Gesamtbudget mit Anfangs- und Endjahr muss die Wahrscheinlichkeit festgelegt werden, mit der die 2 Grad Celsius-Grenze gehalten werden soll und schließlich ein demografisches Referenzjahr für die zu Grunde gelegte Bevölkerungszahl. Der WBGU schlägt vor, als generellen Endpunkt für den Budgetzeitraum das Jahr 2050 zu wählen, da bis dahin zweifellos der Großteil der erforderlichen Emissionsreduktionen erfolgt sein muss (Kap. 3).

Die anderen drei Parameter bestimmen die Höhe des Gesamtbudgets bzw. dessen relative Aufteilung. Somit handelt es sich um Größen von herausragender politischer Relevanz.

Das demografische Referenzjahr bestimmt über das für dieses Jahr geltende relative Bevölkerungsgewicht eines Landes den jeweiligen nationalen Anteil am globalen Budget. Je später das Referenzjahr gewählt wird, umso vorteilhafter ist die Zuteilung für Länder mit rasch wachsender Bevölkerung, denn ihr relatives demografisches Gewicht nimmt beständig zu. Anstelle der Bevölkerungszahl in einem einzigen Jahr könnte man auch die (mittlere) Bevölkerungsdynamik über einen größeren Zeitraum zu Grunde legen. Für ein festes Referenzjahr spricht, dass es in Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum als Anreiz für demographischen Wandel wirken könnte, damit einem ungebremsten Bevölkerungswachstum nach dem Referenzjahr die zugeteilten Budgets nur geringere Pro-Kopf-Emissionen erlauben würden.

5.3 Zwei politische Optionen für die Ausgestaltung des Budgetansatzes

Im Folgenden werden zwei mögliche Konkretisierungen des WBGU-Budgetansatzes dargestellt, sowie ein Vorschlag zur Ableitung von Meilensteinen im Sinne mittelfristiger Emissionsminderungsziele erläutert. Der WBGU legt das Ende des Budgetzeitraums (Kap. 5.2) in beiden Optionen auf das Jahr 2050, da unser heutiges Verständnis der relevanten Systemdynamiken eine möglichst rasche Überwindung des fossilen Zeitalters nahelegt. Das Vorsorgeprinzip und die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen verlangen ein Gesamtbudget, das die Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter 2 Grad Celsius mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit realisiert. Angesichts der erheblichen Risiken, die mit einer darüber hinausschießenden Erderwärmung verbunden sind (Kap. 2), sind die hier angesetzten Wahrscheinlichkeiten von 75% und 67% der Notwendigkeit geschuldet, einen Kompromiss zwischen wissenschaftlich Erforderlichem und politisch sowie ökonomisch Machbarem einzugehen.

5.3.1 Option I: "Historische Verantwortung"

Das Jahr 1990 lässt sich als Beginn des Budgetzeitraums rechtfertigen, um dem Verursacherprinzip und der historischen Verantwortung der Industrieländer Rechnung zu tragen, weil in diesem Jahr der erste IPCC-Bericht erschien. Spätestens zu diesem Zeitpunkt waren alle Staaten über das Klimaproblem sowie seine Ursachen und Wirkungen umfassend informiert.

Tabelle 5.3-1 listet exemplarisch nationale Emissionsbudgets auf, die sich bei einer gleichmäßigen Pro-Kopf-Aufteilung des globalen kumulativen CO2-Budgets zwischen 1990 und 2050 ergeben. Es wird eine 75%ige Wahrscheinlichkeit für das Halten der 2 Grad Celsius-Leitplanke gewählt; daraus errechnet sich mittels der einschlägigen klimawissenschaftlichen Betrachtungen ein Gesamtbudget von 1.100 Mrd. t CO2 aus fossilen Quellen (Kasten 5.3-1). Als demografisches Referenzjahr wird ebenfalls 1990 bestimmt.

Für jedes Land wird also ein Emissionsbudget abgeleitet, das im Gesamtzeitraum von sechs Jahrzehnten zur Verfügung steht. Zieht man von diesem Budget jeweils die bereits zwischen 1990 und 2009 erfolgten Emissionen ab, ergibt sich die Restmenge, die den Staaten bis 2050 tatsächlich noch zur Verfügung steht. Beispielsweise bekämen die USA, Deutschland und Russland in dieser Option negative Emissionsbudgets bis 2050 (Abb. 5.3-1), wären also bereits heute "kohlenstoffinsolvent". Japan hätte die CO2-Emissionsrechte, die ihm für den gesamten Zeitraum 1990-2050 zustünden, schon heute nahezu aufgebraucht. Das würde diese Staaten dazu zwingen, in erheblichem Maße Emissionsrechte von Ländern zu erwerben, die vermutlich auch künftig ihre zugewiesenen Budgets nicht voll ausschöpfen werden. Dieser Handel mit Zertifikaten würde zweifellos zu bedeutenden finanziellen Transfers von Nord nach Süd führen.

Diese Option entspricht dem Verursacherprinzip auch rückwirkend, da sie bereits getätigte Emissionen der Industrieländer berücksichtigt. Politisch erscheint sie aber schwer durchsetzbar, da sie die Handlungsspielräume der Industrieländer extrem einengen würde. Um die sich derzeit entwickelnde Dynamik in der globalen Klimapolitik nicht auszubremsen, empfiehlt der WBGU die im Folgenden dargestellte Option II, die von heute nach vorne blickt und sich damit an der Verantwortung aller Staaten für die zukünftigen Emissionen orientiert. Der historischen Verantwortung kann jedoch auch in diesem Szenario durch pauschale Kompensationsleistungen (etwa im Anpassungsbereich) der Industrie- an Schwellen- und Entwicklungsländer Rechnung getragen werden.

5.3.2 Option II: "Zukunftsverantwortung"

Mit Blick auf die derzeitigen Verhandlungsvorschläge ist vermutlich ein späterer Anfangszeitpunkt als 1990 sinnvoll. Der WBGU empfiehlt daher eine gleiche Pro-Kopf-Verteilung der zukünftig noch zulässigen CO2-Emissionen ab heute bzw. ab dem In- Kraft-Treten eines neuen Klimaschutzvertrags. Um größere politische Spielräume zu schaffen, muss in dieser Option bewusst ein größeres Klimarisiko veranschlagt werden, indem die Wahrscheinlichkeit für die Einhaltung der 2 Grad Celsius-Linie nur noch auf zwei Drittel (67%) festgesetzt wird.

Tabelle 5.3-2 zeigt exemplarisch resultierende nationale Emissionsbudgets, bei denen das unter dieser Voraussetzung global zulässige Budget von 750 Mrd. t CO2 aus fossilen Quellen zwischen 2010 und 2050 (Kasten 5.3-2) gleichmäßig auf die Weltbevölkerung verteilt wird.

Als demografisches Referenzjahr bietet sich in diesem Fall das Anfangsjahr 2010 an. Nach dieser Option würde jedem Menschen (bezogen auf die Weltbevölkerung in 2010) ein Budget von knapp 110 t an CO2-Emissionen für die kommenden 40 Jahre zur Verfügung gestellt, was durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Emissionen von etwa 2,7 t CO2 entspricht. Um jedoch anschlussfähig an die noch erlaubten globalen Emissionen nach 2050 zu sein, müssen die mittleren Pro-Kopf-Emissionen weltweit am Ende des Budgetzeitraums weit unter diesem Durchschnittswert liegen: Bis 2050 sollten die globalen CO2-Emissionen um rund zwei Drittel (gegenüber 1990) reduziert sein, was bei wachsender Weltbevölkerung zu jährlichen Pro-Kopf-Emissionen von etwa 1 t CO2 führen würde.

Abbildung 5.3-2 zeigt für ausgewählte Länder das mittlere Jahresbudget, das ihnen gemäß Option II zustünde, im Vergleich zu den Emissionen im Jahr 2005.

Alle Zahlen beziehen sich auf die fossilen CO2- Emissionen (also ohne Landnutzungsänderungen), doch könnten Entwaldung und andere Quellen langlebiger Treibhausgase ebenfalls in den Budgetansatz einbezogen werden. Gerade in Bezug auf Landnutzungsänderungen hält der WBGU jedoch eine separate Regelung für erfolgversprechender (Kap. 5.7). Grundsätzlich ist wichtig, dass sich aus den abgeleiteten nationalen Budgets eine Gesamtverantwortung der einzelnen Länder für den Klimaschutz ergibt - nicht alles muss oder kann dabei durch heimische Emissionsminderungen erreicht werden. Die vorgeschlagene faire Allokation von Rechten sollte nicht zuletzt als Grundlage für eine effektive und effiziente Teilung von Lasten aufgefasst werden. Diese kann auf vielfältige Weise gelingen: Neben den heimischen Emissionsminderungen dürfte der Zertifikatehandel eine entscheidende Rolle spielen, aber auch andere flexible Mechanismen internationaler Klimakooperation sowie Finanz- und Technologietransfers, die dazu beitragen, überall in der Welt klimaverträgliche Entwicklungen zu beschleunigen.

Die einzelnen Länder lassen sich grob nach der zeitlichen Reichweite ihres zugeteilten Budgets (ohne Emissionshandel) in drei Gruppen einteilen:

Für alle entsprechenden Berechnungen wurden für die "aktuellen Emissionsraten" jeweils Schätzwerte für das Jahr 2008 zugrunde gelegt


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