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FDCL und LN dokumentieren: Das deutsch/brasilianische Bombengeschäft, Berlin (West) 1980:

 

Das deutsch / brasilianische Bombengeschäft


Sondernummer der Lateinamerika Nachrichten in Kooperation mit dem FDCL, Berlin (West) 1980


Liebe Leserinnen und Leser

Viele von Ihnen werden 1975 durch die Presse von dem "Bombengeschäft" zwischen Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland erfahren haben: damals wurde ein Vertrag über die Lieferung von Atomkraftwerken des Konzerns Siemens/KWU an Brasilien unterzeichnet.

Nur wenige werden dagegen erfahren haben, daß der Widerstand der Bürgerinitiativen gegen Atomfabriken in Wyhl, Brokdorf, Kalkar, Gorleben und anderswo ein Echo in der lateinamerikanischen Oppositionsbewegung gefunden hat. Die Gruppen, die sich in Lateinamerika gegen den durch die Militärregierungen aufgezwungenen Import von Atomfabriken und Atomwaffen wehren, sehen in der Verbreitung der nuklearen Technologie einerseits die Gefahr der Umweltzerstörung und andererseits eine verschärfte Verarmung und Abhängigkeit der Völker der Dritten Welt. Am 31. März 1979 zogen 140000 über die Katastrophe von Harrisburg entsetzte Bürger mit dem Treck der Bürgerinitiative aus Lüchow-Dannenberg nach Hannover, um ihren Protest gegen die von der Landesregierung geplante Wiederaufbereitungsanlage und Atommülldeponie bei Gorleben auszudrücken. Zu diesem Anlaß erhielt Marianne Fritzen, die Vorsitzende der Bürgerinitiative, ein Grußtelegramm der nord- und südamerikanischen Indianervereinigung und eine Ansichtskarte aus Brasilien mit dem einfachen Text: "Gruß! Wir danken Euch, denn wir brauchen Euren Widerstand."

Gleichzeitig war Bundeskanzler Schmidt zusammen mit Presse- und Gewerkschaftvertretern in Brasilien, um die guten Beziehungen zum neuen Präsidenten General Figueiredo zu pflegen, was sicher auch dem Exportgeschäft des Elektromultis Siemens zugute gekommen ist. Dagegen ist uns nicht bekannt, daß sich Regierungs- oder Gewerkschaftsvertreter bisher mit einer Delegation der brasilianischen Opposition gegen das Atomprogramm getroffen hätten. Wir würden es sehr begrüßen, wenn eine Delegation der brasilianischen Anti-Atombewegung in der Volkshochschule Wyhler Wald und bei den Bürgerinitiativen gegen Zwischenlager für abgebrannte Brennstäbe von ihren Erfahrungen in Brasilien berichten könnte.

Als die Hausfrauen und Bauern in Wyhl begannen, sich unter dem Motto "Kein Kernkraftwerk in Wyhl und auch nicht anderswo!" gegen die weitere Industrialisierung ihrer Region zu wehren, haben sie zu begreifen gelernt, daß das "Bombengeschäft", das sich "Entwicklung" und "Modernisierung" nennt, den Fortschritt in die Unterentwicklung und die ökologische Katastrophe bedeutet.

Aus der Kritik am drohenden Atoomstaat, der mit den Atomwaffen und den Atomkraftwerken mitexportiert wird, haben die Bürgerinitiativen Perspektiven einer von gefährlichen Großtechnologien unabhängigen Entwicklung formuliert. Sie bestehen in einem Lebensstil, der nicht auf der Ausbeutung der Reichtümer, der Rohstoffe, Wälder, Kulturen und der Arbeit anderer Völker beruht. Die Forderung der Bürgerinitiativen nach der Förderung angepaßter Technologien und einer alternativen Energieversorgung kann sich daher mit dem Kampf der brasilianischen Ökologiebewegung um Selbstbestimmung ihres Entwicklungsweges verbinden.

Als in Almelo holländische, französische, belgische und deutsche Atomkraftgegner gemeinsam gegen die Urananreicherungsanlage, die auch Uran aus Südafrika für eine Wiederaufbereitungsanlage in Brasilien verarbeiten soll, demonstrierten, trugen einige das Schild: "Siemens verdient und das brasilianische Volk bezahlt...". Wenn die Bürgerinitiativen in den nächsten Monaten ihren gewaltfreien Widerstand auch gegenüber der energieverschwendenden Elektrizitätswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland durch Stromzahlungsboykott, Sitzstreiks vor öffentlichen Gebäuden u.a. fortsetzen, wird dies hoffentlich auch als Zeichen einer internationalen Solidarität der Ökologie- und Friedensbewegung verstanden.

Die gründliche Information und Analyse der vorliegenden Broschüre ist ein notwendiges Stück Gegenöffentlichkeit gegenüber der Behauptung, die sogenannten Entwicklungsländer bräuchten Atomkraftwerke, um sich von Hunger und Elend zu befreien, oder die Atombombe, um unabhängig zu werden. Wir hoffen, daß diese Broschüre die Zusammenarbeit zwischen Bürgerinitiativen und 3.Welt-Solidaritätsgruppen vertieft.

Eva Quistorp
(Vorstandsmitglied des BBU)

EINLEITUNG

In eigener und gemeinsamer Sache

Das deutsch-brasilianische Atomgeschäft vom 27. Juni 1975 schreibt seinen fünften Jahresgang. Offiziell heißt dieses Geschäft "Abkommen zwischen der Föderativen Republik Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie", doch wegen seiner unbestreitbaren Doppel(bödig)-deutigkeit haben sich die Kritiker auf ein weitaus unproblematischeres Kürzel geeinigt: "Bombengeschäft". Problematisch ist dagegen die herrschende Sprachregelung, die seit der kommerziellen Verwertung und Weiterverbreitung der ursprünglich für militärische Zwecke erforschten Atomenergie Platz gegriffen hat.

Heute heißt es, niemand dürfe den "Entwicklungsländern" den Zugang zur "friedlichen Nutzung der Kernenergie" verwehren.

Es wundert denn auch nicht, daß die westdeutsche Presse den offiziellen Schwur auf den "friedlichen Charakter" des Abkommens vom Juni 1975 in ihrer Berichterstattung stets reproduziert hat: "...verschiedentlich wurde sogar die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen beschworen, obwohl es sich eindeutig um ein Projekt zur friedlichen Nutzung der Kernenergie handelt ..." (Der Tagesspiegel, 28. Juni 1975).

Ein westdeutscher Medienkritiker, der das Verhalten der Presse seines Landes im Zusammenhang mit dem deutsch-brasilianischen Bombengeschäft beschrieb, hätte keine treffenderen Formulierungen finden können als die folgenden: "... die Presse gehört zur Regierung", denn "die Zeitung, die das Interesse einer mächtigen Minderheit täglich einem vielfältigen Publikum nahebringt, braucht die wirklichen Geschäfte nicht beim richtigen Namen zu nennen. Sie setzt dabei auf die Unübersichtlichkeit des zeitlich zu Nahen. Natürlich, auch dem Journalisten kann das Nun, worüber er berichtet, im blinden Fleck liegen. Auch ihm ist das nahe Aktuelle, in dem man selbst steckt, schwierig zu erkennen, das Ferne leichter. Man braucht den Abstand vom Geschehenen zu Urteil, Überblick und Orientierung. Heute wissen wir, und es ist kein Zweifel möglich: Als Indien seinerzeit die Atomtechnologie zur friedlichen Nutzung importierte, baute es umgehend die Bombe. Jetzt will Brasilien die Atomtechnologie zur friedlichen Nutzung importieren, aber der Journalist, der es zu berichten, zu werten und zu kommentieren hat, steht in der Bundesrepublik auf seiten der exportierenden Regierung. Ihm liegen schwer die 12 Milliarden für seine Industrie im gelben Fleck des dunklen Jetzt" (Hansheinrich Baumann, "Brasilienvertrag unbedenklich", L-76, Nr. 6, EVA 1976).

Im März 1978 stattete der damals amtierende brasilianische Präsident, General Geisel, der Bundesrepublik einen offiziellen Besuch ab. In einer Tischrede (die in die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eingehen sollte) lobte Bundeskanzler Schmidt die "Konvergenz der Ziele" und die "Übereinstimmung der Werte" der sozialliberalen Bundesregierung und der brasilianischen Militärdiktatur. Vor dem Kölner Gürzenich, in dem anläßlich des Geisel-Besuchs ein Staatsbankett der brasilianischen Regierung für "tausend Bestecke" gegeben wurde, prügelte die Polizei der demokratischen Bundesregierung deutsche Atomkritiker und brasilianische Opponenten der Militärdiktatur nieder; auf einem Polizeirevier wurden Festgenommene mit Fäkalien beschmiert. Brasilianische Presse-Beobachter, die diesem Schauspiel als Augenzeugen beiwohnten, erlebten gewöhnliche Szenen aus dem brasilianischen Alltag: in Köln. Was sie nicht kannten: Brokdorf, Kalkar, Grohnde.

Robert Jungk war durch die deutschen Lande gereist und hatte aus seinem soeben erschienenen "Atomstaat" gelesen, prophezeit, ermahnt. Es war schon soweit: Die Restauration des deutschen Autoritarismus marschierte mit großen Schritten. Schon wieder. Dieses Mal unter der Parole "Volk ohne Energie"...

Wir haben es erlebt: Der Brasilienvertrag hat auch etwas mit dem "Modell Deutschland" zu tun. Eine sozialliberale Bundesregierung setzte sich sogra über die Pressionen ihres wichtigsten Verbündeten, der Schutzmacht USA, hinweg. Leseproben aus dieser Zeit verdeutlichen die deutschen Absichten: "Der gegen internationale Widerstände durchgekämpfte Nuklearvertrag zwischen Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland sollte nicht nur als der größte Exportauftrag angesehen werden, den die deutsche Industrie in der Nachkriegszeit erhalten hat, sondern als eine willkommene Gelegenheit, deutsche Zulieferindustrien zur Ansiedlung in Brasilien zu bewegen. Der Vertrag hat die `besonderen Beziehungen` zwischen beiden Ländern eindrucksvoll unterstrichen. Er könnte deutsche Investoren zu weiterem Engagement in Brasilia veranlassen... Brasilien sollte sich etwas einfallen lassen, um diesem Strom von Kapital und Wissen, den `besonderen Beziehungen` entsprechend, besonders günstige Voraussetzungen anzubieten" (H.H. Görgen, "Grundsätzliche Erkenntnisse über das deutsch-brasilianische Verhältnis", Deutsch-Braslianische Hefte, Januar / Februar 1978).

Bombengeschäft heißt also nicht nur das "Geschäft mit der Bombe". Das ist zunächst die "brasilianische" Seite, das militärische Interesse, vor dessen Hintergrund die Militärregierung den Vertrag mit der Bundesrepublik unterschrieben hat.

Bombengeschäft heißt auch Internationalisierung des Kapitalismus der Bundesrepublik auf einer höheren Stufe. 250 westdeutsche Unternehmen investieren heute in Brasilien. Ihr Investitionsvolumen beläuft sich nach offiziellen Schätzungen auf 8 Milliarden DM. Nicht berücksichtigt sind dabei die großen Finanzierungs- und Kreditgeschäfte westdeutscher Banken, deren Hauptschuldner in Brasilien heute der staatlich gelenkte Energiesektor ist.

Das "Modell Deutschland" braucht den "Atomstaat", der das "Bombengeschäft" braucht. Weniger ein Wortspiel als kapitalistischer Sachzwang. Die Mitte der siebziger Jahre noch beschworene "weltweite Dominanz der Kernenergie" erwies sich wenig später als Wunschdenken. Weltweit ist die Auftragsentwicklung für die Atomindustrie der kapitalistischen Industrieländer rückgängig: Seit 1975 - seit dem Brasiliengeschäft - sind die Auftragsbücher von Siemens/KWU für diese Abteilung leer. Die Lage auf dem Binnenmarkt wurde durch gerichtlich verordneten Baustop für neue Atomkraftwerke und durch teilweise Stillegung bereits betriebener Kraftwerke verschärft. Die Elektrizitätsversorgungsunternehmen der Bundesrepublik mahnten, daß eine auf dem Binnenmarkt stark angezweifelte deutsche Technologie das Vertrauen ausländischer Interessenten verlieren müßte. Die Atomindustrie versuchte, Unsichere auf das "Kernenergie, ja bitte!" einzustimmen. Das tat sie mit einem Schachzug, der - last but not least - die angebliche Bedeutung des Atomexports für die Sicherung "deutscher Arbeitsplätze" in den Vordergrund rückte. Die Entwicklungsländer, so argumentierte KWU-Chef Klaus Barthelt am 9. November 1977 bei einem RWE-Workshop in Hahnenklee, "schauen bewundernd zur westdeutschen Technologie auf."

Auf diese Zusammenhänge konzentrieren sich die Beiträge des ersten Kapitels dieser Sondernummer: "Atomstaat - Modell für die Dritte Welt".

1978 debattierten Vertreter der führenden kapitalistischen Länder in der Trilateralen Kommission über die verkürzte Krisenperiode, die nach 1973 in eine zweite "Energiekrise" der siebziger Jahre führen würde. In einem Diskussionsbericht des Trilateralen Organs "Trialogue" (Nr.18/78) heißt es wörtlich: "Die Anhebung der Energiepreise auf das Niveau der Weltmarktpreise ... ist ...`der einzige Weg, um zu neuer Produktion anzureizen und das Wachstum der Energienachfrage zu mäßigen`." Und: "Verschiedene Teilnehmer unterstrichen die Notwendigkeit einer beschleunigten Entwicklung der Kernenergie in den Ländern der Trilaterale - einer Entwicklung, die nach den Worten eines französischen Mitglieds noch dringender ist, wenn wir Öl für die Entwicklungsländer sparen wollen, `die es mehr brauchen als wir`."

In diesem Sinne sprach auch der stellvertretende Parteivorsitzende und Bundeskanzler Helmut Schmidt auf dem jüngsten Parteitag der SPD im dezember 1979 in Berlin. Sinngemäß sagte er: Die Entwicklungsländer ermutigen uns geradezu zum Ausbau unserer Kernenergieprogramme, weil sie sagen, sie brauchen selbst das Öl. Selbst die atomenergiekritischen Entwicklungspolitiker der SPD mußten parieren. Schmidts "weltökonomische" Ermahnung zielte erneut auf den Binnenmarkt ab.

Der "zweite Ölschock", das heißt: das Nachziehen der Ölpreise an das allgemeine Preisniveau auf dem inflationierten Weltmarkt, wird in Ländern wie der Bundesrepublik zum Anlaß genommen, nun wirklich "Kernenergie jetzt!" zu fordern. Die arabischen Ölproduzenten werden dabei politisch ausgespielt. Es hat den Anschein, als ob sie der Atomindustrie in die Hände spielten: Doch so abgekartet ist das Spiel nicht: eine Verwertungskrise der Atomindustrie steht im Hintergrund. Die gleichzeitig stattfindende zunehmende Verknappung fossiler Brennstoffe bildet nur den Vordergrund.

Eine neue Hausse der Atomenergie in den zentralen kapitalistischen Ländern könnte bei gleichbleibenden politischen Strukturen in den maßgeblichen "Schwellenländern" auch dort wieder die lokale Fraktion der Atombefürworter stärken. Hier verläuft deshalb die gemeinsame Linie, die den ökologischen und antikapitalistischen Kampf in Ländern wie der Bundesrepublik mit der politischen und sozialen Bewegung in einem Land wie Brasilien verbindet.

Nachdem auch in der westdeutschen Alternativ-Presse Berichte über die "brasilianische Ökologie-bewegung" erschienen sind, werden vielleicht einige Leser fragen, ob auch die "brasilianische Atomgegner-Bewegung" Platz für eine Selbstdarstellung in dieser Sondernummer gefunden hat. Das ist nicht der Fall. Abgesehen von dem Aufsatz "Ökologie und Entwicklung" von José Zatz, einem ehemaligen Atomforscher und heute führenden Ökologen in São Paulo, findet die Geschichte der "Ökologie-Bewegung" in Brasilien in dieser Ausgabe kaum einen Niederschlag.

Es ist nicht so, daß die Ökologie-Frage in Brasilien keine Rolle spielt: Seit etwa vier Jahren entstehen regionale Umweltschutzorganisationen. Ihr Kampf richtet sich in der Regel gegen regionale Mißstände, wie etwa bei jener Bürgerinitiative, die in São Paulo gegen den Bau eines neuen Flughafens bei Caucaia kämpfte und damit Erfolg hatte. Der Flughafen, dem eine der letzten grösseren Waldreserven der Stadt geopfert werden sollte, wurde nicht gebaut.

In Rio Grande do Sul, dem südlichsten Bundesstaat Brasiliens, stieg ein Vertreter der europäischen Chemie-Industrie, der seine langjährige Teilnahme an der "Landschaftsvernichtung" bereute, aus seinem Manager-Dasein aus und gründete die wohl bedeutendste Umweltschgutzorganisation Südbrasiliens AGAPAM.

Im Bundesstaat Paraná konnte ein Zusammenschluß gutmeinender Mittelständler (darunter Universitätsprofessoren der Botanik) das Vordringen der Bulldozer in eins der landschaftlich schönsten Gebiete des Staates verhindern.

Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, die man im Zusammenhang mit der Entwicklung der Ökologie-Bewegung in Brasilien - einem Land mit 8,5 Millionen qkm - anführen könnte. Sie sind in ihrer Vielfalt nicht zu überschauen, auch nicht von denen, die dort sind.

Eine der wichtigsten Kampagnen der letzten Jahre war sicherlich die, die 1979 unter der Parole "A AMAZONIA É NOSSA" - "Amazonien gehört uns" - ausgerufen wurde. Doch handelte es sich dabei mehr um eine politische Kampagne gegen das Vordringen multinationaler Konzerne im Amazonas-Gebiet als um einen ökologischen Kampf der vor Ort Betroffenen. Die Kampagne wurde in Rio de Janeiro vorbereitet, und ihre Führer sind durchweg Angehörige der mittelständischen Intelligenz.

Ökologie-Bewegung und soziale Bewegung müssen im brasilianischen Fall in den richtigen Proportionen gesehen werden. Die zunehmende Zerstörung der Lebensqualität in den brasilianischen Großstädten und auf dem Lande, wo dem Kapitalismus kein Einhalt geboten wird, kann über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß nicht die äußere Lebensqualität (Luft, Wasser, Geräuschpegel etc.) im Vordergrund gewerkschaftlicher und politischer Forderungen steht, sondern ganz einfach die Frage nach "Brot und Freiheit". Doch auch hier, im Kampf der Gewerkschaften für bessere Löhne und Organisationsfreiheit und im Kampf der Slumbewohner gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung wird "ökologisches Bewußtsein" entwickelt. Die fortschrittlichsten der politischen Parteien, die jetzt neu gegründet werden, haben bereits ökologische Forderungen in ihre Programme aufgenommen. Die Diskussionen über das Für und Wider der Atomenergie haben an der Basis noch nicht Raum gewonnen. Noch fehlen die Erfahrungen mit dieser gefährlichen Technologie, und noch sind die brasilianischen Umweltschutzorganisationen zu jung, um ihre Geschichte jetzt schon zu schreiben.

Die Kritik am deutsch-brasilianischen Atomgeschäft konzentrierte sich in Brasilien zunächst auf die finanzielle Belastung für das Land. Gutachter aus dem staatlichen Konzern Eletrobrás sowie aus den Reihen des Wissenschaftlerverbandes SBPC und des Physikerverbandes SBF haben errechnet, daß das Bombengeschäft bei Preisen von 1978 Brasilien nicht weniger als 60 anstelle der veranschlagten 12 Milliarden DM kosten würde.

Seit mehr als anderthalb Jahren ermittelt ein Untersuchungsausschuß des Senats in Brasilia über die Hintergründe des Geschäfts. Der Ausschuß beschäftigte sich mit Problemen des Standortes der ersten Atomkraftwerke in Angra dos Reis, mit der Frage der Sicherung der Anla-
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zwischen KWU und Nuclebrás, in denen der westdeutschen Firma - trotz Minderheitsbeteiligung am Projekt -das Sagen überlassen bleibt. Das Atomgeschäft hat sich als eine Kartellabsprache von Siemens innerhalb des Internationalen Kartells der Elektroindustrie (IEA) erwiesen; was Siemens und KWU natürlich abstreiten. Doch dem brasilia-
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gen, der Beteiligung der brasilianischen Industrie an diesem Projekt, dem Wissenschafts-Transfer, der Ausbildung brasilianischer Wissenschaftler, der Kostenfrage und natürlich mit der Art und Weise, wie dieses Geschäft zustandekam. Geheimgehaltene Dokumente mußten nach langen Wartezeiten mit der Regierung in geheimen Sitzungen erörtert werden. Dabei handelte es sich um Geheimverträge
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nischen Ausschuß liegen inzwischen auch - im Gegensatz zum "Energieplan bis 1990", der die Grundlage für das deutsch-brasilianische Atomgeschäft war - zuverlässige Angaben über die tatsächlichen Energiereserven des Landes vor. Trotz steigenden Verbrauchs haben sich die Wasserkraftreserven mehr als verdoppelt. Wie das kommt? Ganz einfach: Bei der Erstellung des Energieplans hatten sich die Regierungsbeamten "geirrt".

Kurzum, der Untersuchungsausschuß, vor dem auch namhafte westdeutsche Atomforscher angehört wurden, hat eine breite Debatte über die deutsch-brasilianischen Vereinbarungen eingeleitet. Diese Debatte war jedoch nur vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Isolierung des Militärregimes möglich. Sie muß also vor allem im Zusammenhang mit der brasilianischen Wirtschaftskrise, der Auslandsverschuldung, der massenhaften sozialen und politischen Unzufriedenheit gesehen werden, die in den letzten beiden Jahren das Land mit einer nicht abbrechenden Streikwelle überzogen hat.

Der Abschnitt "Diktatur contra Grundbedürfnisse", der sozialpolitische Orientierungsrahmen der Brasilianischen Bischöfe und das Dokument der Gewerkschaftsoppositionen sind Ausschnitte aus dieser in Brasilien geführten Diskussion über das "Wirtschaftsmodell" und dessen Auswirkungen auf die soziale Lage der Bevölkerung.

Mit dem Aufsatz "Ökologie und Entwicklung" bezieht Professor José Zatz von der Universität São Paulo aus ökologischer Sicht Stellung zum "brasilianischen Entwicklungsmodell". Ein Zusammenhang zwischen den Forderungen der Gewerkschaften nach Demokratie des Entscheidungsprozesses und einem dezentralisierten Wachstummodell bei Zatz wird sichtbar. Die authentische Gewerkschaftsbewegung ergänzt dieses Modell mit der Forderung nach Autonomie der Arbeiterbewegung.

Die Ermittlungen des Senats-Untersuchungsausschusses über die Fragen der Sicherheit der Atomanlagen, ihrer Kosten sowie nach möglichen Alternativen im Energiebereich finden Niederschlag in den Kapiteln "Am Strand des faulen Steins" und "Die Kosten des Atomgeschäfts". Professor Rogério Cerqueira Leite, der Autor des Beitrages "Atomvertrag - ein zu hoher Preis", ist - wie die Mehrheit seiner Wissenschaftler-Kollegen und insbesondere der Atomforscher - kein prinzipieller Gegner der Atomenergie. Doch seine überzeugenden ökonomischen Argumente gegen den brasilianischen Atomplan sollten hier zur Diskussion stehen.

Das letzte Kapitel untre dem Titel "Unsere Siemens-Welt" beschäftigt sich mit dem Elektro-Imperialismus der Bundesrepublik in Brasilien, insbesondere mit der Rolle von Siemens innerhalb des Internationalen Elektro-Kartells (IEA). Die Praktiken dieser mächtigen Vereinigung multinationaler Konzerne hat der deutschstämmige brasilianische Unternehmer Kurt Rudolf Mirow - nicht zuletzt aus eigener Erfahrung - jüngst in Brasilien und Europa enthüllt. Der auch dem deutschen Leserpublikum bekannte Autor von "Die Diktatur der Kartelle" (ro ro ro aktuell 4187) unterstreicht in seinem Interview die Tatsache, daß das Atomgeschäft die deutsch-brasilianischen Beziehungen belastet hat.

Mit dieser Materialien-Auswahl knüpft die vorliegende Sondernummer der LATEINAMERIKA-NACHRICHTEN an den Stand von 1977 an, als die Brasilien-Koordinationsgruppe von Amnesty International, die Arbeitsgemeinschaft Katholischer Studenten- und Hochschulgemeinden (AGG) und der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) zum ersten Mal mit einer Dokumentation unter dem Titel "Das deutsch-brasilianische Atomgeschäft" an die Öffentlichkeit getreten sind. Für Interessierte, denen entweder die politische oder die ökonomische Vorgeschichte an dieser Stelle fehlt, oder diejenigen, die die Haltung der westdeutschen Bürgerinitiativen in dieser Ausgabe für "unterbelichtet" halten, wird daher auf die genannte Dokumentation hingewiesen.

Weiterführende Literatur zum deutsch-brasilianischen Atomgeschäft soll im Herbst in Form eines Buches des Verantwortlichen für diese Sondernummer erscheinen.

Berlin, im Januar 1980

I. ATOMSTAAT: *MODELL* FÃœR DIE DRITTE WELT?

"Langandauernde, vielversprechende Beziehungen"

Geschichte der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atomenergie

Unter Antleitung von Atomspezialisten und Kadern aus dem militärischen Bereich frischten Technokraten und Militärdiktatur - die 1964 nach einem Putsch die Macht übernommen hatte - jene Kontakte erneut auf, die unter dem Druck der USA, zwanzig Jahre zuvor, zumindest offiziell, abgebrochen waren.

Das vom Außenminister der Großen Koalition, Willy Brandt, unterzeichnete Uranabkommen und das Deutsch-Brasilianische Wissenschaftsabkommen von 1969 - auf deren Grundlage die Kernforschungsanlage in Jülich und die brasilianische Kernenergiekommission den Austausch von wissenschaftlichem Personal vorantrieben - waren lediglich das Ergebnis langjähriger Kontakte auf dem Gebiet der Atomenergie.

Die Geschichte der atomaren Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und Brasilien reicht bis in die Nachkriegsjahre.

Nach gescheiterten Verhandlungen mit amerikanischen Stellen im Anschluß an die erste Sitzung der Kommission für Atomenergie der UNO im Jahre 1946, die den Erwerb von ausgereifter Atomtechnologie durch Brasilien als Gegenleistung für den Export radioaktiven monasitischen Sands und sog. "seltener Erde" in die USA zum Inhalt gehabt hatten, knüpfte der damalige brasilianische Delegierte, der Diplom-Physiker Admiral Alvaro Alberto nach Rücksprache mit der Regierung unter Getulio Vargas, Kontakte zu deutschen Stellen. 1953 war der Admiral nach Europa gereist und hatte dort auch sehr schnell Unterstützung für seinen Plan gefunden. Vor einer parlamentarischen Untersuchungskommission von 1956 in Rio hatte der Admiral erklärt:

"Seitdem wir Verhandlungen (mit den Amerikanern) aufgenommen haben, wurde uns unmißverständlich nahegelegt, daß jede interessante Form der Kooperation auf diesem Gebiet, abgesehen von bereits ausrangiertem Material, schlicht unmöglich sei.

Dieses unüberwindbare Hindernis war das Resultat des nordamerikanischen Atomgesetzes. Wir konnten auf die Zurücknahme dieser besonderen Regeln nicht warten. Der einzige Weg, der noch offen schien, war der, die Arbeit aufzuteilen und die Aufgaben unter verschiedenen befreundeten Nationen zu verteilen."

Frankreich bot dem brasilianischen Admiral eine Uranaufbereitungsanlage an. In Rio wurde zwischen dem 1951 gegründeten brasilianischen Nationalen Forschungsrat und der Societé des Produits Chimiques des Terres Rares ein Vertrag unterschrieben. Die Aufbereitungsanlage sollte in Poço de Caldas, wo große Uranvorkommen vermutet werden, angesiedelt werden.

Damit war aber die technische Frage der Isotopen-Trennung noch nicht gelöst. Der Admiral reiste nach Deutschland, wo er seinerzeit studiert hatte. Zu seinem Vorteil kannte Admiral Alvaro Alberto den damaligen Rektor der Universität Hamburg, Paul Harteck, persönlich. Ihn hielt der Admiral für "einen der größten lebenden Physiker". Von ihm stammte schließlich auch die Idee, Zentrifugen für die Urananreicherung zu bauen. Hauptverfechter dieser Idee und späterer Rivale Hartecks war Professor Wilhelm Groth von der Universität Bonn, ein früherer Mitarbeiter Otto Hahns. Der Admiral suchte aber auch Professor Konrad Beyerle von der Max-Planck-Gesellschaft auf. Auch traf er sich mit dem schon fast mythischen Otto Hahn persönlich.

Die durch die Auflagen der Alliierten fast stillgelegte deutsche Atomforschung konnte nur unter erheblichen Schwierigkeiten fortgesetzt werden. Der Admiral erschien geradezu als "Retter" - Professor Groth soll zu ihm gesagt haben: "Besorgen Sie das Geld und wir bauen die Prototypen. Später gehen wir nach Brasilien und bauen dort die Ausrüstung."

Einige deutsche Industrielle bekundeten ihr Interesse am brasilianischen Atomprojekt. Der Admiral, der diese Ereignisse Jahre später brasilianischen Regierungsmitgliedern vortrug, behauptete, er wäre sogar von Geheimdienstlern der alliierten Siegermächte beschattet worden. Die Beteiligten am brasilianischen Atomprojekt beschlossen, ihre Pläne legalisieren zu lassen, und ersuchten die Alliierte Militärische Sicherheitskommission (Military Security Board) um die Genehmigung ihres Vorhabens. Diese wurde abgelehnt. Es blieb daher nur noch der Weg der Geheimhaltung. Der Admiral kehrte nach Brasilien zurück und bemühte sich dort um die erforderlichen Finanzmittel. Anstelle eines offiziellen Verkaufsvertrages hatten die deutschen Partner zur Finanzierung des Projektes 80 000 US-Dollar für angebliche Forschungszwecke verlangt. Staatspräsident Getulio Vargas wurde über einen Mittelsmann des Admirals, General Caiado de Castro, davon unterrichtet, daß eine streng geheime Behandlung der Angelegenheit erforderlich sei.

Über die Deutsch-Südamerikanische Bank wurden die 80 000 Dollar auf das Konto des Instituts für Physik und Chemie der Universität Bonn überwiesen. Die Finanzierung von drei Uranzentrifugen war gesichert. Die Teile der Zentrifugen wurden an verschiedenen Orten gebaut. Die Ultrazentrifugen mußten nach ihrer Fertigstellung jedoch nach Brasilien geschafft werden. Auf geheimem Wege schaltete der Admiral daher das brasilianische Außenministerium ein. Aber weniger als 12 Stunden später waren die Zentrifugen beschlagnahmt: Ein verstärktes Militäraufgebot des "Military Board of Security" hatte sie "sichergestellt".

Im offiziellen Auftrag reiste der Admiral nach Deutschland, um die sichergestellten Ultrazentrifugen freizubekommen. Der damalige Chef der Alliierten Besatzungsmächte, der englische Brigadegeneral Harvey Smith, gab dem Admiral zu verstehen, daß weder er noch Großbritannien einen Einwand gegen die Ausfuhr der Zentrifugen nach Brasilien hätten, er handele "lediglich als Treuhänder des Willens der vier Nationen". Den Befehl für die Beschlagnahmung hatte der nordamerikanische Hochkommissar Professor James Conant erteilt.

Conant selbst wiederum bekam seine Befehle von Admiral Lewis Strauss, dem Vorsitzenden der Atomic Energy Commission in den USA. Der brasilianische Admiral reiste also in die USA und unterbreitete dort die Bitte der brasilianischen Regierung um Freigabe der Ultrazentrifugen. Admiral Strauss ließ den Brasilianer wissen, daß dieses ausgeschlossen sei. Die USA seien jedoch jederzeit bereit, Brasilien mit der erforderlichen Technologie zu versorgen. Der Admiral wiederholte die brasilianische Wunschliste: die Ausrüstung für die Urananreicherung, eine Fabrik zur Herstellung von Hexafluorit und schließlich Forschungs- und Kraftwerksreaktoren. Der Admiral kam zu keinem Ergebnis.

Die Ultrazentrifugen verblieben weiterhin in Göttingen, wo sie von einer reaktor-physikalischen Arbeitsgruppe fertiggestellt worden waren. Erst nach Beendigung der Okkupation, während der Amtszeit von Franz-Josef Strauß als erstem Bundesminister für Atomfragen, gelangten die Zentrifugen schließlich nach Brasilien. Das war 1956, nach Ratifizierung der Pariser Verträge im Mai 1955, bis zu der die Westmächte der Bundesrepublik Anstrengungen auf dem Gebiet der Kernforschung und ihrer friedlichen Anwendung untersagt hatten. Die angeblich unbrauchbaren deutschen Ultrazentrifugen fanden ihren Endstandort im Institut für Technologische Forschung von São Paulo.

Als Ende der 60er Jahre die Gründung eines deutsch-holländisch-britischen Gemeinschaftsunternehmens für Uranverabeitung - die URENCO - im Gespräch war, waren auch brasilianische Interessen im Spiel: Die brasilianischen Militärs waren an einem neuen Zentrifugalverfahren für die Urananreicherung interessiert, das 1960 vom Frankfurter Chemiekonzern Degussa entwickelt worden war. Das projekt stieß auf den Widerstand der USA. Dem Druck der Nordamerikaner folgend, untersagte die Bundesregierung der Firma Degussa die Weiterentwicklung der Anreicherungstechnik. Forschungsgeräte sowie Ausrüstung der privaten Firma wurden von der Bundesregierung beschlagnahmt und dem staatlichen Kernforschungszentrum Jülich unterstellt.

Um eben diese Anreicherungstechnik zu erwerben, boten die brasilianischen Militärs der Bundesrepublik Verhandlungen über gemeinsame Uranprospektion an, beziehungsweise über den Verkauf von Uran nach Deutschland. Basierend auf einer Gesetzesvorlage aus dem Jahr 1952 und nach Gründung der brasilianischen "Kommission für den Export Strategischer Materialien" war eine Uranausfuhr in die Bundesrepublik grundsätzlich möglich. Unter dem politischen Druck der USA kamen jedoch Deutsche und Brasilianer erst spät ins Geschäft. Mit der Unterschrift Willy Brandts unter die ratifizierten ""ereinbarungen über wissenschaftlichen Austausch auf dem Gebiete der Atomenergie" 1969 war überhaupt erst die Grundlage gegeben, auf der das eigentliche große Atomgeschäft zustande kommen konnte.



Als im September 1972 eine 60köpfige Delegation der Brasilianischen Kriegshochschule die Bundesrepublik besuchte, geschah dies mit dem offiziellen Ziel, die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg aufzusuchen; inoffizielle, aber hauptsächliche Ziele waren jedoch das Kernforschungszentrum Jülich und die KWU in Mülheim an der Ruhr. Just zum Zeitpunkt des Militärbesuchs wurden Kernforschungszentrum von Jülich die Zentrifugen zur Anreicherung von Uran in Betrieb genommen, an denen unter anderen brasilianische Atomspezialisten ausgebildet wurden. Vereinbarungen hierüber hatte der brasilianische Außenminister Magalhães Pinto 1969 während seiner Deutschlandreise getroffen. Es entwickelte sich ein reger Expertenaustausch. Für die brasilianische Seite führte Luftwaffen-Leutnant Paulo del Vaux vom "Centro de Aviação Militar" Verhandlungen über den Verbleib militärischer Atomspezialisten in Jülich, während Professor Albert Böttcher vom Kernforschungszentrum Jülich Reisen deutscher Experten nach Brasilien organisierte und dort selber Kurse über Atomtechnik abhielt.

Der Verkauf eines westdeutschen Reaktors nach Brasilien war zwar Gegenstand von Gesprächen gewesen, die der westdeutsche Außenminister Scheel 1971 in Brasilien geführt hatte. Dies veranlaßte die brasilianische Presse - im gegensatz zur westdeutschen - dazu, die Frage der atomaren Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern in den Vordergrund des Scheel-Besuches zu stellen. Es kam bei dieser Gelegenheit nicht zu einem Vertragsabschluß über den Verkauf eines KWU-Reaktors; der nordamerikanischen Mellon-Bank gelang es, sich dazwischenzuschieben. Sie gewann, wie schon erwähnt, die Ausschreibung für den Bau des ersten brasilianischen Kraftwerks in Angra dos Reis.

Zusammengefaßt kann also behauptet werden, daß von Anbeginn das brasilianische Atomprogramm den Aufbau des geschlossenen Brennstoffkreislaufes zum Ziel hatte. Bis Mitte der 50er Jahre war der Bundesrepublik jedoch sowohl die Kernforschung als auch die Ausfuhr der den Brennstoffkreislauf umfassenden Technologie untersagt.


MODELL DEUTSCHLAND

Der Sicherheitsstaat


Wenn Carl Amery polemisch meint, Atomkraftwerke könnten sich ökonomisch gar nicht lohnen und die bisherigen Kosten-Nutzen-Rechnungen seien falsch, da sie die Kosten für die Stelle des Beamten, der die nächsten 250.000 Jahre den bis dann noch hochgiftiqen Atommüll bewachen muß, nicht einrechnet, deutet er zumindest ein Problem an, was in der Diskussion der "Sachverständigen" (der Kernkraftbetreiber) immer verschwiegen wird: In der einen oder anderen Weise muß darauf aufgepaßt werden, daß der Atommüll nicht in die falschen Hände gerät und zu einer tödlichen und von niemandem mehr kontrollierbaren Bedrohung wird.

Sicherheit, ein häufig gebrauchtes Wort der politischen Diskussion, ist gefragt, und da die Regierenden Sicherheit gewährleisten sollen, liegt die Assoziation mit Sicherheits- und Streitkräften nahe. Das Sicherheitsproblem liegt nicht nur im Betreiben der Atomkraftwerke, sondern es liegt in mindestens ebensolchem Ausmaß in der Lagerung des Atommülls. Die zwischengelagerten oder industriell nicht mehr verwertbaren Brennelemente sind noch auf Jahrtausende hinaus giftig. Das beim "Schnellen Brüter" anfallende Plutonium ist darüber hinaus der Rohstoff für die Herstellung von Atombomben.

Das "Modell Deutschland", mit dem die Sozialdemokraten uns "sicher in die achtziger Jahre" befördern wollen, ist aber als ein Hort wissenschaftlicher, sozialer und politischer Stabilität nur vorstellbar mit Wachstumsraten, die einen Energieverbrauch erzeugen, deren Sicherstellung mit ungefährlichen Technologien nicht möglich ist. Ist vom "Modell Deutschland" die Rede, so darf nicht unerwähnt bleiben, daß zu diesem Modell sozialdemokratischer Politik auch der Atom- und Sicherheitsstaat zählt; die Parole der Atom-Gegner: Gorleben ist überall! könnte eine präzise Beschreibung des Zustands sein, auf den wir uns gefaßt machen müssen.

Die DWK, die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen, Bauherrin des Nuklearen Entsorgungszentrums, das in Gorleben geplant ist, versucht, das Problem herunterzuspielen. Auf die Frage nach dem Sicherheitsproblem bei der Aufbewahrung von Atommüll gibt sie die legere Antwort: "Dabei kann man sich ganz konventioneller Methoden bedienen, wie sie seit jeher zum Schutz vor Dieben und Räubern eingeführt sind." Weniger blauäugig ist in diesem Zusammenhang der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Überhorst, der befürchtet, daß Gorleben "unsere Demokratie verändert". Und das sicher nicht zum Besseren!

Es kann an dieser Stelle kein Szenario des Atomstaats entworfen werden, sondern es soll auf die u.E. entscheidenden Aspekte der bundesrepublikanischen Sicherheitspolitik aufmerksam gemacht werden, die jetzt bereits deutlich sind und die die Richtung anzeigen, in die die Sicherheitspolitik der Sozialdemokraten eingeschlagen wird.

Wenn die BRD den Weg in den Atomstaat einschlagen wird, werden die Probleme der politischen Absicherung der Atomrisiken größer sein als die (bis heute ungelösten) Probleme der Strahlungssicherheit der Salzstöcke unter Gorleben. Atomstaat impliziert eine totale Sicherheit des Staates vor seinen Bürgern.

Wie sieht nun die Sicherheit aus, die uns die Sozialdemokraten für die achtziger Jahre, die Zeit nämlich, in der geplant war, mit Gorleben zu beginnen, versprochen haben? Und wenn die Sicherheitsmaßnahmen verschärft werden müssen, vor wem muß man sich schützen?


Vor allen jenen, die skrupellos genug sind, den Versuch zu unternehmen, sich des gefährlichen Materials zu bemächtigen, um der Gesellschaft erpresserisch oder brutal ihren Willen aufzwingen zu wollen. Und das sind vor allem Terroristen, versteht sich, und auch dem (sozialdemokratischen) Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA) fällt beim Gedanken an die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nichts anderes ein. Gleichwohl bietet Herold in einer, in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Rede vor hohen Polizeibeamten eine differenziertere Antwort zum Problem der Inneren Sicherheit und des Terrorismus, die sich ausführlich zu kommentieren und zu dokumentieren lohnt. Sie gibt einen klaren Hinweis darauf, wie die sozialdemokratischen Sicherheitspolitiker das Terrorismusproblem analysieren und wie sie sich vorstellen, wie damit umgegangen werden kann. Das scheint umso wichtiger, als die Diskussion um den Bau von Atomkraftwerken und der Protest dagegen ein Ausmaß angenommen haben, das so bisher in der Bundesrepublik nicht vorhanden war.

Herold macht seine Auffassung von Sicherheit vor allem am Beispiel des Terrorismus deutlich:

- Terrorismus ist - so Herold - objektiv erklärbar und nicht psychologisierend durch die Analyse des Lebenslaufs der Täter u.ä.

- Terrorismus ist eine frühe Ausdrucksform für Prozesse gesellschaftlichen Wandels, die gekennzeichnet sein werden durch die Ablösung bisher gültiger Wertsysteme, aber auch tiefgreifender ökonomischer Umstrukturierungen.

- Der Sinn der Sicherheitspolitik kann nicht sein, lediglich den Terrorismus zu bekämpfen, der als solcher ja nur ein Symptom ist; neben der Bekämpfung des Terrorismus, die selbstverständlich eine wichtige polizeiliche Aufgabe ist, ist aber die sicherheitspolitisch relevantere Fragestellung, die dem Terrorismus nachfolgenden Gefahren (nämlich die des Verlustes des Wertsystems der Gesellschaft und die der tiefgreifenden ökonomischen Umstrukturierungen) zu erkennen und diese Gefahren abzuwehren oder gar aufzuheben.

- Diese Betrachtungsweise eröffnet also die Möglichkeit, die Schubkräfte gesellschaftlicher Veränderungen freizulegen, deren oberflächliches Signal der Terrorismus ist. So gefährlich der Terrorismus und die Schubkräfte auch sein mögen, Herold läßt seine Zuhörer, im wesentlichen hohe Polizeibeamte aus westdeutschen Großstädten, nicht ohne Hoffnung, denn "wie immer geartete Veränderungen oder Umwälzungen sind keineswegs zwangshaft oder gar eine Unabänderlichkeit".

Dabei sieht Herold in einem überblick über die kriegerischen Auseinandersetzungsformen seit Ende des Zweiten Weltkrieges eine ganz klare Tendenz in Richtung "weg vom Großkrieg", hin zum Kleinkrieg, Guerilla- oder Volkskrieg. Die Zeit der Auseinandersetzung zwischen den Staaten und Blöcken sei abgeschlossen, auch die Sowjetunion habe dies erkannt, und dies sei der dialektische Hintergrund ihrer Koexistenzpolitik. Jede bewaffnete, internationale Auseinandersetzung zwischen den Blöcken sei nur noch selbstmörderisch. Bezogen auf Lateinamerika sagt Herold:

"Der Prozeß der Revolutionierung Südamerikas hat begonnen und scheint durch staatlichen Terror von oben nur momentan unterbrochen. Alle Veränderungstendenzen aber greifen auf Kleinkriegsmodelle zurück."

Der Kontext der Äußerungen Herolds ist natürlich vorrangig die Entwicklung der inneren Sicherheit der BRD, entsprechend den Bedürfnissen seines Publikums. Wenn er dann anschließend ein Szenario entwirft, das er implizit nicht für die BRD annehmen möchte, sondern für die südeuropäischen Staaten, aber nicht nur für diese, so verdeutlicht er m.E. bewußt oder unbewußt eine Stoßrichtung seiner Überlegungen: Die Technologie zur Bekämpfung des Terrorismus (des Kleinkrieges, der Guerilla, des Volkskrieges) ist in der Bundesrepublik nicht nur entwickelt, sondern fest installiert worden. Wesentliches Problem des von Herold entworfenen Szenarios ist, daß in einer "vorrevolutionären" Situation die Regierung ihre Legitimationsbasis verliert und die Träger der bestehenden staatlichen Ordnung ihr Handeln nicht mehr glaubhaft zu rechtfertigen vermögen.

Herold bettet diese Überlegungen ein in Überlegungen zur Strategie der inneren Sicherheit. Dabei wird offensichtlich, daß es sich hierbei nicht um einen individuellen Beitrag des Präsidenten des BKA handelt, sondern um Überlegungen, strategische Überlegungen, die keineswegs auf die BRD beschränkt bleiben sollen. Die Innere Sicherheit im Verständnis der Sozialdemokratie ist die Sicherheit, die ein Polizeiapparat gewährleisten kann, der mit den "Kleinkriegen" fertig werden kann. Sicherlich ist für die Sozialdemokratie der vorrangige Aspekt, eine solche Situation nicht aufkommen zu lassen.

Vorrangig ist die Sicherung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Verhinderung tiefgreifender ökonomischer Umstrukturierungen. Verbunden sein muß dieses System mit einem nahezu seismographisch funktionierenden System der Wahrnehmung artikulationsfähiger Unzufriedenheit, d.h. der Ausbau eines Wahrnehmungssystem, das bereits dann greift, wenn die Schwelle zum Terrorismus noch nicht überschritten ist. Das bedeutet letztlich den Ausbau einer bürgernahen Polizei, die Entmilitarisierung des Polizeiapparates. Das impliziert die Existenz eines Repressionsinstrumentes, das dezentralisiert greift. Und es impliziert den Ausbau eines Informationssystems, das die Horrorvision vom gläsernen Menschen zur alltäglichen Erscheinung macht.

Die Ausführungen Herolds und die damit verbundene Tendenz zur "Entmilitarisierung der Polizei" steht zunächst in auffallendem Widerspruch zu den Bildern (und den Erfahrungen), die in Brokdorf und anderswo gemacht wurden; sie stehen auch im Gegensatz zu den mit Hilfe der Sozialdemokraten verabschiedeten Notstandsgesetze. Aber es ist wohl eher so, daß beide Sicherheitskonzepte sich für den Notfall ergänzen. Das Heroldsche, sozialdemokratische Konzept kann nur dann funktionieren, wenn auch die anderen Aspekte sozialdemokratischer Politik greifen: eine Politik relativer Vollbeschäftigung, eine sozialdemokratisch beherrschte Einheitsgewerkschaft, deren Organisationsgrad hoch ist und die das spätkapitalistische System mit seinem sozialen Kontrakt zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und Regierung mit seinen Mechanismen der Mitbestimmung nicht in Frage stellt. Opposition wird dann durch die Mechanismen der politischen und polizeilichen Kontrolle rechtzeitig wahrgenommen.

Sollten die Mechanismen nicht greifen, steht ein militärisches Instrumentarium zur Verfügung, ein Instrumentarium, von dem die Sozialdemokraten aus ihrer anti-militaristischen Tradition heraus nur sehr ungern Gebrauch machen.

Der Ausbau eines Sicherheitssystems nach der Art, wie es z.Z. in der Bundesrepublik erfolgt (und bereits in einigen Ländern dabei ist, Epigonen hervorzubringen) ist gekennzeichnet von einem perfekten Informationssystem - Stichwort der "Spiegel"-serie: Das Stahlnetz stülpt sich über uns - ein Netz, in dem alles das hängen bleibt, was für die "Maschen zu sperrig" ist. Das will heißen, sowohl das, was von den Sicherheitsexperten des BKA und des Verfassungsschutzes als verfassungsfeindliches oder staatsfeindliches oder sicherheitsfeindliches oder schlicht abweichendes Verhalten und Denken angesehen wird, als auch das, was irgendein bornierter Polizei- oder Verfassungsschutzbeamter in vermeintlichem (oder vielleicht auch nicht vermeintlichem) Übereifer als solches erkennt, wird mit "wissenschaftlicher" Akribie festgehalten und gespeichert. Die Rasterfahndung, eine Mechode, die gespeicherten Namen nach ganz bestimmten Kriterien zu sortieren und aus einer Unmenge von Namen und Daten einige Verdächtige herauszuziehen, ist dann die Rechtfertigung, die für die Terrorismusfahndung gegeben wird.

Daß der Mißbrauch möglich ist, zeigt ein Beispiel aus jüngster Zeit: das BKA sicherte sich unter dem Vorwand der Terroristenfahndung die Unterlagen der Elektrizitätswerke. Die Begründung für diese Maßnahme braucht hier nicht zu interessieren; wer aber ist sicher, daß auf diese Weise nicht eine vollständige Liste aller Stromboykotteure erstellt wird, die heute oder später dienlich sein kann, den "harten Kern" aller Atomkraftwerksgegner zu erfassen.

Der Phantasie sind in diesem Punkt, was alles erfaßbar wäre, keinerlei Grenzen gesetzt. Daß Bürgerinitiativen, Grüne usw. entweder in diese gigantische Datenmaschinerie bereits aufgenommen sind oder aufgenommen werden, ist mehr als nur eine Vorstellung paraneuischer Einzelner. Das Verhalten derjenigen, die sich der "friedlichen" Nutzung der Atomkraft oder der zunehmenden Umweltzerstörunq widersetzen, darf im Sinne des BKA und der Sicherheitsorgane wohl eindeutig als abweichendes Verhalten betrachtet werden.

Die Vorstellungen, die der Sicherheitsexperte Herold formuliert, sprechen zwar von der Terrorismusbekämpfung, es wird aber ziemlich deutlich, wohin sie letztlich zielen: auf den "Sumpf der Sympathisanten", der den Nährboden abgibt für den Terrorismus. Der Terrorismus ist aber in der BRD eine Einzelerscheinung, die den Bestand der kapitalistischen Gesellschaft auch nicht annähernd zu gefährden in der Lage war. Unter den Bedingungen des Atomstaates ist das, was die Sicherheitsanalyse der Polizeifachleute als Terrorismus bezeichnen, bereits im Ansatz eine wesentlich größere Gefahr, die zudem auch noch technologisch begründet werden kann. Wendet man Herolds Argumentation auf die Bedingungen des Atomstaates an, so muß sie folgendermaßen formuliert werden:

Angesichts der Gefährlichkeit der eingelagerten radioaktiven Stoffe und der Bedrohung, die davon ausgehen könnte, wenn sie in die falschen Hände gerieten, kann eine relative Sicherheit vor den "falschen Händen" nicht mehr genügen. Eine absolute gesellschaftliche Stabilität ist allein in der Lage, die Sicherheit zu gewährleisten, die notwendig ist, wenn die militärische Lösung vermieden werden soll. Der Hinweis auf die technischen Sachzwänge der Sicherheit genügen dann, wenn es denen an den Kragen gehen soll, die sich mit dem Atomstaat nicht abfinden wollen.

Robert Jungk zeichnet in seinem Buch "Der Atomstaat" einige der möglichen, in den USA entwickelten Szenarios nach, die illustrieren sollen, was zu erwarten wäre, wenn der "innere Feind", entschlossene Minderheiten, Terroristen etc. spaltbares Material in die Hände bekäme und in der Lage wäre, jede auch nur denkbare Forderung durchzusetzen. Die Szenarios lesen sich wie Gruselgeschichten aus Groschenheften. Ihre Wirkung - insbesondere in den USA - soll aber offensichtlich eine andere sein: Es wird suggeriert: Dieser Fall darf nie eintreten! Ist der innere Feind erst im Besitz des spaltbaren Materials, aus dem jeder in technischen Dingen halbwegs bewanderte Mensch eine funktionierende Atombombe basteln könnte, ist der "innere Krieg" schon verloren.

Der Präsident des BKA hat in seiner Rede vielleicht nicht an "Atomstaat" gedacht, sondern nur seine Überlegungen geäußert, wie man in der BRD des Terrorismus Herr werden kann. Angesichts der Entschlossenheit der im Bundestag vertretenen Parteien zum Ausbau und Export von Atomkraftwerken ist es für die Demokraten nicht nur in der BRD notwendig, die politischen Konsequenzen technischer und ökonomischer Entscheidungen klar aufzuzeigen. Das "Modell Deutschland" ist das Modell des totalen Sicherheitsstaates.





Krise und Exportzwang der westdeutschen Atomindustrie

Noch bevor die Pariser Verträge abgeschlossen wurden (1955), die das militärische Besatzungsstatut aufhoben und die begrenzte Souveränität der BRD wiederherstellten, begannen die ersten Versuche, die durch den 2. Weltkrieg unterbrochene deutsche Atomforschung im westlichen Teil des Landes wiederaufzunehmen.

1954 wurde die "Physikalische Studiengesellschaft" gegründet. Die Gründung ging auf Initiative einschlägiger Industriekreise zurück, die sich bereits 5 Jahre nach Kriegsende für den Aufbau einer zivilen Atomwirtschaft in der BRD stark gemacht hatten.

Die Industriellen dieser "Physikalischen Gesellschaft" waren überwiegend Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder führender Konzerne aus der Elektro-, Chemie-, Maschinenbau- und Metallbranche.

Führender Kopf dieser atomaren Interessengesellschaft (AEG, Siemens, Höchst, Bayer, Demag, Deutsche Babcock & Wilcox, Brown Bovery, Krupp, Gutehoffnungshütte, Mannesmann, Metallgesellschaft, Degussau) war der amtierende Vorstandsvorsitzende der Farbwerke Höchst AG und ehemalige Vorstandsvorsitzende der IG-Farben, Dr. Karl Winnacker (Co-Autor des Buches "Das unverstandene Wunder - Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland").

Die von Winnacker inspirierte "Physikalische Studiengesellschaft" war nichts anderes als die finanzielle Stütze der kurz nach Kriegsende gegründeten "Reaktorphysikalischen Arbeitsgruppe" unter der Führung des Atomforschers Werner Heisenberg.

Von dieser Interessengemeinschaft gingen dann in der Folgezeit die entscheidenden Impulse für den Aufbau einer nationalen Atom
[im Buchdruck verloren gegangene Worte; die Redaktion]
aus, die heute in Gestalt des "Deutschen Atomforums", mit Sitz in Bonn, ihren Dachverband hat.

Der Aufbau einer eigenen Atomindustrie, die ausgesprochen "friedliche Zwecke" verfolgen sollte, war nach Einschätzung der Interessengemeinschaft um so erforderlicher und dringender, als, im Vergleich zu den USA, ein 10-jähriger Rückstand der westdeutschen Atomforschung konstatiert wurde.

Große finanzielle Anstrengungen waren deshalb notwendig und seit der Gründung des Atomministeriums (1956) unter Franz Josef Strauss scheute auch der Staat keine finanziellen Zuwendungen.

Die Gründung des westdeutschen Atomministeriums folgte der Verkündung des US-amerikanischen Programms "Atome für den Frieden", womit Präsident Eisenhower 1954/55 grünes Licht für die "friedliche", das heißt für die kommerzielle Nutzung der Atomenergie gegeben hatte. In Wien wurde eine den UN angegliederte "Internationale Atomenergiebehörde" (IAEA) gegründet, die auf Wunsch der USA die Einhaltung der "friedlichen" Weiterverbreitung kontrollieren sollte. Ein Widerspruch in sich, war doch die Atomenergie für "friedliche Zwecke" de facto aus der militärischen Forschung während des 2.Weltkriegs hervorgegangen.

Franz Josef Strauss entschleierte jedoch sehr frühzeitig den Januskopf der westdeutschen Atompolitik, als er 1956 seine Absicht der Öffentlichkeit darlegte, die Bundeswehr mit taktischen Atomsprengsätzen aufzurüsten.

Der Einstieg in die kommerzielle Nutzung

Der Aufbau der westdeutschen Atomindustrie beginnt eigentlich erst im Jahr 1958, als einige der o.g. Firmen Teile der Ausrüstungen für den von der US-amerikanischen General Electric (GE) gebauten Atommeiler von Kehl lieferten.

Doch wurde bereits zu diesem Zeitpunkt die Forderung nach größeren Leistungsreaktoren laut. Die in Zusammenarbeit von Siemens AEG betriebene Kraftwerk-Union (50% / 50%) lieferte bereits 1969 das Atomkraftwerk Obrigheim (340 MW). Die Bauzeit des unter Lizenz von Westinghouse und General Electric fertiggestellten AKW belief sich auf 4 Jahre. Noch bevor Obrigheim fertiggestellt war, hatte die KWU schon den Bau eines größeren, 600 MW-leistungsstarken AKWs in Stade im Auftragsbuch.

Doch diese 10 "Pionierjahre" der Atomindustrie waren in Wirklichkeit die erforderliche Probezeit auf der Suche nach dem geeigneten Reaktortyp.

Die Diskussion in der "Reaktorphysikalischen Studiengemeinschaft" hatte sich jahrelang um ein Projekt gedreht, das der BRD die erforderliche Unabhängigkeit auf dem Gebiet der Brennstoffversorgung sichern und an zweiter Stelle die Atomindustrie konkurrenzfähig machen sollte.

Im Mittelpunkt stand ein deutsches Projekt, nämlich ein mit schwerem Wasser (D²O, Deuterion genannt) gekühlter und mit Natururan betriebener Reaktor.




Ein Prototyp dieser Linie wurde 1968/69 in Niederaichbach fertiggestellt und parallel dazu in Argentinien (Atucha) gebaut. Beide Länder, Argentinien und die BRD verfolgten zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich das Ziel ihrer Unabhängigkeit von angereichertem Uran, worüber die USA ein Produktions- und Vertriebsmonopol ausübten.

Hinzu kamen zwei zusätzliche, nicht weniger bedeutsame Aspekte: für Argentinien - dessen Atomprogamm, wie in fast allen Ländern der Dritten Welt, fest in den Händen der Militärs war - war dies der kürzeste Weg zu einem militärischen Atomprogramm (höhere Plutonium-Abfallrate als bei Leichtwasserreaktoren)und für die BRD war Atucha sozusagen der Testfall für einen möglichen Exportschlager (zumal auch Brasilien, wo die BRD schon in den 60er Jahren nach Natururan suchte, aus den gleichen Motiven an dieser Reaktorlinie interessiert war.)

Doch das Projekt des Natururan-Reaktors scheiterte unter anderem an der nicht zustande gekommenen Anlage für die Schwerwasserproduktion, die für den Betrieb des Reaktors von Niederaichbach erforderlich war. Wenige Zeit nach seiner Inbetriebnahme wurde das AKW Niederaichbach stillgelegt und ist heute die erste Atomruine in der BRP, an der "exemplarisch" AKW-Abrißtechnologion erprobt werden sollen.

15 Jahre lang hatte die Grundlagenforschung an der Natururanbaulinie herumgebastelt und einen Großteil der Forschungsgelder des dritten Atomprogramms (6,1 Milliarden DM) verschlungen.

Die Atomindustrie hatte jedoch bis 1974 kaum nennenswerte Verkaufserfolge zu verzeichnen, während sich die Reaktorlandschaft auf dem Weltmarkt mit dem Durchbruch der Leichtwasser- und Druckwasser-Reaktorlinie der USA (Westinghouse) zusehends verändert hatte.

 

 

"Biblis" - der Modellreaktor

1969 wurde im hessischen Biblis am Rhein das weltgrößte Leistungs-AKW mit 1.200 MW in Auftrag gegeben. Im Vorfeld dieses Auftrags gründeten die Firmen Siemens und AEG die Kraftwerk-Union (KWU).

Bis dahin waren Siemens und AEG Lizenznehmer der US-amerikanischen Atom-Multis Westinghouse bzw. General Electric.
Sehr früh erkannten die beiden deutschen Lizenznehmer, daß die kapitalintensive Atomindustrie im Grunde eine Kooperation auf dem Gebiet
des Kraftwerbaus erforderte. Diese Kooperation wurde jedoch durch die Tatsache erschwert, daß Westinghouse und General Electric den westdeutschen Firmen unterschiedliche Technologien überließen, die miteinander konkurriertcn. Als konkurrenzunfähig erwies sich in der Hauptsache die durch AEG von GE übernommene Siedewasserreaktorbaulinie. Sie war besonders anfällig und drückte die Betriebskosten rasant in die Höhe. Bis 1976 hatte die AEG einen verlust von ca. 1,0 Milliarden DM im AKW-Bau.

1976 löste sich AEG von der KWU und für 618 Millionen DM übernahm Siemens die KWU-Anteile des am Beginn einer Krise stehenden Elektromultis. Inzwischen hatten sich auch Westinghouse und GE als Lizenzgeber vom westdeutschen Markt zurückgezogen.

Im Februar 1975 wurde der Block A von Biblis dem Energieversorgungsnetz angeschlossen. Einen Test von 5.200 "Garantie-Stunden" hatte dieses AKW überstanden und brauchte bei einem 90%-igen Leistungsfaktor 8 Monate lang nicht abgeschaltet zu werden.

Obwohl Biblis als "Test-AKW", das endgültig die nationale und internationale Konkurrenzfähigkeit der westdeutschen Atomindustrie sichern sollte, bis 1975 außer Investitionen nichts gebracht hatte, gab sich die KWU optimistisch: zwar hatte das Unternehmen mit einem Umsatz von 732 Millionen DM 1972 nur noch auf Position "unter ferner liefen" gestanden, doch 1977 schon rückte es mit einem 5 Milliarden Umsatz an die Spitze der Atomindustrie. In den Büchern hatte KWU Aufträge in Höhe von rund 27 Milliarden DM. Dies betraf vor allem Bestellungen konventioneller Atomkraft-Werke von seiten Argentiniens, der Schweiz, Österreichs und Hollands. Im Inland konnte die KWU bis 1975 noch 4 weitere Aufträge verbuchen.

Doch die US-amerikanische und französische Konkurrenz (Westinghouse und Framatome) "schlief nicht unter der Zipfelmütze", wie man in Brasilien zu sagen pflegt. Allein die USA verbuchten im gleichen Zeitraum 19 Aufträge.

Den Durchbruch erzielte KWU 1974/75: der Iran und Brasilien gaben der KWU den Auftrag für den Bau von jeweils zwei Atomkraftwerken und signalisierten damit die Expansion der westdeutschen Atomindustrie auf dem Weltmarkt.

Dazu die "Zeit" vom 26.1.79: "KWU-Chef Klaus Bartelt steigt von einem Flugzeug ins andere, um in aller Welt über die Lieferung deutscher Kernkraftwerke zu verhandeln. Bonner Politiker gaben dabei Flankenschutz."

Insgesamt schlugen bis Ende 1976 17 AKW-Aufträge zu Buche, doch nach eigenen Angaben benötigte die KWU mindestens 37 Aufträge, um ihre mittelfristige Rentabilitätsgrenze zu erreichen. Diese liegt nach Angaben der Atomindustrie, namentlich der Reaktorbauer, bei mindestens 6 AKWs im Jahr.

1978 trübte sich der Optimismus, es begann buchstäblich ein konzertiertes Krisengeschrei von Atomindustrie, Staat und Kraftwerksbetreibern: mit der Abwicklung alter Aufträge in Höhe von 5 Milliarden DM waren die Kraftwerksbauer 1978 unter die Rentabilitätsgrenze gefallen.

 


Die Krise - Baustopp in der BRD und Exportrückgang

Zwischen 7 und 8 Milliarden DM lagen wegen gerichtlich erwirktem Baustop oder nicht bewilligter AKW-Neubauten allein in der BRD auf Eis. Zu den baustellen Wyhl, Grohnde, Brokdorf gesellte sich die Bauruine des "Schnellen Brüter" in Kalkar.

Das selbstbewußte Auftreten von Bürgerinitiativen, die mutigeren Entscheidungen der Gerichte gegen AKW-Bauten und langandauernde, schleppende Genehmigungsverfahren der Behörden - die sich z.T. durch tausende von Einsprüchen und einstweiligen Verfügungen der Bürger hindurchkämpfen mußten, brachte das großspurige Inlandsgeschäft der Atomindustrie ins Stocken.

In der BRD war die Angst vor einer unbekannten Großtechnik, die massiv eingesetzt werden sollte, der ausschlaggebende Faktor. Den Argumenten des zu großen Sicherheitsrisikos der Bürgerinitiativen und Experten (knapp 240 Störfälle zwischen 1968 und 1978!) setzten Atomindustrie und Kraftwerksbetreibern die niemanden überzeugende apokalyptische Vision des immer näher rückenden totalen "black outs" ("die Lichter gehen aus!...") entgegen.

Durch nichts konnten die Argumente der Bürgerinitiativen entkräftet werden: jeder Vorstoß - seit den Demonstrationen von Brokdorf, Grohnde und Kalkar mit brutalen Polizeieinsätzen! - von Seiten der Atomindustrie und des Staates verhärtete die Fronten, ja, verbreiterte die Basis des ökologischen Protestes und politisierte Teile der bis dahin Kapitalismus unkritischen Umweltschützer.

Den vorläufigen Höhepunkt in den Auseinandersetzungen zwischen ökologischer Bewegung einerseits und Atomindustrie und Staat andererseits bildete das Wiederaufbereitungsprojekt Gorleben. Vor dem Hintergrund der Abhängigkeit der meisten westeuropäischen Atomkraftwerksbetreiber gegenüber der Monopolstruktur des internationalen Marktes für angreichertes Uran (USA, Kanada, UdSSR), wurden stärker als je zuvor, Mitte der 70er Jahre Bemühungen sichtbar, nationale und supranationale Anreicherungs- bzw. Wiederaufbereitungsprojekte voranzutreiben. Die besondere Abhängigkeit der BRD von nuklearem Brennstoff kommt beispielsweise durch die Tatsachen zum Ausdruck, daß ihr AKW-Programm (das überwiegend aus Druck- und Leichtwasserreaktoren besteht) von angereichertem Uran aus den USA oder Kanada bzw. von wiederaufbereiteten Brennstäben aus La Hague (Frankreich) abhängig ist.

Beides, Wiederaufbereitung und Anreicherung, benötigt die BRD jedoch im eigenen Lande. Erstens, um den wachsenden inländischen Bedarf (zunehmende lagerung abgebrannten Brennstoffes) zu decken und zweitens, um weiter konsequent bei ihrer Exportpolitik zu bleiben.

Gerade die Philosophie der BRD-Atomexportpolitik war auf heftigen Widerstand der USA gestoßen und hatte beispielsweise das Brasiliengeschäft fast zwei Jahre lang ins Stocken gebracht.

Grundbestandteil dieser Philosophie ist der Export von sogenannten "geschlossenen Paketen": Staat und Atomindustrie machen den Erwerb von Wiederaufbereitungs- bzw. Anreicherungstechnologien zur Voraussetzung des Exports von AKWs.

Diese Philosophie wurde erstmalig im sogenannten "Bombengeschäft" mit Brasilien erprobt und erfolgreich auch gegen die US-amerikanischen Pressionen durchgesetzt. Zwei Faktoren ergänzten sich innerhalb dieser Philosophie, die zugleich auch ein Stück aktueller BRD-Außenpolitik ist: zum Einen soll der Einstieg in die Plutoniumwirtschaft ("schneller Brüter") im eigenen Lande forciert, zum anderen die Atompolitik der autoritären "Schwellenländer" unterstützt werden; mit dem Risiko, daß diese damit auch verstärkt ihr militärisches Atomprogramm vorantreiben. Beides steht im Widerspruch zur gegenwärtigen Atompolitik der USA: sowohl der Ausstieg aus der "schnellen Brüter"-Technologie wurde in den USA empfohlen als auch vor einer militärischen Weiterverbreitung gewarnt.

Interne "Sachzwänge" (Ausweitung der Lagerungskapazitäten + Wiederaufbereitung) wurden durch den Exportzwang ergänzt, denn wie die "Zeit" vom 2. Februar 1979 schreibt, ist es "eine Illusion zu glauben, die deutsche Nuklearindustrie könne weiter Kernkraftwerke exportieren, selbst wenn im Inland nichts mehr läuft. Die Bundesrepublik ist ein Exportland, sie lebt vor allem vom Export hochwertiger Güter. Spitzentechnologien gehören dazu. Hier zeigt sich im übrigen die enge Verzahnung zwischen der Forschungsförderung und industriellem Wachstum besonders deutlich. Untersuchungen belegen, daß jene Branchen im Außenhandel besonders erfolgreich sind, die Forschung und Entwicklung - sei es aus eigener Kraft oder mit Hilfe des Staates - besonders intensiv arbeiten. (...) Selbst wenn es energiepolitisch vertetbar wäre, auf die Nutzung von Kernenegie im Inland zu verzichten, wäre ihr Exportwert noch außerordentlich hoch anzusetzen. Nur, es wird keiner mehr die Waren aus einem Land kaufen, das sie selbst links liegen läßt."

Doch gerade Spitzentechnologien wie Anreicherung und Wiederaufbereitung wurden vom Staat besonders großzügig während des dritten und vierten Atomprogramms über die Großforschungszentren (Karlsruhe, Jülich, Almelo, etc.) subventioniert. Anders als in den USA ist in der BRD der Staat finanziell an diesen Projekten beteiligt. Verstärkter Widerstand gegen das westdeutsche Atomprogramm seites der ökologischen Bewegung bedeutet also auch Widerstand gegen die unmittelbaren Verwertungs-Interessen von Industrie und Staat und erklärt die Qualität der Repression, wie sie die ökologische Bewegung seit Brokdorf buchstäblich am eigenen Leibe erfährt.

 

Exportgeschäfte auf der Kippe

Mit der islamischen Revolution platzte "einer der größten zivilen Verträge der internationalen Wirtschaftsgeschichte" (Staatssekretär Karsten Rohwedder).

Was damit gemeint ist, waren Iran-Aufträge an die westdeutsche Atomindustrie in Höhe von mehr als 31,0 Milliarden DM. Hauptnutznießer sollte die KWU sein: für 11,0 Milliarden wurden 1978 Verträge für den Bau von 2 AKWs vom Typ "Biblis" unterschrieben. Vier weitere hatte der Schah in Aussicht gestellt. Kostenpunkt: 20 Milliarden DM. Darüber hinaus sollte die mit der KWU im Internationalen Elektro-Kartell (IEA) zusammenarbeitende Brown Bovery zwei AKWs und ein konventionelles Kraftwerk bauen. Im Anschluß an die Kraftwerkbauer wurden Aufträge an eine Vielzahl von westdeutschen Unternehmen aus den bereichen Schiffbau und Elektronik vergeben, die des gestürzten Schahs Kriegsmarine am persischen Golf auf technologischen Vordemann bringen sollte: insgesamt ein Auftragsvolumen von rund 40 Milliarden DM

Die bei Busher in Bau befindlichen AKWs der KWU wurden 1979 als halbfertige Ruinen stillgelegt, der persische Staat hat die Mittel für den Weiterbau storniert.

Die in Brasilien seit Ende 1978 ermittelnden Untersuchungs-Ausschüsse des brasilianischen Senats brachten eine nationale Debatte über das deutsch/brasilianische Atomgeschäft zustande und sprachen sich gegen die Erfüllungen der Vereinbarungen von 1975 aus. Besonders brüskiert fühlten sich die Brasilianer durch die ausgesprochen offene Drohung des (Atom-) Grafen von Lambsdorff während seines jüngsten Aufenthalts in Brasilien. Lambsdorff ließ die Brasilianer wissen, daß die BRD die 1975 bestellte Wiederaufbereitungsanlage liefern werde, wenn das Land auch die 8 Atomkraftwerke kaufe.

Lambsdorff unterstellte damit eine vertragliche Fixierung, die es nicht gibt. Brasilien hatte sich 1975 für den Kauf von vier AKWs festgelegt. 1976 wurden durch ein Bankkonsortium zwei AKWs durch Kredite an die brasilianische Regierung finanziert und vier weitere AKWs waren lediglich Gegenstand eines "letter of intend", das heißt einer Absichtserklärung.

Doch die Ermittlungen in Brasilien förderten derart skandalöse Praktiken von Siemens / KWU an das Tageslicht, daß selbst die Erfüllung des Vertrages über den Verkauf von vier AKWs in immer fernere Zukunft rückt, ja, in Brasilien ist die Rede davon, daß das Land es höchstens beim Kauf von besagten zwei AKWs belassen wird. (vgl.: "Krise, Verschuldung und Atomgeschäft" in dieser Ausgabe)

In diesem Zusammenhang erscheint das neue, mit Argentinien angekurbelte Geschäft über die Lieferung eines zweiten Natururanreaktors und einer Schwerwasseranlage als "neue Rettung" für Siemens / KWU: es wäre der erste Auftrag nach fast 5 Jahren.

Angesichts der in Brasilien brachliegenden kapazitäten für den bau von Atomkraftwerken (die Reaktorfabrik des KWU / Nuclebrás - Gemeinschaftsunternehmen in Itaguaí, bei Rio) und der Entlassungswelle am AKW-Standort Angra dos Reis (im März 1979 wurden dort 5.000 Arbeiter entlassen!), versucht KWU nun Brasilien als Brückenkopf für seine Exportstrategie in andere Länder der Dritten Welt zu benutzen. Letzte Meldungen sprechen von der Unterzeichnung eines Liefervertrages von zwei AKWs des Typs "Biblis" zwischen Brasilien und dem Irak. In Brasilia hat der irakische Außenminister ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sein Land mit Hilfe der Brasilianer (sprich KWU) die Atombombe bauen wolle, denn..."unser benachbarter Feind" (Israel) sei des längerem schon im Besitz einer solchen Waffe.


Konsequenzen für den ökologischen Widerstand in der BRD

An dieser Stelle ist eine Antwort auf die Frage fällig, was für Auswirkungen die krisenhafte Entwicklung im Atomexport auf die Entwicklung in der BRD selbst haben kann.

Die Verzahnung von Atomexport und Ausbau des Atomprogramms innerhalb der BRD wurde bereits dargestellt. Mit anderen Worten: trotz der vielfältigen, oft wirtschaftlich bedingten und politisch motivierten Schwierigkeiten der Atomindustrie auf dem Weltmarkt kann sie nur künftige Erfolge verbuchen, wenn sie sich im Inland erneut Kredit verschafft.

Die ersten Anzeichen diesen neuen Trends zum Ausbau der Atomenergie wurden bereits 1979 sichtbar, als die Isolierung der atomkritischen Parlamentarier von SPD und FDP im Bundestag zunahm. Ein aus Parlaments-Kollegen, Gewerkschaftern, "Experten" aus den Großforschungszentren, Ministern und dem Bundeskanzler bestehender Atomfilz ging in eine neue Offensive für die Atomenergie. Vorläufiger Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Atomlobby und Atomgegnern im Parlament war die Debatte über das Projekt der Wiederaufbereitungsanlage von Gorleben.

Bundeskanzler Schmidt ist dafür bekannt, daß er auf Biegen und Brechen die "Entsorgungsfrage" so schnell wie möglich geklärt haben möchte. Mit anderen Worten: der zügige Aufbau der Wiederaufbereitungsanlage ist der alleinige Garant für einen weiteren Ausbau des AKW-Programms. Das bedeutet wiederum Ankurbelung der Inlands-Nachfrage und des Atomexports.

Wenn auch nicht organisch mit der ökologischen Widerstandsbewegung verbunden, waren die Atomgegner in SPD und FDP bislang der einzige "parlamentarische Arm" dieser Bewegung. Sicherlich überwog im Bundestag  oft die Forderung nach "Ausbau-Stop für neue AKWs" im Vergleich zu den Maximal-Forderungen weiter Teile der Bürgerinitiativen, die "sofortige Stillegung" des Atomprogramms verlangten.

Die Vision des Atomstaates rückt in dem Maße näher, wie einerseits die Disqualifizierung, Diskreditierung und "datenmäßige Erfassung" von atomkritischen Parlamentariern deutlich wird, andererseits durch die öffentliche Verunglimpfichung der "Grünen" (im Zusammenhang mit ihrem parlamentarischen Anspruch) und Kriminalisierung von Bürgerinitiativen.

SPD-Grüne oder -Linke erfahren die Rache ihrer "Kollegen" wie anläßlich des Parteitages in West-Berlin, wo "Grüne" und Linke empfindliche Abstimmungs-Niederlagen durch eine konzertierte Aktion des Atomfilzes innerhalb der SPD hinnehmen mußten.

Sachverständige, teilweise nicht einmal "grüne" Gutachter werden von atombefürwortenden Regierungs-"Experten" als Demagogen bezeichnet, die Ängste der Bevölkerung zerstreut. Ein Beispiel hierzu waren die Auseinandersetzungen im Bundestag über das Gorleben-Projekt. Der von Atomgegnern in der SPD bestellte Geomorphologe Eckart Grimmel riet wegen dem zu feuchten Gorleben Salzstock und der zu befürchtenden Korrosionsgefahr von deponierten Atommüll-Behältern vom Standort ab. Wissenschaftler aus den vom Bund finanzierten Großforschungszentren und aus den staatlich verbundenen Unternehmen wie die DWK (Deutsche Gesellschaft für Wiederaufbereitung von Kernbrennstäben) hatten im Technologie-Ausschuß des Bundestages das Sagen und diskreditierten die Gegnerseite, der die Fachkompetenz abgesprochen wurde.

Die Atomindustrie, namentlich die KWU (Siemens) ging soweit, Dossiers mit dem Vermerk "vertraulich" (s. "Spiegel", 36/1979) über die Atomgegner im Parlament, namentlich die sozialdemokratischen, anzulegen. Eine von im Dienste der Atomindustrie stehender Psychologen ausgearbeitete "Schwachstellen-Analyse" sollte herausfinden, wie die Atomgegner weich zu machen und zu gewinnen seien.

Um die Parlamentarier zu bearbeiten, hat beispielsweise die KWU eine Vielzahl von "Arbeitskreisen Energie" oder "arbeitskreisen für Öffentlichkeitsarbeit" mit dem Ziel gegründet, unschlüssige Gewerkschafter, Bürger, Politiker und Journalisten zu bearbeiten. Der Atomfilz innerhalb der Parteien wird da auf die kritischen Kollegen angesetzt und wenn diese sich nicht gefügig zeigen, dann scheut der "Atomstaat" auch nicht vor offenen Drohungen: 15 000 Beschäftigte, so errechnete die KWU, ergäben (mit Familienangehörigen und Freunden) ein Stimmreservoir von rund 100 000 Stimmen für die Kernenergie. Da "könnte man" auch mal einen Wahlkreis kippen und wenn dies nicht ausreicht, könnte die geballte Kraft des Siemens-Konzern mit 180 000 Beschäftigten in der BRD eingesetzt werden...

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