VermŠchtnis einer Pazifistin: ãWas ich noch zu sagen hŠtteÒ

Antje Vollmer, 23.02.2023 | aktualisiert am 16.03.2023 - 15:07 Uhr


Ich stand auf dem Bahnhof meiner Heimatstadt und wartete auf den ICE. Plštzlich nŠherte sich auf dem Nebengleis ein riesiger Geleitzug, vollbeladen mit Panzern Ð mit Mardern, Geparden oder Leoparden. Ich kann das nicht unterscheiden, aber ich konnte geschockt das Bild lesen. Der Transport fuhr von West nach Ost.

Es war nicht schwer, sich das Gegenbild vorzustellen. Irgendwo im Osten des Kontinents rollten zur gleichen Zeit MilitŠrtransporte voller russischer Kampfpanzer von Ost nach West. Sie wŸrden sich nicht zu einer Panzerschlacht im Stile des Ersten Weltkrieges irgendwo in der Ukraine treffen.


Nein, sie wŸrden diesmal erneut den waffenstarrenden Abgrund zwischen zwei Machtblšcken markieren, an dem die Welt sich vielleicht zum letzten Mal in einer Konfrontation mit mšglicherweise apokalyptischem Ausgang gegenŸbersteht. Wir befanden uns also wieder im Kalten Krieg und in einer Spirale der gegenseitigen existenziellen Bedrohung Ð ohne Ausweg, ohne Perspektive. Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekŠmpft habe, war mir in diesem Moment prŠsent als eine einzige riesige Niederlage.


Bei Geschichte ist es immer wichtig, von welchem Anfang man sie erzŠhlt

Es ist Ÿblich geworden, zu Beginn jeder ErwŠhnung der ungeheuren Tragšdie um den Ukraine-Krieg wie eine Schwurformel von der ãZeitenwendeÒ, vom všlkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg Putins bei feststehender Alleinschuld der russischen Seite zu reden und demŸtig zu bekennen, wie sehr man sich geirrt habe im Vertrauen auf eine Phase der Entspannung und der Versšhnung mit Russland nach der gro§en Wende 1989/90.


Diese Schwurformel wird wie ein Ritual eingefordert, wie ein Kotau, um Ÿberhaupt weiter mitreden zu dŸrfen. Die Feststellung ist ja auch nicht falsch, sie verdeckt aber hŠufig genau die zentralen Fragen, die es eigentlich zu klŠren gŠbe.


Wo genau begann die Niederlage? Wo begann der Irrtum? Wann und wie entstand aus einer der glŸcklichsten Phasen in der Geschichte des eurasischen Kontinents, nach dem nahezu gewaltfreien Ende des Kalten Krieges, diese erneute tšdliche Eskalation von Krieg, Gewalt und Blockkonfrontation? Wer hatte Interesse daran, dass die damals mšgliche friedliche Koexistenz zwischen Ost und West nicht zustande kam, sondern einem erneuten weltweitem Antagonismus anheimfiel?


Und dann die Frage aller Fragen: Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen Tragšdien und machtpolitischen Irrwegen, nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision fŸr den bedrohten Planeten zu werden?


FŸr die Deutung historischer Ereignisse ist es immer entscheidend, mit welchen Aspekten man beginnt, eine Geschichte zu erzŠhlen.


Russlands gro§e Vorleistung des Gewaltverzichts

Ich widerspreche der heute Ÿblichen These, 1989 habe es eine etablierte europŠische Friedensordnung gegeben, die dann Schritt um Schritt einseitig von Seiten Russlands unter dem Diktat des KGB-Agenten Putin zerstšrt worden sei, bis es schlie§lich zum Ausbruch des Ukrainekrieges kam.


Das ist nicht richtig. Richtig ist: 1989 ist eine Ordnung zerbrochen, die man korrekter als ãPax atomicaÒ bezeichnet hat, ohne dass eine neue Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wŠre die Aufgabe der Stunde gewesen. Aber die visionŠre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus, um sich das haltbare Konzept einer stabilen europŠischen Friedensordnung auszudenken, das allen LŠndern der ehemaligen Sowjetunion einen Platz verlŠsslicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hŠtte.


Zwei GrŸnde sind dafŸr entscheidend. Beide haben mit alten europŠischen IrrtŸmern zu tun: Zum einen wurde der umfassende wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgŸltig die historische Niederlage des Ostens besiegelte. Dieser Hang, sich zum Sieger zu erklŠren, ist eine alte westliche Hybris und seit jeher Grund fŸr viele DemŸtigungen, die das ungleiche VerhŠltnis zum Osten prŠgen.


Die UnfŠhigkeit, nach so umfassenden UmbrŸchen andere gleichberechtigte Lšsungen zu suchen, hat in dieser fatalen †berheblichkeit ihre Hauptursache. Vor allem aber wurde so das ungeheure und einzigartige Verdienst der sowjetischen FŸhrung unter Michail Gorbatschow mit einer verblŸffenden Ignoranz als gerngesehenes Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die gro§e Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das Freiheitsbestreben der Všlker des Ostblocks galt als nahezu selbstverstŠndlich


Michail Gorbatschow hat viele seiner BŸrger enttŠuscht

Das aber war es gerade nicht. Bis heute ist erstaunlich, ja unfassbar, wie wenig Gewicht dem beigemessen wurde, dass die Auflšsung eines sowjetischen Weltimperiums nahezu gewaltfrei vonstatten ging. Die naive Beschreibung dieses einmaligen Vorgangs lautete dann etwa so: Wie ein Kartenhaus, hochverdient und unvermeidlich, sei da ein ganzes System in sich zusammengesackt.


Dass gerade diese Gewaltfreiheit das grš§te Wunder in einer Reihe wundersamer Ereignisse war, wurde kein eigenes Thema. Sie wurde vielmehr als SchwŠche gedeutet. Es gibt aber kaum Vorbilder in der Geschichte fŸr einen solchen Vorgang. Selbst die schwŠchsten Gewaltregime neigen gerade im Stadium ihres Untergangs gesetzmŠ§ig dazu, eine Orgie von Gewalt, Zerstšrung und Selbstzerstšrung anzurichten und alles um sie herum in ihren eigenen Untergang mitzurei§en Ð wie exemplarisch beim Untergang des NS-Reiches zu sehen war.


Die Sowjetunion des Jahres 1989 unter Gorbatschow, wiewohl politisch und wirtschaftlich geschwŠcht, verfŸgte Ÿber das grš§te Atompotential, sie hatte eigene Truppen auf dem gesamten Gebiet ihrer Herrschaft stationiert. Es wŠre ein Leichtes gewesen, das alles zu mobilisieren. Das wurde ja auch von vielen Vertretern des alten Regimes vehement gefordert.


Mit dem historischen Abstand wird noch viel deutlicher, welche staatsmŠnnische Leistung es war, lieber ãHelden des RŸckzugsÒ (Enzensberger) zu sein, als in einem letzten AufbŠumen als blutige RŠcher und SchlŠchter von der Geschichte abzutreten. Die Wahl, die Michail Gorbatschow fast allein getroffen hat, hat ihm nicht zuletzt die EnttŠuschung vieler seiner BŸrger eingebracht. Es hie§, er habe nachtrŠglich den Gro§en VaterlŠndischen Krieg verloren.


Die gro§en Reformer haben Mut bewiesen, sie werden heute gerne vergessen

Wie ein stummes Mahnmal gigantischer europŠischer Undankbarkeit steht dafŸr der erschreckend private Charakter der Trauerfeier um den wohl grš§ten Staatsmann unserer Zeit auf dem Moskauer Prominenten-Friedhof. Es wŠre ein Gebot der Stunde gewesen, dass die Granden Europas Michail Gorbatschow, der lŠngst im eigenen Land isoliert war, ihre Hochachtung und ihren Respekt erwiesen hŠtten, indem sie sich vor ihm verneigten. 

 

Zumindest aus Deutschland, das fast ihm allein das GlŸck der Wiedervereinigung verdankt, hŠtte ein BundesprŠsident Steinmeier an diesem Grab stehen mŸssen. Die Einsamkeit um diesen Toten war unertrŠglich. So nutzte ausgerechnet Viktor Orb‡n die Chance, diesen Boykott einer angemessenen WŸrdigung zu unterlaufen. Es bleibt ein beschŠmendes Zeichen, ein Menetekel historischer Ignoranz. Wenige Tage spŠter drŠngelten sich die ReprŠsentanten des europŠischen Zeitgeistes dann alle mediengerecht am Grab der englischen Queen und des deutschen Papstes Benedikt XVI.


Bis heute ist mir schwer verstŠndlich, warum es nicht zumindest eine Demonstration der Dankbarkeit bei den eigentlichen Profiteuren dieses Gewaltverzichtes, bei den Bewegungen der friedlichen BŸrgerproteste gegeben hat. Gerade sie hatten ja hautnah die €ngste erfahren, was alles hŠtte passieren kšnnen, wenn es 1989 in Ost-Berlin eine Šhnliche Reaktion wie bei den Studentenprotesten in Peking gegeben hŠtte.


Und tatsŠchlich ist ein Teil der heutigen ZurŸckhaltung im Osten Deutschlands gegenŸber der einseitigen Anprangerung Russlands wohl dieser anhaltenden Dankbarkeit zuzuschreiben. Mediale WortfŸhrer und Interpreten aber wurden andere Ð und sie wurden immer dreister. Immer kleiner wurde in ihren Interpretationen der Anteil am Verdienst der Gewaltfreiheit auf sowjetischer Seite, immer wirkmŠchtiger wurde die Legende von der eigenen gro§artigen Widerstandsleistung.


Alle kundigen Zeitzeugen wissen genau, dass der Widerstand und der Heldenmut von Joachim Gauck, Marianne Birthler, Katrin Gšring-Eckardt durchaus ma§voll war und den Grad ŸberlebenstŸchtiger Anpassung nicht wesentlich Ÿberschritt. Manche Selbstbeschreibungen lesen sich allerdings heute wie Hochstapelei. Sie verschweigen oder verkennen, was andere KrŠfte zum gro§en Wandel beitrugen und dass mancher Reformer im System keineswegs weniger Einsatz und Mut gewagt hatte.


Billige antirussische Ressentiments

Das mag menschlich, allzu menschlich sein und also nicht weiter erwŠhnenswert. Fatal allerdings ist, dass dieser Teil der BŸrgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments zŠhlt. Dies knŸpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die vom berechtigten Antistalinismus Ÿber den verstŠndlichen Antikommunismus bis hin zur irrationalen Slawenphobie viele Varianten von westlichen Feindbildern bis heute prŠgt.


Die wichtigsten Fragen, die heute zwischen Ost und West verhandelt werden mŸssten, lauten: Was bedeutet es eigentlich, eine europŠische Nation zu sein? Was unterscheidet uns von anderen? Welche FŠhigkeiten muss eine Nation erwerben, um dazuzugehšren? Was sind die Lehren unserer Geschichte? Welche Ideale prŠgen uns? Welche IrrtŸmer und Verbrechen? Diese Fragen werden in aller Deutlichkeit wachgerufen am Beispiel der Ukraine und ihres Abwehrkampfes gegen die russische Aggression.


Europa sollte nicht immer auf der Suche nach Schurkenstaaten sein

In unseren Medien verkšrpert die Ukraine das Ideal und Vorbild einer freiheitsliebenden westlichen Demokratie heroischen Zuschnitts. Die Ukraine, so hei§t es, kŠmpfe nicht nur fŸr ihre eigene Nation, sondern zugleich fŸr die universale historische Mission des Westens. Wer sich machtpolitisch behauptet, wer seine Existenz mit blutigen Opfern und Waffen verteidigt, gilt als Bollwerk fŸr die europŠischen Ideale der Freiheit, koste es, was es wolle. Wer aber den Weg des Konsenses, der Kooperation, der VerstŠndigung und der Versšhnung sucht, gilt als schwach und deswegen als irrelevant, ja als verachtenswert. Von daher sind Gorbatschow und Selenskyj die eigentlichen Antitypen in der Frage, was es heute hei§t, EuropŠer zu sein und die europŠischen Tugenden zu verkšrpern.


Neben diesem Hang zum Heroischen und zur Selbsterhšhung liegt hier die Wurzel, die ich fŸr den Grundirrtum einer europŠischen IdentitŠt halte: das scheinbar unausrottbare BedŸrfnis nach nationalem Chauvinismus. Jahrhundertelang haben nationale Exzesse die Geschichte unseres Kontinents geprŠgt. Keine Nation war frei davon: nicht die Franzosen, schon gar nicht die Briten, nicht die Spanier, nicht die Polen, nicht die Ukrainer, nicht die Balten, nicht die Schweden, nicht die Russen, noch nicht einmal die Tschechen Ð und schon gar nicht die Deutschen.


Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen imperialen MŠchte gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist Selbstbetrug und einer der folgenschwersten europŠischen IrrtŸmer. Er verfŸhrt auch heute noch viele junge Demokratien dazu, sich nur als Opfer fremder MŠchte zu sehen und die eigene Gewaltgeschichte, die eigenen Gewaltphantasien fŸr berechtigt zu halten. Was Europa immer wieder zu lernen hatte und historisch meist verfehlte, ist die Kunst der Selbstbegrenzung, der friedlichen Nachbarschaft, der Fairness, der Wahrung gegenseitiger Interessen und des Respektes voreinander. Was Europa endlich verlernen muss, ist das stŠndige Verteilen von KetzerhŸten, das Ausmachen von Achsen des Bšsen und von immer neuen Schurkenstaaten.


Die Vision von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher

Ach Europa! Jedes Mal, wenn wieder eine der gro§en Krisen und Kriege des Kontinents Ÿberstanden war Ð nach dem 30-jŠhrigen Krieg, nach dem Feldzug Napoleons gegen Russland, nach zwei Weltkriegen, nach dem Kalten Krieg Ð, konnte man hoffen, der machtpolitische Irrweg sei nun durch bittere Erfahrung widerlegt und gebe einem ŸberlebenstŸchtigeren WeltverstŠndnis endlich Raum. Und jedes Mal fielen wie durch einen Fluch die Všlker Europas wieder der Versuchung anheim, den Weg der Dominanz und der Konfrontation zu gehen.


Umso wertvoller ist aber das gro§e Gegenbeispiel: Gorbatschows Hoffnung, dass auch fŸr alle ehemaligen Staaten der Sowjetunion eine neue Sicherheitsordnung mšglich sei, die den unterschiedlichen SicherheitsbedŸrfnissen gerecht werden wŸrde, war in der Charta von Paris durchaus angedacht als Raum gemeinsamer wirtschaftlicher und politischer Kooperation zwischen dem alten Westeuropa und den neuen šstlichen Staaten. Das war damals auch die Vision von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Aber es gab keinen Plan, kein Konzept, die Vision war einfach zu undeutlich.


Der Krieg verschlingt sinnlos die Milliarden

Wie schnell sich wieder das GefŸhl des leichten Triumphes einstellte, lŠsst sich an einem traurigen Beispiel gut ablesen: am Umgang mit Jugoslawien. Jugoslawien gehšrte zu den blockfreien Staaten, es hatte sich rechtzeitig vom Stalinismus gelšst und die jahrhundertealten nationalen RivalitŠten aus der Zeit der Donau-Monarchie einigerma§en befriedet. Es wŠre nichts leichter gewesen, als diesem Jugoslawien als Ganzem 1989 eine …ffnung nach Europa und zur EU anzubieten.


Es hŠtte Zeit gebraucht, aber es wŠre mšglich gewesen. Man hŠtte nur darauf verzichten mŸssen, dem nationalen DrŠngen der Slowenen und Kroaten zu schnell nachzugeben und das neue Feindbild der aggressiven Serben zu pflegen. Solche Weisheit allerdings fehlte všllig im †berbietungswettstreit um die Anerkennung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan. Der bosnische BŸrgerkrieg, Srebrenica, die Zerstšrung Sarajewos, Hunderttausende Tote und traumatisierte Menschen, der všlkerrechtswidrige Angriffskrieg der Nato gegen Belgrad, die všlkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovo als selbstŠndiger Staat, das vielfŠltige AufbŠumen von neuen nationalen Chauvinismen wŠren vermeidbar gewesen.


Was bedeutet das alles fŸr die unmittelbare Gegenwart und fŸr die deutsche Politik im Jahre 2023?

Die Koordinaten haben sich entscheidend verschoben. Bis zum Ende der Regierung Schršder konnte man davon ausgehen, dass gerade Deutschland aus der Zeit der Entspannungspolitik einen privilegierten Zugang, zumindest einen gewissen Spielraum zum Konfliktausgleich zwischen den gro§en geopolitischen Spannungsherden innehatte. Diese Zeit ist endgŸltig vorbei.


UngefŠhr im Jahre 2008 begann Putin, dem Status quo zu misstrauen und seinen Machtbereich gegen den Westen auszurichten. Deutschland begann, sich als europŠischer RiegenfŸhrer im neuen Konzept der Nato zu definieren. Im Rahmen der Reaktionen auf den Ukrainekrieg rŸckte es endgŸltig ins Zentrum der antirussischen Gegenstrategien. Das begrŸ§enswerte, aber medial vielgescholtene Zšgern des Kanzlers Olaf Scholz war zu wenig von einer haltbaren politischen Alternative unterfŸttert und geriet so ins Rutschen.


Wirtschaftlich und politisch zahlen wir dafŸr einen hohen Preis. Der deutsche Wirtschaftsminister bemŸht sich, die alten AbhŠngigkeiten von Russland und China durch neue AbhŠngigkeiten zu Staaten zu ersetzen, die keineswegs als Musterdemokratien durchgehen kšnnen. Die Au§enministerin ist die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie.


Ihre BegrŸndungen verblŸffen durch argumentative Schlichtheit. Dabei wachsen die RŸstungskosten und der Einfluss der RŸstungs- und Energiekonzerne ins Unermessliche. Der Krieg verschlingt sinnlos die Milliarden, die fŸr die Rettung des Planeten und gegen die Armut des globalen SŸdens dringend gebraucht wŸrden. Das aufsteigende China aber wird propagandistisch als neuer geopolitischer Gegner ausgemacht und in der Taiwan-Frage stŠndig provoziert. Das sind alles keine guten Auspizien.


Der Frieden und das †berleben des ganzen Planeten

Und dennoch: Wenn mich nicht alles tŠuscht, steht Europa kurz vor der Phase einer gro§en ErnŸchterung, die das eigene Selbstbild tief erschŸttern wird. FŸr mich aber ist das ein Grund zur Hoffnung. Der so selbstgewisse Westen muss einfach lernen, dass die Ÿbrige Welt unser Selbstbild nicht teilt und uns nicht beistehen wird. Die eilig ausgesandten Sendboten einer neuen antichinesischen Allianz im anstehenden Kreuzzug gegen das Reich der Mitte scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein.


Wie konnten wir nur annehmen, dass das gro§e China und die Hochkulturen Asiens die Zeit der willkŸrlichen Freihandels- und Opiumkriege je vergessen wŸrden? Wie sollte der leidgeprŸfte afrikanische Kontinent die zwšlf Millionen Sklaven und die Ausbeutung all seiner BodenschŠtze je verzeihen? Warum sollten die alten Kulturen Lateinamerikas den spanischen und portugiesische Konquistadoren ihre WillkŸrherrschaft vergeben? Warum sollten die indigenen Všlker weltweit das Unrecht illegaler Siedlungen und Landraubs einfach beiseiteschieben in ihrem historischen GedŠchtnis?


Meine Hoffnung besteht darin, dass sich aus all dem eine neue Blockfreienbewegung ergeben wird, die nach der Zeit der vielen VšlkerrechtsbrŸche wieder am alleinigen Recht der UNO arbeiten wird, dem Frieden und dem †berleben des ganzen Planeten zu dienen.


Die GrŸnen waren mal Pazifisten

Meine ganz persšnliche Niederlage wird mich die letzten Tage begleiten. Gerade die GrŸnen, meine Partei, hatte einmal alle SchlŸssel in der Hand zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechteren Welt. Sie war durch glŸckliche UmstŠnde dieser Botschaft viel nŠher als alle anderen Parteien.


Wir hatten einen echten Schatz zu hŸten: Wir waren nicht eingebunden in die machtpolitische Blocklogik des Kalten Krieges. Wir waren per se Dissidenten. Wir waren gleicherma§en gegen die AufrŸstung in Ost wie West, wir sahen die GefŠhrdung des Planeten durch ungebremstes Wirtschaftswachstum und Konsumismus. Wer die Welt retten wollte, musste ein festes BŸndnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben, das war eine klare historische Notwendigkeit, die wir lebten. Wir hatten dieses ZukunftsbŸndnis greifbar in den HŠnden.


Was hat die heutigen GrŸnen verfŸhrt, all das aufzugeben fŸr das blo§e Ziel, mitzuspielen beim gro§en geopolitischen Machtpoker, und dabei ihre wertvollsten Wurzeln als lautstarke Antipazifisten verŠchtlich zu machen?


Gegen Hass und den Krieg

Ich erinnere mich an meine gro§en Vorbilder: Die hŠrtesten BewŠhrungsproben hatten die gro§en ReprŠsentanten gewaltfreier Strategien immer in den eigenen Reihen zu bestehen. Gandhi hat mit zwei Hungerstreiks versucht, den RŸckfall der Hindus und Moslems in die nationalen Chauvinismen zu stoppen, Nelson Mandela hatte Šu§erste MŸhe, die Gewaltbereitschaft seiner jungen Mitstreiter zu brechen, Martin Luther King musste sich von den Black Panthers als zahnloser Onkel Tom verhšhnen lassen. Ihnen wurde nichts geschenkt. Und das gilt auch heute fŸr uns letzte Pazifisten.


Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten gro§er Krisen und existentieller €ngste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg grŸndlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.


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Die Ex-VizeprŠsidentin des Bundestags Antje Vollmer ist verstorben. Wir veršffentlichen ihren letzten Essay, den sie als politisches VermŠchtnis verstanden wissen wollte.


ANTJE VOLLMER

Antje Vollmer ist heute, am 16. MŠrz 2023, verstorben. Vollmer war VizeprŠsidentin des Deutschen Bundestages und hat als Erstunterzeichnerin das Friedensmanifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterzeichnet. Vollmer galt als Pazifistin und war Gegnerin des Kosovo- , Irak- und Afghanistan-Krieges. Als Autorin hat sie sich intensiv mit den Akteuren des 20. Juli 1944 und dem antifaschistischen Widerstand beschŠftigt. Vollmer hat einen Text verfasst, den sie als politisches VermŠchtnis in der Berliner Zeitung veršffentlichen wollte. Vollmer wurde 79 Jahre alt. Wir veršffentlichen den Gastbeitrag nochmals in voller LŠnge. Die Redaktion.


ãÉund wehret Euch tŠglich. Ein grŸnes TagebuchÒ (1984) Antje Vollmer wurde am 31. Mai 1943 in LŸbbecke, Westfalen, geboren. Sie ist ehemalige VizeprŠsidentin des Deutschen Bundestages und GrŸnen-Politikerin. Sie erhŠlt unter anderem die Carl-von-Ossietzky-Medaille (1989), den Hannah-Arendt-Preis (1998) und den 2002 den Masaryk-Orden der tschechischen Republik fŸr Verdienste um die deutsch- tschechische Aussšhnung (verliehen durch StaatsprŠsident Vaclav Havel). Sie schrieb zahlreiche BŸcher, unter anderem: ãÉund wehret Euch tŠglich. Ein grŸnes TagebuchÒ (1984), ãHei§er Frieden. †ber Gewalt, Macht und das Geheimnis der ZivilisationÒ (1995), ãDoppelleben. Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von RibbentropÒ (2010), "Stauffenbergs GefŠhrten" mit Lars Broder-Keil (2013).