Ex-UN-Diplomat: "Die Ukrainer sind das betrogene Volk Europas"

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10. Mai 2024 Harald Neuber


Michael von der Schulenburg tritt fŸr GesprŠche mit Putin ein. Kiew und Moskau seien nach Eskalation Friedenspflicht nachgekommen. Andere Akteure sieht er kritischer.

Der ehemalige deutsche UN-Diplomat Michael von der Schulenburg hat in einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung Weltwoche seine Sicht auf den Ukraine-Konflikt dargelegt. Er sieht die Ukraine als das "betrogene Volk Europas". Es sei auf dem Schlachtfeld fŸr geopolitische Interessen geworden ist.

Nach mehr als zwei Jahren Abwehrkampf gegen die russische Invasion hat das Land laut Schulenburg einen hohen Blutzoll gezahlt. Heute sei die Ukraine politisch tief gespalten, leide unter Korruption und Bevšlkerungsschwund.


Russlands Ziele in der Ukraine

Auf die Frage, was der russische PrŠsident Wladimir Putin in der Ukraine will, antwortete Schulenburg, Putin wolle in erster Linie keine PrŠsenz der Nato und keine auslŠndischen MilitŠrbasen in der Ukraine. Seiner Meinung nach strebe er einen garantierten Zugang Russlands zum Schwarzen Meer an und die Sicherheit der prorussischen Bevšlkerung in der Ukraine. Dazu Schulenburg:

Wir kšnnen davon ausgehen, dass das auch die Ziele einer Ÿberaus grossen Mehrheit der russischen Eliten und der Bevšlkerung sind. Auch hat sich an diesen Zielen nichts geŠndert. Bereits 1997 warnte ein PrŠsident Jelzin den US-PrŠsidenten Clinton davor, die Ukraine in die Nato bringen zu wollen, er sprach von einer dicken roten Linie fŸr Russland.

Verletzung der UN-Charta

Schulenburg stimmte der Bezeichnung des russischen Einmarschs in die Ukraine als "illegalen Angriffskrieg" zu, da er eine Verletzung der UN-Charta darstelle. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine war nach der UN-Charta "illegal", da er eine Verletzung des Verbots der Anwendung militŠrischer Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele darstellt.


Diese EinschŠtzung teilt der Všlkerrechtsexperte Schulenburg. Allerdings, so Schulenburg, spiegelt dieser Begriff nur eine Halbwahrheit wider, da er den komplexen Kontext des Konflikts nicht vollstŠndig erfasst.

Ein zentraler Aspekt der UN-Charta sei die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, ihre Konflikte durch Verhandlungen zu lšsen, um Kriege zu verhindern. Schulenburg weist darauf hin, dass der Westen diese Verpflichtung nicht erfŸllt hat.

Westen habe Aufforderungen Russlands ignoriert

Trotz wiederholter Aufforderungen Russlands, Ÿber seine Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit einer mšglichen NATO-Erweiterung in die Ukraine zu verhandeln, hat der Westen diese Anfragen Ÿber viele Jahre hinweg ignoriert. Dabei gab es auch unter einflussreichen amerikanischen Politikern Warnungen vor einer solchen NATO-Erweiterung.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der UN-Charta, auf den Schulenburg hinweist, ist die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, im Falle eines Kriegsausbruchs sofort alles zu unternehmen, um durch Verhandlungen eine friedliche Beendigung zu erreichen.

Russland und Ukraine seien Friedenspflicht nachgekommen

In diesem Zusammenhang betont Schulenburg, dass sowohl die Ukraine als auch Russland dieser Verpflichtung nachgekommen sind. Nur wenige Tage nach der russischen Invasion hŠtten beide Seiten begonnen, eine Verhandlungslšsung zu suchen, die sie bereits nach einem Monat gefunden haben.

Diese AusfŸhrungen verdeutlichen, dass die Bezeichnung des russischen Einmarschs in die Ukraine als "illegaler Angriffskrieg" zwar zutreffend ist, aber dennoch nur einen Teil der Wahrheit abbildet. Sie lasse wichtige Aspekte des Konflikts und der Rolle der verschiedenen Akteure unberŸcksichtigt.

Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland

Der ehemalige UN-Diplomat lobte das Istanbul KommuniquŽ vom 29./30. MŠrz 2022, das von beiden Seiten angenommen wurde. Er nannte es eine "Glanzleistung ukrainischer Diplomatie". Allerdings kritisierte er den Westen dafŸr, den Vertrag nicht unterstŸtzt zu haben.

Die Forderung des Westens, dass Russland sich zuerst aus der gesamten Ukraine zurŸckziehen mŸsse, bevor Verhandlungen unterstŸtzt wŸrden, sei gleichbedeutend mit der Forderung nach Russlands militŠrischer Niederlage.

Die Rolle der EU

Schulenburg kritisierte die EU fŸr ihre fehlende eigenstŠndige Position und ihre proamerikanische und kriegsbefŸrwortende Politik. Er forderte die EU auf, eine konsequente Friedenspolitik zu verfolgen und ein gesamteuropŠisches Friedens- und Sicherheitssystem aufzubauen, dem auch die Ukraine und Russland angehšren.

Die Rolle der USA

Der ehemalige UN-Diplomat kritisierte die USA dafŸr, dass sie alle Warnungen, dass Russland auf einen Beitritt der Ukraine auch militŠrisch reagieren wŸrde, ignoriert hŠtten. Er warf den Washington vor, die Russen unterschŠtzt zu haben und nicht verstanden zu haben, wie tief die Russen die NATO direkt an ihren Grenzen als existenzielle Gefahr ansŠhen:

Und Europa hat dazu geschwiegen. Wahrscheinlich hatten die USA damals die Russen unterschŠtzt und gedacht: das trauen sie sich nicht. Der Westen hat einfach nicht verstanden, wie tief die Russen Ð und nicht nur Putin Ð die Nato direkt an ihren Grenzen als eine existentielle Gefahr fŸr Russland ansahen und heute noch ansehen. Wenn die USA mit Nato-UnterstŸtzung weiter eskalieren und wie angekŸndigt nun Waffen schicken, mit denen Russland an ihren strategisch wichtigen Stellen getroffen werden kann, wŸrde Russland, wie angedeutet, nicht vor extremen Reaktionen zurŸckschrecken. Die Gefahr, dass sich dieser Konflikt zu einem nuklearen Krieg ausweitet, ist somit heute hšher als je zuvor. Die Nato sollte Russlands Entschlossenheit nicht wieder unterschŠtzen.


Verhandlungen mit Putin

Schulenburg betonte, dass man mit Putin verhandeln mŸsse und kšnne. Er kritisierte die Verteufelung von Putin und betonte, dass Verhandlungen immer zwischen Feinden stattfŠnden. Zugleich betonte er die Wichtigkeit des Respekts in Verhandlungen und kritisierte die Verwendung von Schimpfworten wie "Putinversteher" und "Russlandversteher".

VerŠnderungen im Westen

Schulenburg argumentierte, dass sich im Westen etwas verŠndert habe, was dazu gefŸhrt habe, dass die Fronten sich so verhŠrtet hŠtten, dass es nun zum Krieg gekommen sei. Er kritisierte den alleinigen Machtanspruch des Westens und die Ausweitung der NATO an die russische Grenze.

Der alleinige Machtanspruch des Westens und der damit verbundenen Ausweitung der Nato an die russische Grenze war in der Pariser Charta nicht vorgesehen, und trotzdem haben wir es gemacht. (É) Die USA, die Nato oder verschiedene Kombinationen westlicher StreitkrŠfte haben doch immer wieder das Gewaltverbot der UN-Charta verletzt. (É) Einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses zufolge haben die USA zwischen 1992 und 2022 251-mal in anderen LŠndern militŠrisch interveniert.


Kriegerische Tšne deutscher Politiker

Schulenburg Šu§erte UnverstŠndnis Ÿber die kriegerischen Tšne deutscher Politiker und kritisierte insbesondere die Haltung hoher deutscher Diplomaten.

Er betonte die Notwendigkeit von Diplomaten mit einem kŸhlen Kopf, die den Gegner verstehen kšnnen und nach machbaren Kompromissen suchen, um das Tšten in Kriegen zu beenden.

Zum geplanten Friedensgipfel in der Schweiz, der ohne Russland stattfinden soll, Šu§erte Schulenburg Skepsis. Er bezeichnete ihn als Versuch, eine westliche Agenda durchzusetzen. Es gehe offenbar darum, das von Selenskyj vorgeschlagene Zehn-Punkte Programm Ð nicht zu verwechseln mit dem Istanbuler KommuniquŽ Ð durchzusetzen. Dies sei ein unrealistischer Ansatz, der auch kaum eine internationale Zustimmung au§erhalb der Nato-Staaten finden werde.

Michael von der Schulenburg ist ein deutscher Diplomat und Autor, der in verschiedenen Funktionen fŸr die Vereinten Nationen und die Organisation fŸr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gearbeitet hat. Von der Schulenburg hat unter anderem in Afghanistan, Haiti, Pakistan und Sierra Leone gearbeitet und sich auf politische Angelegenheiten, Friedensmissionen und Entwicklung konzentriert. Er ist Kandidat fŸr das BŸndnis der Politikerin Sahra Wagenknecht bei der Europawahl.